KAPITEL 12
Der Verrat
Am nächsten Morgen, als alle gemeinsam beim Frühstück saßen, hatte Falkann dunkle Ringe unter den Augen und konnte nichts essen. Außerdem wirkte er nervös und zuckte bei jedem unerwarteten Geräusch zusammen.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte Saliah, die neben ihm saß. »Geht’s dir nicht gut?«
Falkann schüttelte den Kopf. »Ich habe schlecht geschlafen.«
Kurz darauf ging die Tür auf, und König Greedeon begleitet von fünf bewaffneten Soldaten trat ein. Die Soldaten ergriffen den überraschten Ariac und schleiften ihn hinaus. Die anderen sprangen auf.
»Was soll das?«, rief Rijana und erhaschte einen letzten Blick auf Ariac, der sich gegen die Soldaten zu wehren versuchte.
»Er hat Berater Flanworn ermordet«, sagte der König mit wütendem Blick.
Nun blickten sich alle Freunde fassungslos an. Falkann gelang es nur mit einiger Mühe, nicht vollkommen schuldbewusst zu wirken.
»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte Rudrinn. »Habt Ihr Beweise?«
Der König fuhr wütend zu ihm herum. »Er hat ganz öffentlich gedroht, ihn zu ermorden, und heute hat man Berater Flanworn tot in einem der unbenutzten Zimmer gefunden.«
»Hat er dich noch einmal belästigt?«, fragte Rudrinn zu Rijana gewandt.
Die war ziemlich blass, schüttelte jedoch den Kopf.
»Das ist doch noch kein Beweis«, erwiderte Tovion ernst. »Es kann auch jemand anderes gewesen sein.«
Der König hob missbilligend die Augenbrauen. »Bis der letzte Beweis erbracht ist, wird er eingesperrt.«
Damit rauschte der König aus dem Raum. Rijana rannte ebenfalls hinaus, bevor sie jemand aufhalten konnte. Sie wollte Brogan suchen. Vielleicht konnte er helfen.
Die anderen setzten sich wieder an den Tisch, allerdings dachte nun niemand mehr an Frühstück. Sie diskutierten heftig darüber, ob Ariac tatsächlich schuldig sein konnte.
»Ich glaube nicht, dass er es war«, sagte Rudrinn, der Ariac mittlerweile eigentlich ganz gerne mochte.
»Er ist einer von Scurrs Leuten«, gab Broderick zu bedenken.
»Aber warum hat er dann ausgerechnet Flanworn getötet? Warum nicht einen von uns oder von mir aus König Greedeon?«, wandte Tovion ein.
»Er hat sich wohl nicht immer unter Kontrolle«, sagte Saliah und dachte dabei an den Kampf mit Falkann.
Der machte ein angespanntes Gesicht und meinte schließlich: »Einmal Scurrs Scherge, immer Scurrs Scherge. Ich habe ihn nie gemocht.«
»Das hat aber wohl weniger mit König Scurr zu tun«, murmelte Broderick vor sich hin und betrachtete seinen besten Freund durchdringend. Falkann verhielt sich in seinen Augen sehr eigenartig.
 
Rijana rannte durch das ganze Schloss, aber es dauerte einige Zeit, bis sie Brogan fand, der gerade im Hof vor dem Schloss stand und sich die erste Frühlingssonne ins Gesicht scheinen ließ.
Atemlos packte sie ihn an seinem Umhang.
»Na, na, was ist denn los?«, fragte er lächelnd.
Rijana blickte ihn mit erschrocken aufgerissenen Augen an. »Ariac ist verhaftet worden, er soll Berater Flanworn umgebracht haben.«
Brogan zog die Augenbrauen zusammen und drückte Rijana sanft auf einen Stein.
»Setz dich, und erzähle mir alles«, verlangte der Zauberer.
Rijana berichtete ihm nun von Flanworn, wie der ihr schon seit so langer Zeit nachstellte, von der Nacht, in der er sie belästigt hatte, und wie Ariac ihr geholfen hatte.
»Aber Flanworn hat mir doch gar nichts mehr getan. Ariac hätte ihn doch nicht einfach so ermordet.«
Brogan nickte bedächtig und legte seinen Arm um das aufgebrachte Mädchen.
»Bist du dir da wirklich sicher?«
Sie wollte empört ja sagen, doch dann hob sie die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber er ist kein schlechter Mensch«, sagte sie unglücklich.
Brogan deutete ein Lächeln an. »Das denke ich eigentlich auch. Aber er wurde in Naravaack ausgebildet, das dürfen wir niemals vergessen. Vielleicht hat Flanworn ihn provoziert, vielleicht hat er dich beleidigt, und Ariac hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.«
Rijana machte ein furchtbar unglückliches Gesicht. »Ich muss mit ihm sprechen, damit ich ihn fragen kann.«
Brogan nickte zustimmend. »Ich werde mit König Greedeon reden. Wenn Ariac einem Menschen die Wahrheit sagt, dann bist du es, Rijana.«
 
Es war später Abend, als Rijana mit Brogan durch die Kerker lief. Es hatte den Zauberer einiges an Überredungskünsten gekostet, dass Greedeon das Mädchen hinunter zu den Kerkern ließ. An der Treppe blieb Brogan stehen.
»Geh allein, das wird besser sein«, sagte er und lächelte ihr aufmunternd zu.
Rijana nickte und ging mit unsicheren Schritten den düsteren Gang entlang zu der Zelle, wo Ariac in einer Ecke saß. Als er sie sah, sprang er sofort auf und kam zu den Gittern.
»Ich war es nicht, ich habe ihn nicht umgebracht«, rief er sogleich.
Rijana nickte und nahm seine Hand.
»Aber wer war es dann?«
Ariac hob die Schultern. »Das weiß ich nicht. Ich meine, Flanworn hat es sicherlich verdient, aber…« Er blickte sie ernst an. »Ich hätte nicht gezögert ihn zu töten, wenn er dich angefasst hätte, aber einfach so, das würde ich nicht tun.«
Sie nickte, und Tränen traten in ihre Augen. »Aber wie sollen wir das denn beweisen? Was kann ich tun?«
Er seufzte und nahm ihre kleine Hand fest in seine. »Vertraust du mir?«
Sie nickte nachdrücklich.
»Dann habe ich schon viel gewonnen«, sagte er lächelnd.
»Brogan kann dir vielleicht helfen«, meinte Rijana und drückte aufmunternd seine Hand.
Ariac nickte, und Rijana wurde schließlich von den Wachen zurückgeholt. Sie erzählte Brogan, was Ariac gesagt hatte. Der Zauberer blieb ein wenig misstrauisch.
»Rijana, ich weiß, dass du in ihn verliebt bist.«
Sie errötete ein wenig, doch er hob ihren Kopf und blickte sie eindringlich an.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte der Zauberer ernst, »aber ich werde mich bemühen, die Wahrheit herauszufinden.«
Rijana seufzte unglücklich und ging schließlich zu den anderen zurück, denen sie ebenfalls erzählte, was Ariac ihr gesagt hatte. Daraufhin geriet sie mit Falkann in Streit, der wütend darüber war, dass sie Ariac so vehement verteidigte.
Noch an diesem Abend kam König Greedeon zu den Freunden. Er hatte ein ernstes Gesicht und berichtete, dass in Ariacs Zimmer ein blutgetränktes Hemd gefunden worden war. Daraufhin waren natürlich alle schockiert. Nun hatte kaum einer noch Zweifel daran, dass Ariac wirklich der Mörder war. Doch Rijana rannte fort und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie wusste nicht, was sie glauben sollte.
 
In den folgenden Tagen versuchte Rijana immer wieder, noch einmal mit Ariac zu reden, aber die Wachen ließen sie nicht zu ihm. Brogan ging noch einmal in den Kerker.
Ariac war verschlossen und wollte nicht reden. Ganz am Schluss sagte er nur noch: »Ihr glaubt mir doch ohnehin alle nicht. Ich bin doch nur einer von Scurrs verdammten Spitzeln.«
Brogan, der schon gehen wollte, kam noch einmal zurück und sah Ariac tief in die Augen. Auch wenn alles gegen den Jungen sprach, der Zauberer konnte keine Lüge in seinen Augen erkennen.
»Wer war es dann?«
Ariac hob die Schultern. Darüber zerbrach er sich schon lange den Kopf.
»Flanworn war in Scurrs Schloss«, sagte Ariac plötzlich. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber bitte«, er sah den Zauberer verzweifelt an, »pass auf Rijana auf.«
Der Zauberer nickte ernst und ging nachdenklich durch das Schloss zurück in sein Gemach.Vieles passte nicht zusammen. Warum hatte Ariac, falls er denn wirklich der Mörder war, das blutige Hemd nicht verschwinden lassen? Warum hatte er nicht, falls er wirklich Scurrs Spitzel war, gleich die Gunst der Stunde genutzt und noch weitere Menschen getötet, wenn er schon Flanworn umgebracht hatte? Das alles beschäftigte den Zauberer während der nächsten Tage.
Rijana hingegen war furchtbar wütend auf ihre Freunde. Keiner glaubte ihr, dass Ariac unschuldig war. Merkwürdigerweise war es nicht einmal Falkann, der gegen Ariac hetzte. Er versuchte nur immer wieder, Rijana zu trösten, doch die wollte keinen Trost, sie wollte die Wahrheit.
Traurig saß sie unter einer großen Eiche, während der Regen neben ihr auf den Boden prasselte. Unter den dicken Blättern merkte sie davon nichts. Falkann kam auf sie zugelaufen und setzte sich neben sie. Rijana fühlte sich unwohl, als er den Arm um sie legte.
»Jetzt sei doch bitte nicht so traurig. Du hast dich einfach in ihm getäuscht.« Er blickte ihr ernst ins Gesicht. »Oder bedeuten wir anderen dir überhaupt nichts mehr?«
Sie runzelte die Stirn. »Natürlich bedeutet ihr mir etwas«, dann sah sie Falkann an, »aber er war es nicht. Ariac lügt mich nicht an, da bin ich mir sicher.«
Falkann durchschoss das schlechte Gewissen wie ein Pfeil. Aber er redete sich ein, das Richtige zu tun. Ariac war nicht gut für Rijana, und höchstwahrscheinlich spielte er wirklich ein falsches Spiel.
Falkann stand auf. »Naravaack übersteht niemand, ohne Schaden davonzutragen. Er ist einer von Scurrs Männern, du musst ihn vergessen«, verlangte er.
Rijanas Augen füllten sich mit Tränen. Sie rannte an Falkann vorbei zurück ins Schloss und warf sich auf ihr Bett. Sie wusste einfach nicht, was sie tun sollte.
 
Hawionn hatte Nachricht von König Greedeon erhalten, der seinen Rat erbat. Nach einigen Tagen traf der Zauberer mit einer Eskorte aus fünfzig Kriegern aus Camasann ein. Sogleich ging er mit dem König in sein Arbeitszimmer. Den ganzen Nachmittag beratschlagten sie, was nun mit Ariac geschehen sollte.
»Ich habe ihm nie getraut«, sagte der König mit gerunzelter Stirn. »Er wollte sich nie unterordnen.«
Hawionn nickte ernst. Er war ein wenig unsicher. Im Moment hatten sie ganz offensichtlich alle sieben Kinder Thondras, was ein Vorteil war. Ariac hingegen war eine Gefahr, das stand ebenfalls fest.
»Wollt Ihr ihn hinrichten lassen?«, fragte Hawionn ohne Umschweife.Vielleicht war es besser, nur sechs der Sieben zu haben, diese aber alle unter Kontrolle.
»Ich habe auch schon daran gedacht«, gab Greedeon zu. Dann zeichnete sich jedoch ein verschlagenes Lächeln auf seinem Gesicht ab. »Aber vielleicht habe ich eine bessere Verwendung für ihn.«
 
Brogan hatte erst ziemlich spät erfahren, dass Hawionn eingetroffen war. Nun eilte er zum Arbeitszimmer des Königs. Er wollte gerade die Tür öffnen, als ihn etwas innehalten ließ. So blieb er stehen und lauschte durch den schmalen Spalt, den er gerade eben geöffnet hatte.
»… vielleicht wird Scurr darauf eingehen, wenn wir ihm dafür den Jungen ausliefern«, sagte König Greedeon gerade.
Von Hawionn war Zustimmung zu hören. Brogan stand wie erstarrt im Gang. Er wusste nicht, was die beiden ausgeheckt hatten, doch das, was er gehört hatte, konnte er kaum glauben.
Brogan klopfte schließlich an der großen schweren Tür und trat auf König Greedeons Befehl hin ein. Doch die beiden Männer redeten nun nur noch über belanglose Dinge. In Bezug auf Ariac sagten sie Brogan, dass sie noch eine Weile darüber nachdenken müssten.
Einige Tage lang grübelte Brogan darüber, was er gehört hatte. Er versuchte sogar, Hawionn von Ariacs Unschuld zu überzeugen, doch der wollte nicht hören. Das Wort »Scurr« fiel in Brogans Anwesenheit überhaupt nicht, was ihn ziemlich nervös machte.
Eines Nachts hatte Brogan eine Entscheidung gefällt. Der Mond stand hoch am Himmel, als er durch die Gänge des Schlosses schlich und schließlich an Rijanas Tür klopfte.
»Ich bin es, Brogan«, flüsterte er, und schließlich hörte er den Riegel, der sich nach hinten schob. Rijana öffnete mit verschlafenem Blick.
Der Zauberer guckte sich nervös um und schob das Mädchen nach innen.
»Ich muss mit dir reden.«
Sie nickte und setzte sich auf einen der Stühle. Brogan setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und blickte ihr eindringlich in die Augen. »Bist du dir wirklich sicher, dass Ariac unschuldig ist?«, fragte er.
Rijana nickte bestimmt und sah den Zauberer verwirrt an. Was wollte er von ihr?
»Ich habe durch Zufall etwas mitgehört, aber du darfst niemandem davon erzählen.«
Rijana nickte erneut und beugte sich gespannt nach vorn.
»König Greedeon will Ariac an König Scurr ausliefern.«
Rijana entfuhr ein leiser Schrei des Entsetzens, und sie presste eine Hand vor den Mund. »Das kann doch nicht sein«, flüsterte sie.
Brogan drückte ihre Hand fest. »Ich weiß nicht, was dahintersteckt, ich konnte nicht alles hören.«
»Was machen wir denn jetzt?«, flüsterte sie entsetzt.
»Wenn du ihm wirklich traust, dann werde ich ihm helfen zu entkommen.«
Hoffnung keimte in Rijana auf, und sie nickte nachdrücklich.
»Es ist ein Risiko«, sagte der Zauberer, »ich kann auch nicht sagen, ob es klappen wird, aber Ariac muss erst einmal verschwinden.«
»Dann kann er endlich in die Steppe gehen und sehen, dass wir seine Leute nicht ermordet haben«, flüsterte sie.
Brogan lächelte sie an. »Ja, das kann er. Morgen Nacht werde ich den Wachmännern einen Schlaftrunk in ihr Wasser geben, dann lasse ich Ariac frei. Ich werde ihm meinen magischen Umhang, der sich farblich der Umgebung anpasst, und ein Schwert geben.«
»Aber er kommt doch aus dem Schlossgelände nicht raus«, wandte Rijana ein. Die Mauern waren mehr als mannshoch und wurden streng bewacht.
»Er muss es versuchen, vielleicht kann er über die Mauer klettern. Nicht überall sind Wächter«, er sah sie ernst an, »eine andere Chance hat er nicht.«
Rijana nickte und schluckte anschließend heftig. »Kann ich ihn noch einmal sehen?«
Brogan nickte ernst. »Das musst du sogar. Wenn ich allein kommen würde, würde er mir vielleicht nicht glauben.«
»Gut, dann morgen Nacht«, sagte Rijana.
 
Den ganzen nächsten Tag über musste sich Rijana sehr zusammenreißen, denn sie war furchtbar nervös. Endlich wurde es Abend, und Rijana entschuldigte sich damit, Kopfschmerzen zu haben, und ging bald auf ihr Zimmer. Dort lief sie bis Mitternacht unruhig auf und ab. Der Regen des Tages hatte sich verzogen, und nun hing Nebel über dem Land.
Das ist gut für Ariac, dachte Rijana, dann sehen die Wachen ihn nicht gleich.
Etwa um Mitternacht klopfte es leise an der Tür, und Brogan stand mit einem Bündel unter dem Arm vor ihr.
»Bist du bereit?«, fragte er ernst.
Rijana nickte aufgeregt und folgte dem Zauberer durch das ruhige Schloss. Die Wachen vor den Kerkern schnarchten tief und fest, als die beiden über sie hinwegstiegen. Lautlos schlichen sie in den Kerker, wo Ariac schlafend im Stroh lag.
»Wach auf«, rief Rijana, so laut sie es sich traute.
Ariac fuhr auf, blinzelte im trüben Licht der Fackeln und kam langsam näher.
»Brogan befreit dich. Du musst verschwinden! König Greedeon will dich König Scurr ausliefern«, berichtete sie aufgeregt.
Ariac zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen und blickte auf den Zauberer. »Warum willst du mir helfen?«
»Weil Rijana dir traut«, erwiderte der Zauberer. »Und ich glaube, dass ein guter Mensch in dir steckt. Auch wenn ich niemals geglaubt hätte, dass jemand Scurrs Ausbildung übersteht, ohne verrückt zu werden.«
Ariac deutete ein Lächeln an. »Das habe ich auch beinahe nicht.«
»Du musst verschwinden, Ariac«, sagte Brogan. »Ich weiß nicht, was Hawionn und Greedeon ausgeheckt haben und ob Scurr darauf eingeht. Aber es ist sicherlich nichts Gutes für dich.«
Ariac nickte und blickte dem Zauberer in die Augen. »Ich habe Flanworn nicht getötet, aber wenn er Rijana etwas angetan hätte, hätte ich nicht gezögert.«
Der Zauberer lächelte. »Das hätte ich ebenfalls nicht.« Schließlich öffnete er den Riegel, gab Ariac den Umhang, das Bündel mit Essen und das Schwert.
»Rijana, geh zurück. Ich bringe ihn zu den Pferden. Er soll so weit es geht reiten und dann über die Mauer klettern.«
Sie nickte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ariac nahm sie noch einmal in den Arm und streichelte über ihre Wange.
»Mach dir keine Sorgen, ich komme zurecht.« Er holte den kleinen Stein aus seiner Tasche. »Das wird mir Glück bringen.«
Sie nickte unter Tränen und umarmte ihn noch einmal fest, dann rannte sie die Treppe hinauf.
Rijana warf sich auf ihr Bett. Sie war froh, dass Brogan Ariac half, aber jetzt würde sie ihn nicht mehr sehen, vielleicht nie wieder.
Er geht zurück in die Steppe, zu seinen Leuten, sagte sie sich immer wieder und fuhr über den Anhänger mit der Pfeilspitze, der an ihrem Hals hing. Darunter hing die Kette von Falkann.
Plötzlich wusste sie, dass auch sie nicht hierbleiben konnte. Die anderen glaubten ihr nicht, König Greedeon spielte ein falsches Spiel, und Brogan würde auch nicht ewig bleiben können. Sie sprang auf und zog aus ihrem Schrank die Kleidung heraus, mit der sie aus Camasann gekommen war. Dann kritzelte sie noch rasch eine Nachricht auf einen Zettel und rannte durch das Schloss, dann durch die Gärten und schließlich zu den Stallungen.
Ariacs Hengst war bereits fort. In fliegender Eile sattelte Rijana ihre Stute und ritt nach draußen. Ein Stallknecht, den Brogan wohl auch betäubt hatte, schnarchte im Stroh. Im nassen Gras konnte man Spuren eines galoppierenden Pferdes sehen, doch es war sehr neblig. Rijana trabte der Spur nach und blickte immer wieder angestrengt auf den Boden. Lenya wieherte plötzlich leise, und Rijana galoppierte an. Vielleicht würde ihr Pferd Ariacs Hengst ja hinterherlaufen. Nach einer Weile sah sie vor sich eine schemenhafte Gestalt im Nebel und trieb ihre Stute an. Doch auch der andere schien zu fliehen. Ariac hielt sie wohl für einen Verfolger. Rijana traute sich nicht, laut zu rufen, da sie Angst hatte, von Wachen entdeckt zu werden. Schließlich hielt der Reiter vor ihr an und stellte sich ihr mit gezogenem Schwert in den Weg.
»Ich bin’s nur«, rief sie leise.
Ariac senkte das Schwert und ritt näher zu ihr hin.
»Was in aller Welt tust du hier?«, flüsterte er gereizt. »Ich hätte dich beinahe umgebracht.«
»Ich komme mit«, sagte sie fest.
»Das kannst du nicht, denn es ist zu gefährlich, und du gehörst hierher«, erwiderte er leise und blickte sich nervös um.
»Nein, das tue ich nicht, und wie du siehst, ist es hier auch nicht ganz ungefährlich«, sagte sie nachdrücklich.
»Rijana, bitte«, begann er, doch da sah man zwei berittene Gestalten im Nebel auftauchen.
Ariac fluchte leise und machte Rijana ein Zeichen, ihm zu folgen. Vorsichtig ritten sie hinter ein Gebüsch und blieben stehen, bis die Wachen außer Sichtweite waren.
»Rijana, bitte geh jetzt«, flüsterte Ariac, »ich muss weiter, und es wird bald hell.«
Sie schüttelte stur den Kopf.
»Ich will nicht bei König Greedeon bleiben. Er ist nicht ehrlich, und Hawionn spielt auch ein falsches Spiel.«
»Brogan wird auf dich achten und deine Freunde ebenso«, erwiderte Ariac.
»Brogan wird bestimmt zurück nach Camasann geschickt, und die anderen vertrauen mir nicht«, sagte Rijana, nun ein wenig traurig.
Ariac nahm ihre Hand und blickte sie eindringlich an. »Ich bin ein gesuchter Mörder, einer von Scurrs Männern und einer vom Steppenvolk. Ich bin nirgends sicher, deshalb kannst du mich nicht begleiten.«
»Das einzig Wahre von dem, was du gesagt hast, ist, dass du aus der Steppe kommst. Sieh doch ein, ich will dir nur dabei helfen zu erkennen, dass keiner von uns dein Volk ermordet hat.«
Ariac schloss kurz die Augen, doch bevor er etwas erwidern konnte, hörten sie schon wieder Hufschläge hinter sich. Ariac trieb sein Pferd an, und Rijana folgte ihm. Doch es war bereits zu spät. Durch die Nebelschwaden, die hier und da aufrissen, sah man fünf von König Greedeons Soldaten.
»Da ist etwas«, schrie einer.
Rijana und Ariac galoppierten an.
»Wohin?«, fragte sie erschrocken.
Ariac deutete in Richtung der Mauer. »Etwas weiter östlich ist die Mauer ein wenig eingebrochen, vielleicht können wir hinüberspringen.«
Rijana hob überrascht die Augenbrauen. Scheinbar hatte Ariac seine Flucht schon lange geplant. Seite an Seite galoppierten sie weiter, die Schreie der Soldaten hinter sich. Kurz vor der Mauer hielten sie noch einmal an.
»Bitte bleib hier«, bat Ariac verzweifelt.
Rijana schüttelte den Kopf. »Sie haben mich schon gesehen.«
Er fluchte leise und deutete auf die Mauer vor sich, die tatsächlich etwas eingestürzt war.
»Wir müssen springen.«
Rijana schluckte. Das war ziemlich hoch. Ariac blickte sie noch einmal fragend an, dann drückte er seinem Pferd die Fersen in die Seite und galoppierte los. Rijana folgte ihm, und als Lenya zu einem gewaltigen Sprung ansetzte, schloss sie kurz die Augen. Doch schon waren sie auf der Grasebene, die sich hinter dem Anwesen des Königs erstreckte, und jagten in Richtung Norden.
 
Am nächsten Morgen herrschte helle Aufregung im Schloss von Balmacann, denn es hatte die Runde gemacht, dass der Gefangene entkommen war. Dass auch Rijana fehlte, fiel erst auf, als sich die anderen versammelt hatten. Auch Brogan war anwesend, hatte sich jedoch gut unter Kontrolle.
»Jemand hat ihm geholfen«, rief König Greedeon außer sich vor Wut.
Hawionn ließ derweil seinen stechenden Blick über die Gesichter der Anwesenden streifen, aber die schienen ebenso überrascht wie alle anderen.
»Wo bleibt denn Rijana?«, fragte Falkann nervös.
»Ich weiß nicht, ich dachte, sie wäre bereits hier«, erwiderte Saliah. »In ihrem Zimmer war sie nicht mehr.«
Zwei Soldaten kamen herein und berichteten, dass sie zwei unbekannte Personen bis weit hinter die Mauern verfolgt hatten, doch dann waren sie ihnen im Nebel entwischt.
»Sie sind einfach über die Mauer gesprungen. Wir mussten erst durch das Tor durch, daher hat es etwas länger gedauert«, berichtete der eine Soldat.
»Warum seid ihr nicht hinterhergesprungen?«, fragte König Greedeon ungehalten.
Der Soldat wand sich ein wenig verlegen. »Es war zu gefährlich, mein Herr.«
Greedeon machte eine unwillige Handbewegung, und Hawionn fragte drängend: »Habt ihr erkannt, wer es war?«
»Nein, mein Herr, aber es war eindeutig der Gefangene, denn sein Pferd ist fort.«
Falkann wurde plötzlich von einem unguten Gefühl befallen. Er rannte hinaus. Auch die anderen waren sich ziemlich sicher, dass Rijana mit Ariac gegangen war und ihm geholfen hatte. Broderick ging in ihr Zimmer und kehrte kurze Zeit später zurück, als Falkann vor Wut schäumend in der großen Eingangshalle stand.
»Rijanas Pferd ist fort«, rief er und trat mit dem Fuß immer wieder gegen einen der hohen, verzierten Pfosten. »Er hat sie entführt, verdammt.«
Broderick schüttelte den Kopf, packte seinen Freund am Arm und hielt ihm einen Zettel und die Kette hin, die Falkann Rijana vor einiger Zeit geschenkt hatte.
»Es tut mir leid«, stand darauf.
Falkann fluchte und warf die Kette an die Wand.
 
Beinahe ohne Pause galoppierten Rijana und Ariac in Richtung Norden. Sie hielten nur kurz an, um die Pferde zu tränken und selbst etwas zu essen. Immer wieder versuchte Ariac, Rijana zu überzeugen, doch noch umzudrehen, aber sie weigerte sich hartnäckig. Zwar hatten sie die Verfolger bald abgeschüttelt, aber Ariac war sich sicher, dass man sie weiterhin verfolgen würde.
Am Abend hatten sie den Donnerfluss erreicht, der sich mit lautem Rauschen seinen Weg durch das Land bahnte. Weiter im Süden gab es eine Brücke, doch die war zu weit entfernt und würde sicherlich bewacht werden.
Rijana und Ariac ritten etwas nach Süden, denn im Norden wurde der reißende Fluss noch wesentlich breiter.
»Wie sollen wir denn da hinüberkommen?«, fragte Rijana und blickte in die tosenden Wasser des Donnerflusses.
Ariac hob die Schultern, denn das wusste auch er nicht so genau. Schließlich verbrachten sie die Nacht in der Nähe des Flusses in einem Gebüsch. Sie trauten sich nicht, ein Feuer zu entzünden, denn das wäre zu auffällig gewesen. Rijana hatte wegen ihrer überstürzten Flucht keine Decke dabei, daher gab Ariac ihr seine.
»Nimm sie, mir ist nicht kalt«, sagte er aufmunternd.
»Wenn wir in eine Stadt oder ein Dorf kommen, dann kaufe ich mir eine eigene«, versprach sie und deutete auf den Beutel mit Gold, der an ihrem Gürtel hing. Den hatte sie zum Glück noch rasch mitgenommen.
Ariac nickte. Auch Brogan hatte ihm etwas Gold mitgegeben.
»Ich halte Wache, damit du schlafen kannst«, sagte er und gab ihr noch etwas aus dem Proviantsack.
Rijana nickte und wickelte sich in ihre Decke. In den Nächten wurde es empfindlich kalt. Das Jahr war noch jung. Ariac stellte sich auf einen Hügel in der Nähe und spähte in die hereinbrechende Dunkelheit. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte. Hatte Greedeon ihn wirklich verkaufen wollen? Und was wäre passiert, wenn Scurr ihn tatsächlich in die Finger bekommen hätte? Dann fiel sein Blick auf die Stelle, wo Rijana schlief. Einerseits freute er sich, dass sie bei ihm war, andererseits wollte er sie nicht in Gefahr bringen. Einen Augenblick lang erwägte er, sie allein zu lassen und weiterzuziehen. Aber diesen Gedanken verwarf er rasch wieder. Wer wusste, was Greedeons Männer mit ihr machen würden.
Ariac seufzte. Er hatte keine Ahnung, wie sein Leben weitergehen sollte. Zunächst musste er in die Steppe und mit eigenen Augen sehen, was mit seinem Clan geschehen war.
Später in der Nacht hörte er leise Schritte. Rijana kam zu ihm.
»Jetzt kannst du schlafen«, sagte sie gähnend.
»Du musst nicht Wache halten«, erwiderte er.
Doch Rijana schüttelte den Kopf. »Das macht mir nichts aus, wir haben das oft tun müssen, als wir noch auf Camasann waren.« Sie biss sich auf die Lippe, denn sie musste an ihre Freunde denken. Etwas unwohl fühlte sie sich schon dabei, so ganz ohne ein Wort gegangen zu sein.
Ariac nahm sie in den Arm. »Du kannst noch umdrehen. Ich bin dir nicht böse, wenn du es tust.«
Doch Rijana schüttelte den Kopf und postierte sich nun ihrerseits auf dem Hügel. Unter ihr grasten die beiden Pferde, die nach dem anstrengenden Ritt müde wirkten.
Auch Rijana machte sich ihre Gedanken. Ihre Flucht war ein wenig unüberlegt und eilig gewesen, eigentlich wusste sie doch sehr wenig von Ariac. War es wirklich richtig gewesen, mit ihm zu gehen? Aber dann atmete sie die frische klare Nachtluft ein und musste sich eingestehen, dass sie sich erst jetzt richtig frei fühlte. Dieses Gefühl hatte sie weder auf Camasann noch auf dem Schloss gehabt.
In der Morgendämmerung brachen die beiden nach einem eiligen Frühstück auf. Es war erneut ein nebliger Morgen, und leichter Nieselregen fiel vom Himmel. Ein Stück flussabwärts fanden sie einen Abschnitt, der etwas seichter und weniger reißend wirkte.
»Wir sollten es versuchen, etwas Besseres werden wir wohl nicht finden«, meinte Ariac und blickte skeptisch ins Wasser. »Du wartest, bis ich drüben bin.«
Rijana nickte zustimmend und sah, wie Ariac seinen Hengst ins Wasser trieb. Der schnaubte ein paar Mal aufgeregt, aber dann lief er in die reißenden Fluten. Das Pferd war schon nach einem kurzen Stück bis zur Brust versunken und begann schließlich zu schwimmen. Rijana hielt die Luft an, als die beiden ein Stück flussabwärts getrieben wurden, doch dann hatte der Hengst wieder festen Boden unter den Füßen und galoppierte den Abhang hinauf.
»Sei vorsichtig«, schrie Ariac zu ihr hinüber und stieg von seinem Pferd.
Lenya zögerte. Scheinbar gefiel auch der Stute der rutschige Untergrund nicht, aber schließlich trat auch sie in die Strömung. Das Wasser war eiskalt, und Rijana sog die Luft scharf ein, als das Pferd ins Wasser tauchte. Eine Weile kämpfte sie mit dem Pferd gegen die Strömung, dann war sie bei Ariac angelangt, der ein erleichtertes Gesicht machte.
»Komm, wir müssen weiter, bis zum Abend sollten wir die Handelsstraße erreicht haben.«
Rijana nickte, und die beiden galoppierten Seite an Seite durch das hügelige und menschenleere Land. Hin und wieder sah man kleine Haine und hier und da sogar einen verlassenen Hof, aber sie trafen zu ihrem Glück auf keine Wachen. Die Straße war weiter entfernt, als es die Karte, die Brogan Ariac gegeben hatte, Glauben machen wollte. So mussten sie weitere zwei Tage durch das Land reiten. Ariac war nachdenklich und redete nicht viel. Er war immer noch etwas durcheinander.
 
Nach einer Nacht im Schutz eines schmalen Waldstücks stiegen Rijana und Ariac wieder einmal in den Sattel. Es regnete schon seit dem letzten Abend, und sowohl Mensch als auch Tier waren ziemlich nass. Mit gesenkten Köpfen ritten sie weiter durch das hügelige Land. Mittags schien es ein wenig aufzureißen, und Rijana und Ariac hängten ihre Umhänge zum Trocknen auf. Ariac gab Rijana etwas von dem letzten Brot. Er würde bald jagen gehen müssen, denn der Proviant ging zur Neige.
»Was sind das eigentlich für Umhänge?«, fragte er und nahm einen Schluck aus seinem Wasserschlauch.
Rijana hob die Schultern. »Ich weiß nicht genau, aber alle Zauberer tragen sie, und wir haben welche bekommen, als sich herausstellte, dass wir Thondras Kinder sind.«
Ariac nickte. »Sie sind praktisch«, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns. »Ich möchte wissen, wie sie gefertigt sind.«
»Keine Ahnung«, seufzte Rijana und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie hätte es niemals zugegeben, aber sie war müde, ihr war kalt, und sie war erschöpft. Vier Tage waren sie nun auf der Flucht und wussten nicht, ob König Greedeons Männer noch hinter ihnen her waren.
»Wollen wir weiterreiten?«, fragte Ariac und warf einen besorgten Blick auf den Himmel. Der Wind hatte aufgefrischt, doch er schien die Wolken nicht wegzublasen, sondern eher neue aus dem Osten herzubringen.
Rijana nickte und lief zu ihrem Pferd, welches sie an der Schulter anstupste.
»Wie heißt dein Hengst eigentlich?«, fragte Rijana.
Ariac blickte sie überrascht an, dann antwortete er: »Nawárr, nach dem Gott des Windes, denn er ist genauso schnell.« Er streichelte seinem schwarzen Hengst über das mit roten Stichelhaaren durchzogene Fell.
Rijana nickte lächelnd. »Er ist wirklich sehr schön.«
»Deine Stute auch. Wie hast du sie genannt?«
»Lenya«, sie grinste verlegen, »nach einem der ersten sieben Kinder Thondras. Ich dachte, das wäre passend.«
Beide stiegen auf ihre Pferde. Im Laufe des Tages nahm der Wind an Stärke zu, und es begann wieder zu regnen. Die beiden zogen sich ihre Umhänge weit ins Gesicht, und einige Zeit hielten sie auch den Regen ab, aber als dieser mit aller Macht auf sie niederprasselte, waren auch die Kleider bald durchgeweicht. Als es dunkel wurde, hielt Ariac verzweifelt nach einem Unterschlupf Ausschau, aber außer ein paar weit auseinanderstehenden Bäumen fand er nichts. Als es zu dunkel zum Reiten wurde, hielten sie im spärlichen Schutz einiger Felsen an. Rijana stieg steifgefroren von ihrer Stute, sattelte sie mit klammen Händen ab und kauerte sich neben einen der Felsen. Ariac kniete sich neben sie und gab ihr die beinahe schon vollkommen durchweichte Decke.
»Nimm sie«, sagte er und betrachtete das Mädchen besorgt. Ihm selbst war zwar auch kalt, aber er konnte nicht ertragen, dass Rijana so leiden musste.
Rijana schlang die Decke um sich und versuchte, ihre Zähne nicht allzu sehr klappern zu lassen. Ariac gab ihr etwas zu essen und legte anschließend zögernd seinen Arm um sie.
»Darf ich? Dann ist es vielleicht etwas wärmer.«
Sie nickte und hob die feuchte Decke ein wenig an. Er setzte sich neben sie auf den ebenfalls nassen Boden und versuchte, ihr etwas von seiner Körperwärme abzugeben. Auch wenn sie tapfer zu lächeln versuchte, konnte er spüren, wie sehr sie zitterte.
»Jetzt bereust du es, mit mir gegangen zu sein, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, obwohl ihr an diesem Tag schon des Öfteren das Zimmer im Schloss von Balmacann in der Erinnerung zum Paradies geworden war.
»Nein, das macht mir nichts aus«, behauptete sie bibbernd und lehnte sich an Ariacs Schulter.
Der hielt in dieser Nacht keine Wache. Er blieb bei Rijana sitzen, die irgendwann zitternd eingeschlafen war. Noch vor der Morgendämmerung brachen sie auf. Es regnete noch immer, und im Laufe des Tages mischte sich sogar ein wenig Schnee unter die Tropfen. Rijana hielt sich mit eiskalten Fingern am Sattel fest. Sie fror erbärmlich und glaubte irgendwann, einfach vom Pferd kippen zu müssen, aber sie ritt Ariac tapfer hinterher. Der warf immer wieder besorgte Blicke nach hinten.
»Wir suchen uns besser ein Dorf«, sagte er irgendwann. Bisher hatten sie sich abseits der Straße gehalten, da sie Angst vor König Greedeons Soldaten hatten.
»Zzzuu geffährlich«, erwiderte Rijana undeutlich und wischte sich mit einer steifgefrorenen Hand die Nässe aus dem Gesicht.
Ariac ritt neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Es ist einfach zu kalt. Wir müssen einen warmen Platz finden.«
Doch sie schüttelte weiterhin den Kopf.
»Kannst du wirklich noch weiter?«, fragte Ariac seufzend.
Rijana versicherte es und kauerte sich im Sattel zusammen.
Dicke Wolken hingen über dem Land, die von Schnee und Regen kündeten. Durch die schlechte Sicht hatten sie sich wohl etwas zu sehr von der Straße entfernt, denn nun ging es wieder durch buschreiches Land. Irgendwann hielt Ariac an, half der unkontrolliert zitternden Rijana vom Pferd und führte sie unter den spärlichen Schutz eines leicht überhängenden Felsens. Mit seinen kalten, beinahe gefühllosen Händen versuchte er, ihr die Arme und Hände warm zu reiben.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er mit klappernden Zähnen in ihre durchnässten Haare und drückte sie fest an sich.
Rijana hatte keine Kraft mehr, etwas zu erwidern. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals so erbärmlich gefroren zu haben.
»Komm, wir suchen jetzt ein Dorf«, bestimmte Ariac, als sich das Wetter nicht besserte.
Rijana brachte die Zähne nicht mehr weit genug auf, um zu widersprechen. Sie ließ sich von Ariac zu ihrem Pferd führen. Schließlich nahm er ihre Zügel und ritt weiter, wie er hoffte, in Richtung der Straße. Es schneite und regnete ununterbrochen fort. Ariac machte sich wirklich Sorgen um Rijana, die zusammengekauert auf ihrer Stute saß und sich gerade so am Sattel festhalten konnte. Als es schon beinahe dunkel war, sah er in der Ferne etwas aufleuchten. Aus dem Kamin eines kleinen Holzhauses stieg Rauch auf. Ariac half Rijana vom Pferd. Diese konnte mit ihren eingefrorenen Füßen kaum noch laufen. Anschließend sattelte er die Pferde ab und ließ sie frei. Ariac hoffte, dass die beiden nicht fortlaufen und hier grasen würden. Mitnehmen wollte er die edlen Pferde nicht, sie würden zu sehr auffallen.
Er packte Rijana am Arm und zog sie mit sich in Richtung des Hauses. Vor der Tür hielt er sie ganz fest, denn ihr drohten die Beine wegzuknicken. Dann klopfte er an. Nach einer Weile hörte er Schritte, und ein Mann mittleren Alters mit grauen Haaren und einem Stoppelbart öffnete. Er trug die Kleidung eines Bauern. Ein großer schwarzer Hund stand knurrend hinter ihm.
»Was tut ihr hier, und was wollt ihr?«, fragte er misstrauisch, während er versuchte, einen Blick auf die Gesichter unter den Kapuzen der beiden zu erhaschen.
»Bitte, können wir in Eure Hütte gehen, bis das Wetter sich bessert?«, fragte Ariac undeutlich.
Der Mann runzelte die Stirn. »Was tut ihr so weit von der Handelsstraße entfernt und noch dazu bei diesem Wetter?«
»Bitte, dem Mädchen ist furchtbar kalt«, bat Ariac mit zitternder Stimme.
»Ich will dein Gesicht sehen«, befahl der Bauer.
Ariac zog seufzend die Kapuze nach hinten, und der Bauer wich einen Schritt zurück, woraufhin der Hund noch bedrohlicher zu knurren begann.
»Verschwinde, du bist einer vom Steppenvolk.«
Ariac schloss kurz die Augen. »Dann lasst zumindest das Mädchen hinein, ihr ist kalt, ich möchte nicht, dass sie krank wird. Ich bleibe draußen. Sie ist keine vom Steppenvolk.«
»Nein«, murmelte Rijana undeutlich, denn sie wollte nicht, dass Ariac sie allein ließ, doch der Bauer machte ohnehin ein unwilliges Gesicht.
Er blickte in den mit Schnee durchsetzten Regen hinaus und sagte schließlich seufzend: »Von mir aus könnt ihr in der Scheune schlafen.« Er runzelte die Stirn. »Aber wehe, morgen früh fehlt etwas.«
Ariac hätte ihn für diese Äußerung zwar gerne geschlagen, aber im Moment war er einfach nur dankbar, dass Rijana ins Trockene kam.
»Könnt Ihr meiner Gefährtin etwas Trockenes zum Anziehen geben?«, bat er und fügte rasch hinzu, als er das unwillige Gesicht des Bauern sah: »Ich kann bezahlen.«
Mit klammen Fingern holte er ein kleines Goldstück hervor, welches der Bauer mit großen Augen ansah. Das war selbstverständlich viel zu viel Bezahlung, aber Ariac war das im Moment egal.
»Um die Ecke, hinterm Haus«, knurrte der Bauer und biss auf das Goldstück, das echt zu sein schien. »Ich bringe euch nachher frische Kleidung.«
Ariac nickte und führte Rijana durch den Regen. Bald waren sie in der alten Scheune angekommen, die zwar auch ein wenig zugig, aber zumindest trocken war. Er führte Rijana in eine Ecke mit Stroh und legte beide Arme um sie. Sie lehnte sich erschöpft und durchgefroren an ihn.
»Gleich wird es wärmer«, versprach er, »der Bauer bringt dir frische Kleidung, dann wird alles gut.«
 
Der Bauer, Jorn, hatte rasch ein paar alte Kleider und sogar etwas zu essen geholt und war zur Scheune gelaufen. Dieser junge Steppenmann war ihm zwar nicht ganz geheuer, aber ihm hatte das Mädchen leidgetan. Er stand gerade in der offenen Scheunentür, als er sah, wie liebevoll sich der junge Mann um das Mädchen bemühte, das ganz offensichtlich furchtbar fror.
So geht doch keiner der Wilden mit einer Frau um, dachte Jorn verwundert. Die Steppenleute sind doch angeblich grausam und ungebildet.
Er zuckte die Achseln und ging näher. Jorn sah, wie besorgt das fremdländische Gesicht des jungen Mannes mit den merkwürdigen Tätowierungen wirkte.
Schließlich gab sich Jorn einen Ruck. »Na ja, von mir aus könnt ihr auch mit ins Haus kommen«, knurrte er. »Ich will gar nicht wissen, wo du das Gold herhast, aber das ist mehr als genug Bezahlung für einen Schlafplatz und ein warmes Essen.«
Ariac stand erleichtert auf und nahm Rijana, die sich vor Kälte wirklich nicht mehr bewegen konnte, auf seine Arme. Jorn führte die beiden in die Wohnstube und befahl dem großen Hund, ruhig zu sein. Ariac setzte Rijana auf den Boden neben das Feuer. Aus dem Nebenraum tauchte eine Frau mit leicht ergrauten blonden Haaren auf.
»Wir haben wohl Besuch«, sagte sie überrascht. Als Ariac den Kopf drehte und sie sein Gesicht sah, schrak sie zurück.
»Ich tue Euch nichts, keine Sorge«, sagte Ariac beruhigend, und auch Jorn nickte seiner Frau zu.
»Du musst dich umziehen, Rijana«, sagte Ariac eindringlich und rüttelte sie an der Schulter, denn Rijana war kurz davor einzuschlafen.
Sie nickte müde, und Ariac verließ mit Jorn den Raum. In dem winzigen Nebenraum, der die Küche war, stand dessen Frau am Herd.
»Wo in aller Welt seid ihr denn hergekommen bei diesem schlechten Wetter?«, fragte Freeda, die Bäuerin, kopfschüttelnd.
»Wir sind etwas von der Straße abgekommen«, log Ariac, und Jorn sah man ganz deutlich an, dass er das nicht glaubte.
Nach kurzer Zeit gingen sie wieder hinein, und Rijana saß in eine Decke gewickelt am Feuer und sah nun wieder etwas lebendiger aus.
»Aber jetzt musst du dich umziehen«, verlangte sie entschieden, als Ariac sich neben sie setzte.
Er nickte und reichte ihr eine der dampfenden Teetassen, die Freeda ihm gegeben hatte. Anschließend verschwand er im Nebenraum, um die alten Kleider von Jorn anzuziehen.
Freeda betrachtete das Mädchen kritisch, das mit eiskalten Händen die Tasse umklammerte. Selbst mit den klatschnassen Haaren und dem erfrorenen Gesicht wirkte sie sehr hübsch.
Freeda beugte sich zu ihr herunter. »Hat er dich entführt oder sonst etwas? Dann kann Jorn ihn sicher leicht überwältigen«, flüsterte sie.
Rijana machte ein empörtes Gesicht und stellte die Tasse weg. »Er ist mein Freund!«
»Oh«, sagte die Bäuerin erschrocken. »Aber warum bist du mit ihm unterwegs?«
Rijanas Gesicht verschloss sich. »Das ist unsere Sache.«
Freeda hob die Schultern und ging zurück in die Küche, wobei sie Ariac einen kritischen Blick zuwarf. Rijana musste lachen. Die alten, ausgeblichenen Kleider waren Ariac viel zu weit und zu kurz.
Er setzte sich neben sie und legte einen Arm um sie. »Ist es jetzt besser?«
»Viel besser«, antwortete sie mit einem erleichterten Lächeln.
Jorn betrachtete die beiden verwirrt. Was hatte dieses junge Mädchen mit dem Steppenmann zu schaffen? Freeda brachte schließlich sogar noch zwei Schüsseln mit Lammfleischeintopf, was beide gerne annahmen, doch Rijana fielen beim Essen immer wieder die Augen zu, so erschöpft war sie. Kaum hatte sie die hölzerne Schüssel zur Seite gestellt, war sie auch schon an Ariacs Schulter gelehnt eingeschlafen.
»Wir bringen euch noch Stroh und ein paar Decken«, versprach Freeda leise, um Rijana nicht zu wecken.
Ariac nickte dankbar, und als die Bäuerin und der Bauer etwas Stroh und zwei grobe Wolldecken gebracht hatten, legte er Rijana ganz vorsichtig auf das behelfsmäßige Bett neben dem Feuer. Anschließend streichelte er ihr liebevoll über die jetzt schon beinahe getrockneten Haare.
»Danke«, flüsterte er den beiden Bauern zu, die ihn verwirrt beobachteten.
»Wir gehen ins Bett«, sagte Jorn und warf noch einen Blick in die kleine Wohnstube. Wahrscheinlich um zu sehen, was Ariac in der Nacht alles stehlen könnte. Doch dann erinnerte sich Jorn an das Goldstück und ging mit seiner Frau in die Küche, um die schmale Stiege zum Dachboden hinaufzuklettern, wo sie schliefen.
Ariac lehnte sich gegen die hölzerne Wand und starrte in die Flammen. Er war froh, dass sie jetzt im Warmen waren, vor allem um Rijanas willen, die friedlich neben ihm schlief. Er selbst traute sich nicht zu schlafen, da er dem Bauern gegenüber ein wenig misstrauisch war.
Die Morgendämmerung war wohl nicht mehr fern, als Rijana erwachte. Zunächst wollte sie sich wieder umdrehen, doch dann sah sie, dass Ariac mit offenen Augen neben ihr saß.
Sie streckte sich ein wenig. »Hast du noch gar nicht geschlafen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob wir den Bauern trauen können.«
»Dann passe ich jetzt auf«, versprach sie.
Ariac zögerte und streichelte über ihre Haare. »Ist dir wieder warm?«
Sie nickte grinsend und machte Platz, damit er sich hinlegen konnte. Es dauerte nicht lange, bis er eingeschlafen war. Bald kam Freeda leise herunter und sah, dass das Mädchen wach war. Rijana versuchte gerade vergeblich, ihre Haare zu entwirren.
»Möchtest du einen Kamm haben?«, fragte die Bäuerin freundlich.
Rijana nickte, und als Ariac, der wohl im Schlaf die Stimme der anderen Frau gehört hatte, zusammenzuckte, beugte sie sich zu ihm hinab und flüsterte: »Alles in Ordnung, du kannst weiterschlafen.«
Daraufhin entspannte er sich wieder. Rijana stand lächelnd auf und folgte der Bäuerin in die Küche. Die gab ihr einen hölzernen Kamm und betrachtete Rijana verwirrt.
»Du bist ein so hübsches Mädchen«, sagte Freeda bewundernd, dann blickte sie Rijana ernst an. »Bist du wegen ihm von zu Hause weggelaufen?«
Rijana hielt mit dem Kämmen inne und überlegte, was sie darauf antworten sollte. »Na ja, so ähnlich.«
»Aber, Kind, er ist doch ein Wilder! Deine Eltern werden sich fürchterliche Sorgen machen.« Freeda blickte sie eindringlich an. »Du bist wahrscheinlich nicht einmal volljährig.«
Rijana schüttelte den Kopf. Erst mit einundzwanzig Jahren galt man in diesen Zeiten als volljährig. »Das macht nichts, ich weiß, was für mich gut ist. Und Ariac ist ein guter Mensch.«
»Aber wo wollt ihr denn hin, Kind?«, fragte die Bäuerin besorgt. »Du kannst doch nicht wie eine Wilde in der Steppe leben.«
Rijana konnte Freeda wohl kaum alles erzählen. »Ich kann tun und lassen, was ich will.«
Die Bäuerin wollte noch etwas erwidern, doch da kam Ariac in den Raum. Er trug nun wieder seine eigene Kleidung, die zum Glück getrocknet war.
»Wir können aufbrechen. Es regnet nicht mehr so stark«, sagte Ariac.
»Ihr könnt auch noch bleiben«, beeilte sich die Bäuerin zu sagen, und auch Jorn, der gerade zur Tür hereinkam, nickte.
Doch Ariac wollte weiter, sie hatten sich ohnehin schon zu lange aufgehalten.
»Können wir etwas Proviant von euch kaufen?«, fragte er.
Jorn nickte bedächtig. »Du hast uns ohnehin viel zu viel Gold gegeben. Ich werde einpacken, was wir entbehren können.«
»Ich habe das Gold nicht gestohlen«, sagte Ariac mit zusammengezogenen Augenbrauen, als er Jorns Blick sah.
Der hob die Achseln. »Und wenn schon, solange du es nicht von den Armen nimmst – Greedeon und die Lords haben ohnehin mehr als genug.«
Freeda machte ein erschrockenes Gesicht. »Sag doch nicht so etwas.«
»Wer soll uns denn hören?«, knurrte Jorn.
Rijana und Ariac blickten sich verwirrt an. Sie waren eigentlich der Meinung gewesen, dass König Greedeon durchaus beliebt war.
»Seitdem er mit Catharga verbündet ist, ist alles nur noch schlimmer«, fuhr Jorn fort, doch dann seufzte er. »Obwohl es uns ja noch vergleichsweise gut geht. In den anderen Ländern ist es noch übler.« Er schimpfte leise vor sich hin. »Wir dachten eigentlich, dass, wenn Thondras Kinder wiedergeboren werden, sich die Zustände bessern, aber nichts ist besser geworden. Sie sind doch auch nur Greedeons Sklaven.«
Rijana und Ariac blickten sich an – das dachten die Leute also von ihnen. Sie hatten außerdem gar nicht gewusst, dass Catharga und Balmacann nun verbündet waren. Sicher, König Greedeon hatte von jeher seine Krieger im Kampf gegen König Scurr zur Verfügung gestellt, aber an sich herrschte eine gewisse Rivalität zwischen den Ländern.
Schließlich packte Ariac das harte dunkle Brot, etwas Käse und die geräucherten Würste ein. Rijana zog sich in dieser Zeit wieder um.
»Willst du das Mädchen nicht lieber hierlassen, junger Mann?«, fragte Jorn ernst. »Wir könnten sie zu ihren Eltern zurückbringen.«
Ariac seufzte. »Nein, das macht leider keinen Sinn, aber danke für eure Hilfe.«
Jorn und Freeda blickten sich besorgt an, aber sie würden wohl kaum etwas ausrichten können. Schließlich war Rijana fertig und verabschiedete sich von den Bauern. Draußen nieselte es noch ein wenig. Rijana und Ariac eilten in Richtung der Bäume, wo sie die Pferde zurückgelassen hatten. Das kleine Haus war bald außer Sichtweite.
Zu ihrer Erleichterung kamen die Pferde ihnen schon bald entgegen. Sie hatten unter den Bäumen gegrast und wirkten ausgeruht. Rasch holte Ariac die Sättel, und die beiden ritten weiter.
»Falkann hat nie etwas davon gesagt, dass sein Vater sich mit König Greedeon verbündet hat«, sagte Rijana nachdenklich, und der Gedanke an Falkann versetzte ihr einen leichten Stich.
»Vielleicht wusste er es nicht«, erwiderte Ariac und blickte angestrengt auf die Karte. Sie mussten wohl etwas weiter nach Osten reiten, um in die Nähe der Straße zu gelangen, die nach Norden führte.
»Denkst du auch, dass wir König Greedeons Sklaven sind?«, fragte Rijana.
»Jetzt nicht mehr«, erwiderte Ariac mit einem leicht zynischen Grinsen, doch dann wurde er ernst. »Na ja, ich glaube zumindest nicht, dass er der ehrenhafte Mann ist, für den ihr ihn gehalten habt.«
Den Rest des Tages trabten sie durch das hügelige Land. Dann erblickten sie endlich die Straße.
»Wir müssen uns abseits der Straße halten, dürfen sie aber nicht aus dem Blick verlieren«, sagte Ariac nachdenklich. Endlich hatte es aufgehört zu regnen, und den beiden war eine halbwegs trockene Nacht unter einem Felsüberhang vergönnt. Rijana, die von den Bauern eine Decke bekommen hatte, kuschelte sich behaglich hinein. Es war wieder ein anstrengender Tag gewesen.
»Ich hoffe, Brogan hat keinen Ärger bekommen«, sagte sie plötzlich besorgt.
Ariac, der am Felsen gelehnt hatte, setzte sich zu ihr auf den Boden.
»Warum hat er mir geholfen?«
Rijana nahm vorsichtig seine Hand in ihre. »Er vertraut dir eben auch.«
Ariac, der sich das kaum vorstellen konnte, zog seine Hand wieder weg. »Das glaube ich nicht, schließlich bin ich bei seinem Feind ausgebildet worden.«
Doch Rijana schüttelte den Kopf. »Brogan ist anders als Hawionn. Er denkt nicht zuerst an das Wohl der Schule oder an das von König Greedeon. Brogan hat sich auch immer um uns Kinder Gedanken gemacht.«
Sie lächelte, als sie daran zurückdachte, wie sie in Camasann angekommen und als Erstes gleich in den Fluss geworfen worden war.
»Was ist denn?«, fragte Ariac und betrachtete sie eindringlich.
Sie erzählte von ihrer ersten Zeit in Camasann, und Ariac wurde sehr ruhig.
»In Naravaack hat es so etwas nicht gegeben«, murmelte er.
»Sei froh«, erwiderte sie grinsend. »Es war reichlich kalt.« Er blitzte sie plötzlich zornig an. »In Naravaack hätten sie dich ertrinken lassen.«
Rijana zuckte erschrocken zusammen. »Das tut mir leid. Es war sicherlich schlimm dort.«
Ariac, der sich wieder unter Kontrolle hatte, legte einen Arm um ihre Schultern. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.«
Zögernd lehnte sie sich wieder an ihn. Rijana hatte häufig darüber nachgedacht, wie es wohl in Naravaack gewesen war, tat sich jedoch schwer, sich das wirklich vorzustellen, da Ariac kaum darüber redete.
 
Drei Tage lang ritten sie unweit der Straße entlang. Hin und wieder sahen sie bewaffnete Soldaten, die sie aber nicht entdeckten. Dann wurde das Unterholz jedoch so dicht, dass sie nicht mehr mit ihren Pferden hindurchkamen. Das mächtige Donnergebirge war nun nicht mehr weit entfernt.
»So ungern ich es tue, aber wir müssen wohl auf die Straße und versuchen, uns auf der anderen Seite durchzuschlagen«, sagte Ariac am vierten Tag. Heute schien sogar die Sonne, und die Vögel zwitscherten in den Bäumen.
Rijana nickte und trieb ihre Stute durch das dichte Unterholz über den Abhang auf die steinige Straße. Dabei zerkratzte sie sich das Gesicht. Die beiden zogen sich die Umhänge über den Kopf und ritten vorsichtig weiter. Die große Kutsche eines Händlers kam an ihnen vorbei, dann ein Trupp von drei Soldaten aus Richtung Norden. Ariac war angespannt, doch die Männer ritten vorbei, ohne ihn weiter zu beachten.
Gegen Ende des Tages hörten sie jedoch galoppierende Hufe von Süden. Über dreißig Soldaten, in König Greedeons Uniform gekleidet, näherten sich in raschem Tempo.
»Was jetzt?«, fragte Rijana erschrocken.
»Wenn wir flüchten, werden sie uns verfolgen. Wenn wir stehen bleiben, werden sie uns höchstwahrscheinlich erkennen«, sagte Ariac gehetzt.
Rijana nickte ängstlich. »Unsere Pferde sind schnell«, sagte sie so bestimmt wie möglich, und Ariac stimmte ihr zu.
Sie trieben die Pferde an, und hinter sich hörten sie bereits laute Rufe.
»Bleibt stehen, im Namen König Greedeons!«
In rasendem Galopp flohen sie über die Handelsstraße. Eine Zeit lang behielten Rijana und Ariac ihren Vorsprung bei, doch dann kamen ihnen immer wieder Fußgänger oder Wagen in den Weg, und die Soldaten holten auf.
»Wir müssen vom Weg runter«, schrie Ariac über seine Schulter Rijana zu, lenkte seinen Hengst im Galopp nach rechts und sprang über einen kleinen Abhang in das nächste Gebüsch. Rijana folgte ihm auf Lenya. Sie jagten durch das Unterholz und die Bäume. Hinter sich hörten sie krachende Geräusche. Die Soldaten folgten ihnen. Das Gebüsch hörte bald auf und ging in eine langgezogene Wiese über. Ariac und Rijana stürmten Seite an Seite in Richtung Norden, doch schon brachen aus verschiedenen Stellen des Waldes Soldaten hervor und nach einiger Zeit sogar nördlich von ihnen. Offensichtlich waren einige weiter auf der Straße galoppiert und versuchten nun, ihnen den Weg abzuschneiden. Ariac parierte seinen Hengst hart durch, dessen Hufe einen breiten Streifen auf der Wiese hinterließen.
»Wir müssen in den Wald«, keuchte Ariac.
Rijana riss erschrocken die Augen auf und blickte nach Osten. »Die östlichen Wälder sind verflucht.«
»Nicht mehr als wir, wenn König Greedeon uns erwischt«, widersprach er und galoppierte auch schon los.
Rijana zögerte kurz, folgte ihm jedoch schließlich. Die beiden hielten auf die weit auseinanderstehenden Bäume zu, doch sobald sie darin eintauchten, war es, als würde der gesamte Wald sie verschlucken. Man konnte nichts mehr von der Wiese erkennen, auf der sie vor wenigen Augenblicken noch galoppiert waren.
»Was ist das?«, fragte Rijana erschrocken und hielt ihr Pferd an.
»Ich weiß nicht, los, komm weiter«, verlangte Ariac, der befürchtete, verfolgt zu werden. Sie trabten durch den Wald, der hell und freundlich, zugleich aber auch irgendwie unheimlich war. Das Licht wirkte gedämpft und ließ geheimnisvolle Schatten entstehen, die zwischen den Bäumen tanzten. Die Soldaten schienen ihnen nicht gefolgt zu sein, aber Ariac wollte dennoch nicht anhalten. Man konnte kaum erahnen, in welche Richtung man ritt. Sie ritten über ungewöhnlich saftige, mit Frühlingsblumen übersäte Wiesen, durch die kleine Bäche plätscherten, in denen merkwürdig geformte Steine immer wieder aufschienen. Ein mystisches Dämmerlicht lag über dem Wald, als Rijana und Ariac an einem umgestürzten Baum anhielten und ihre Pferde absattelten. Lenya und Nawárr begannen sogleich, das saftige Gras zu rupfen. Rijana und Ariac füllten währenddessen ihre Wasserbeutel auf und setzten sich anschließend an den mächtigen umgekippten Baumstamm. Er war über und über mit weichem Moos bedeckt. Rijana schob ihre Kapuze aus dem Gesicht, und Ariac, der sie erst jetzt richtig sah, rief erschrocken: »Du meine Güte, dein ganzes Gesicht ist zerkratzt.«
Er streichelte ihr vorsichtig über die Wange, und Rijana schnitt eine Grimasse. »Nicht so schlimm.«
Er schüttelte den Kopf und suchte nach einer Heilpflanze, doch hier wuchsen nur ihm fremde Pflanzen. Schließlich wischte er ihr nur vorsichtig mit dem Ende seines Umhangs den Schmutz aus dem Gesicht.
»Es tut mir leid«, begann er, doch Rijana schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht deine Schuld, das heilt schon wieder.«
Ariac seufzte und betrachtete sie kopfschüttelnd. Eine andere Frau hätte jetzt wohl hysterische Anfälle bekommen und sich furchtbare Sorgen um ihre Schönheit gemacht. Aber Rijana kramte nur in ihren Satteltaschen und hielt Ariac Brot und Käse hin. Schweigend aßen sie und lehnten sich anschließend dicht nebeneinander an den Baumstamm.
Rijana blickte staunend um sich. Das alles kam ihr so merkwürdig und fremdartig vor.
»Hast du Angst?«, fragte Ariac und legte ihr einen Arm um die Schultern.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, komischerweise nicht. Obwohl ich es hier schon ein wenig seltsam finde.«
Ariac nickte, denn es ging ihm genauso. Dann seufzte er. »Die Ältesten der Arrowann haben immer erzählt, dass in den Wäldern noch heute Elfen leben würden«, erinnerte er sich.
Rijana lachte leise auf. »Das ist doch nur ein Märchen.«
Ariac hob die Augenbrauen. »Ich weiß nicht, diese Wälder sind riesig. Ich habe sie zwar nie zuvor selbst gesehen, aber mein Onkel erzählte mir, dass er einmal mit Jägern ins Donnergebirge gezogen sei, als das Wild auf der Steppe knapp war. Er sagte, die Wälder und Flüsse würden sich bis weit zum Meer hinunterziehen.« Ariacs Blick wurde traurig, und er verstummte. Rijana wusste, dass er an seinen Clan dachte.
Sie nahm seine Hand und drückte sie.
»Ich habe gelesen, dass die Elfen schon vor sehr langer Zeit verschwunden sind«, erzählte sie dann.
»Du kannst lesen?«, fragte Ariac überrascht.
»Du etwa nicht?«
Ariac schüttelte den Kopf. »Man braucht das nicht, um ein guter Jäger zu sein. Außerdem kann man viele Lügen in Bücher schreiben.«
Rijana nickte nachdenklich. »Ich finde es nicht schlimm, dass du nicht lesen kannst. Wäre ich in Grintal geblieben, hätte ich es auch nicht gelernt. Aber hat man euch in Naravaack …«
Ariac unterbrach sie barsch und sprang auf. »In Naravaack lernt man nur zu töten und, wenn man Glück hat, zu überleben, sonst nichts.« Er sprang auf den dicken Stamm. »Schlaf jetzt, ich halte Wache.«
Rijana blickte ihn erschrocken an. »Entschuldige, ich wollte nicht …«, begann sie unsicher, doch er winkte ungeduldig ab und balancierte auf dem Baumstamm entlang.
Seufzend wickelte sie sich in ihre Decke und war bald darauf eingeschlafen.
Ariac starrte in die Dunkelheit und versuchte, alle Gedanken an Naravaack oder an seine Verwandten in der Steppe zu verdrängen. Er hatte Rijana nicht anfahren wollen, aber das alles beschäftigte ihn einfach zu sehr.
Irgendwann wurde Ariac furchtbar müde. Er wusste gar nicht warum und wollte eigentlich zu Rijana gehen und sie wecken. Doch er sank auf den Boden und schlief sofort ein.
Ein leiser Wind hatte sich erhoben, der einen süßlichen, leichten Duft mit sich brachte. Er fuhr durch Bäume und Büsche, über Blumen und Steine. Er wirbelte um das schlafende junge Mädchen und den jungen Mann und bescherte beiden einen erholsamen und ruhigen Schlaf.
Eine schlanke Gestalt schlich in dieser Nacht durch die Büsche. Man sah sie kaum, hielt sie wohl mehr für einen Schatten. Nur die beiden Pferde bemerkten etwas und hoben die Köpfe. Die Gestalt kam näher, flüsterte etwas in einer fremden Sprache, und die Pferde schnaubten entspannt. Anschließend schlich die Gestalt näher und betrachtete die beiden jungen Menschen neugierig, die schlafend am Boden lagen.
So sieht also ein Mensch aus, dachte das Wesen verwirrt, ich werde es berichten müssen.
Die Gestalt lief leichtfüßig davon, und die beiden Pferde folgten ihr.
 
Rijana wachte am nächsten Morgen erholt auf. So gut hatte sie lange nicht mehr geschlafen. Sie streckte sich und sah verwundert, dass auch Ariac fest schlief. Sie blickte sich um und rüttelte ihn erschrocken an der Schulter. Hektisch fuhr Ariac auf.
»Die Pferde sind weg«, rief sie.
Nach einem Augenblick der Verwirrung sprang Ariac auf und rannte ein Stück in den Wald. Doch die Pferde waren tatsächlich verschwunden, man sah auch keine Spuren in dem mit Tau benetzten Gras.
Ariac lief leise fluchend herum.
»Verdammt, warum bin ich denn eingeschlafen?«, fragte er wütend. »So etwas ist mir noch nie passiert.«
»Du hättest mich wecken können«, meinte Rijana.
»Das wollte ich«, erwiderte Ariac mit gerunzelter Stirn. »Ich weiß auch nicht, ich kann mich gar nicht mehr richtig erinnern.«
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Rijana unglücklich.
Ariac hob die Schultern. »Wir werden wohl laufen müssen.«
»Warum sind die Pferde weggelaufen?«, fragte Rijana wütend. Eigentlich waren die beiden Kriegspferde sehr gut ausgebildet und blieben bei ihrem Herrn.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Ariac, nahm sein Schwert und legte sich die Satteltaschen mit dem Proviant und seine Decke über die Schulter.
»Also los.«
Rijana seufzte und machte sich daran, Ariac durch den Wald zu folgen. Alles wirkte wild und unberührt, zugleich jedoch sehr harmonisch. Jeder Stein und jede Pflanze schienen ganz einfach dort hinzugehören, wo sie waren, ob es nun die uralte Weide war, die wie ein Tor wirkte und auf eine kleine Lichtung führte, oder die zwei Buchen, die ineinander verschlungen waren und in deren Mitte ein großes Vogelnest gebaut war. Rijana und Ariac betrachteten das alles fasziniert. Sie waren von einem ganz merkwürdigen Gefühl ergriffen. Das Wasser des kleinen Bachs, an dem sie Rast machten, schmeckte wunderbar erfrischend, und die roten Beeren, die an einem Strauch wuchsen, waren wohl so ziemlich die besten, die sie jemals gegessen hatten. Trotzdem wurde Ariac nervös. Er konnte sich kaum nach der Sonne richten, denn die Bäume bildeten hier wieder ein dichtes Blätterdach.
»Ich habe keine Ahnung, wo wir hingehen«, sagte er plötzlich wütend und warf die Satteltaschen auf den Boden.
Rijana ließ sich seufzend auf einen Stein sinken. »Ich auch nicht.«
Ariac begann auf einen der hohen Bäume zu klettern, doch er kam bald wieder herunter, denn die Äste wurden weiter oben viel zu dünn. Fluchend sprang er auf den Boden und trat gegen einen Stein.
»Man kann sich nicht einmal nach dem Moos richten«, murmelte Rijana, die in ihrer Zeit in Grintal gelernt hatte, dass dort, wo das Moos am dichtesten war, Westen lag. Doch hier waren viele Bäume vollständig mit Moos bedeckt, andere überhaupt nicht.
So liefen Rijana und Ariac schließlich reichlich unüberlegt weiter, sprangen über kleine Bäche, liefen durch mal dicht, mal weit auseinander stehende Bäume und erreichten gegen Abend einen breiten Fluss, der sich seinen Weg durch das Land bahnte.
Ariac seufzte erleichtert. »Die Flüsse entspringen alle dem Donnergebirge, wir müssen nur flussaufwärts gehen.«
Rijana lächelte ihm aufmunternd zu, und sie liefen flussaufwärts, bis es dunkel wurde. Anschließend fing Ariac im Fluss eine Forelle, die sie dann auf einem kleinen Feuer grillten. Rijana lehnte am Stamm einer mächtigen Eiche, die vollständig mit Moos bewachsen war.
»Es ist schön hier«, sagte sie.
Ariac nickte, auch er fand es schön, obwohl dieser Wald für ihn als ein Kind der Steppe gewöhnungsbedürftig war. An sich bevorzugte er weites Land, das man überblicken konnte. Er setzte sich neben Rijana und beobachtete den schäumenden Fluss.
Wie schon in der Nacht zuvor erhob sich ein sanfter Wind, und ehe es die beiden bemerkten, waren sie aneinandergelehnt eingeschlafen. In dieser Nacht waren es zwei Gestalten, die durch den Wald schlichen. Sie überquerten den Fluss über eine hoch in den Bäumen hängende Leiter, die mit bloßem Auge nicht zu erkennen war, und blieben vor den beiden Menschen stehen, die so friedlich schliefen.
»Sie sehen fremdländisch aus«, sagte Bali’an mit neugierigem Blick. »Haben alle Menschen diese Zeichen um die Augen? Das Mädchen sieht ganz zerkratzt aus.«
Elli’vin schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, nur die Steppenmenschen haben die Tätowierungen, soviel ich weiß.« Dann nahm sie vorsichtig eine weiße Blume in die Hand, entlockte ihr etwas Blütensaft und strich ihn Rijana vorsichtig über das Gesicht.
»Werden sie über den Fluss kommen?«, fragte Bali’an aufgeregt.
Elli’vin schüttelte entschieden den Kopf. »Das dürfen sie nicht! Unser Reich muss geheim bleiben!«
Bali’an seufzte enttäuscht, denn er hätte gerne mehr über die jungen Leute erfahren.
»Du musst ihnen die Pferde zurückgeben«, verlangte Elli’vin streng.
»Sie mögen mich und sind freiwillig mit mir gekommen«, murmelte Bali’an beleidigt. Er hätte gerne ein eigenes Pferd gehabt, doch man hatte ihm immer wieder gesagt, dass er keines brauchte. »Nun gut, ich schicke sie bald zurück«, versprach er, als er Elli’vins missbilligendes Gesicht sah.
Damit verschwanden die beiden geheimnisvollen Wesen wieder.
Auch an diesem Morgen wunderten sich Rijana und Ariac, dass sie beide eingeschlafen waren. Ariac blickte Rijana verwirrt an und streichelte über ihr Gesicht. »Die Kratzer sind verschwunden.«
Sie fuhr sich über ihre Wangen und konnte es selbst kaum glauben.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Es passieren so seltsame Dinge.«
Den ganzen Tag wanderten sie flussaufwärts, bis das Gebüsch so dicht war, dass sie sich nur mit Mühe hindurchkämpfen konnten. Schließlich blieben sie stehen.
»Wir sollten über den Fluss gehen«, schlug Ariac vor, während er sich einen dicken Dorn aus dem Arm zog. »Auf der anderen Seite scheint es einfacher zu sein. Aber wir sollten unbedingt in der Nähe des Flusses bleiben, damit wir nicht in die falsche Richtung laufen.«
Rijana stimmte zu, und die beiden machten sich auf die Suche nach einer geeigneten Stelle, wo sie den Fluss überqueren konnten. Das stellte sich allerdings als gar nicht so einfach heraus. An den meisten Stellen war der Fluss sehr tief und reißend. Nur an einer Biegung schien das Wasser etwas langsamer zu fließen. Außerdem ragten dort Felsen aus dem Wasser heraus, die eine Überquerung erleichtern konnten.
»Hier sollten wir es versuchen«, schlug Rijana vor und blickte misstrauisch ins Wasser.
Ariac nickte und ging vorsichtig voran. Doch sobald er einen Fuß in den Fluss gesetzt hatte, erhob sich ein so gewaltiger Wind, dass die Bäume bedrohlich schwankten. Ariac blickte überrascht nach oben. Er tastete sich langsam voran, aber der Wind nahm an Stärke nur noch mehr zu. Ariac warf einen Blick nach hinten und sah, dass auch Rijana bereits im Wasser war und durch den Fluss watete. Der Wind wurde mit jedem Schritt, den sie durch den Fluss machten, heftiger. Schnell hatte sich ein ungeheurer Sturm daraus entwickelt.
»Beeil dich«, schrie Ariac über seine Schulter. Ihm wurde es langsam unheimlich. Als sie etwa in der Mitte des Flusses bei den Felsen angekommen waren, begann das Wasser zu brodeln. Urplötzlich bildeten sich Strudel um sie herum, während der Wind gespenstisch aufheulte.
Ariac zog Rijana zu sich heran und versuchte, sie beide an dem Felsen festzuhalten, während der Wind an ihren Kleidern zerrte.
»Was ist das?«, fragte Rijana ängstlich und blickte dabei in den Strudel, der ihr wie das geöffnete Maul eines Ungeheuers vorkam.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er.
Es schien keinen Ausweg zu geben. Sie konnten sich auf keinen Fall weiter in den Fluss vorwagen und waren auf dem Felsen gefangen. Der Fluss tobte und brodelte um sie herum. Sie konnten weder vor noch zurück. Aber dann, ganz plötzlich, verstummte der Wind, und auch der Fluss schien sich zu beruhigen. Rijana und Ariac glaubten, eine schattenhafte Bewegung am anderen Ufer zu sehen, die aber schnell wieder verschwunden war.
»Sollen wir weitergehen?«, fragte Rijana vorsichtig.
Ariac zögerte, denn so recht traute er der Ruhe nicht. Schließlich trat er doch vorsichtig in den Fluss, und diesmal geschah überhaupt nichts.
»Beeil dich«, verlangte er und hielt ihr die Hand hin. Die beiden mussten zwar das letzte Stück schwimmen, hatten dann aber endlich das andere Ufer erreicht. Aufatmend ließen sie sich auf der Wiese nieder.
»Das war seltsam«, sagte Ariac und legte sich neben Rijana in die Sonne, die durch die Baumkronen schien.
Sie nickte und betrachtete die Umgebung genauer. Auf dieser Seite des Flusses wirkte alles noch viel schöner, noch märchenhafter und idyllischer als auf der anderen Seite. Die Büsche und Blumen blühten strahlend schön, und ein paar Wildkaninchen hoppelten nicht weit von ihnen entfernt durch das Gras.
»Wenn ich einen Bogen hätte, dann könnte ich uns jetzt eines schießen«, sagte Ariac nachdenklich.
Rijana schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre nicht richtig, sie gehören hierher.« Eigentlich wusste sie selbst nicht, warum sie das sagte, aber sie spürte genau, dass es so war.
Als ihre Kleider einigermaßen trocken waren, gingen sie vorsichtig weiter. Der Wald blühte in den schönsten Farben. Bald wurde der Boden moosiger, und riesige Pilze waren überall zu sehen.
»Es ist doch noch gar nicht Herbst, warum gibt es denn schon Pilze?«, fragte Rijana verwirrt.
Ariac verstand das auch nicht. Seit einiger Zeit fühlte er sich beobachtet, aber immer wenn er sich umdrehte, war niemand zu sehen. Rijana schien es genauso zu gehen, denn sie hielt plötzlich Ariac fest und flüsterte: »Ich habe etwas gesehen.«
Er nickte, zog sein Schwert, und schob Rijana hinter sich. Aber erneut zeigte sich niemand. Die beiden gingen langsam weiter. Schließlich glaubten sie, dass es wohl nur ein Wildtier gewesen war.
 
Drei Tage lang wanderten sie weiter flussaufwärts. Während der nächsten Nächte schliefen sie jedoch nicht gegen ihren Willen ein. Der Wald wurde mit jedem Schritt märchenhafter. Die uralten Bäume bogen sich zu grotesken Formen. Hier und da begegneten sie Wildtieren, die nicht einmal aufschreckten und davonliefen, sondern die beiden nur still beobachteten. Nur ein einziges Mal sahen sie, wie sich etwas bewegte. Es war ein kleines, verhutzeltes Wesen mit bräunlicher Haut, das beinahe selbst aussah wie eine Wurzel, aber bevor sie es betrachten konnten, verschwand es blitzschnell in einer Höhle unter der riesigen Wurzel einer Eiche.
Rijana blieb überrascht stehen. »Das war ein Waldling!«, rief sie überrascht aus.
»Was?«, fragte Ariac, der dieses Wesen selbst noch nie gesehen hatte.
»Sie sollen früher in allen Wäldern gehaust haben«, erzählte Rijana nachdenklich. »Als ich noch sehr klein war, hat mir meine Großmutter von ihnen erzählt. Aber selbst in den Bibliotheken von Camasann stand, dass es Waldlinge schon viele Jahrhunderte nicht mehr gibt.«
»Sind sie gefährlich?«
Rijana schüttelte den Kopf. »Nein, sie ernähren sich angeblich nur von Beeren und Pilzen.«
Ariac war beruhigt, und die beiden setzten ihren Weg fort.
An einem milden Frühlingstag stießen sie plötzlich auf eine Flussgabelung. Der breite Hauptfluss verlief weiter nach Norden, doch der Arm, der nach Südosten floss, versperrte ihnen den weiteren Weg.
»Mist, wir kommen nicht weiter«, schimpfte Ariac und starrte wütend in den Fluss.
»Sollen wir durchschwimmen?«, fragte Rijana unsicher. Der Fluss schien nicht sehr breit zu sein, dafür aber umso tiefer.
»Ich befürchte es.« Mit diesen Worten warf er sein Bündel ans andere Ufer und stieg ins Wasser.
Rijana folgte ihm und biss die Zähne zusammen, denn das Wasser war eiskalt. Sie waren noch nicht sehr weit geschwommen, als das Wasser zu gurgeln und zu brodeln begann. Der eben noch ruhige Fluss schäumte plötzlich auf.
»Nicht schon wieder!«, rief Ariac und packte Rijana gerade noch am Arm, bevor sie auch schon flussabwärts gespült wurden. Das Wasser schäumte und wirbelte so kräftig um sie herum, dass beide mit voller Wucht gegen einen Felsen knallten. Rijana verlor das Bewusstsein und drückte Ariac unter Wasser. Er versuchte verzweifelt, nach oben zu kommen, aber ein Strudel zog ihn in die Tiefe. Er verlor das Bewusstsein. Das Nächste, was er undeutlich wahrnehmen konnte, war, wie ihm jemand auf den Rücken schlug, während er auf weichem Moos lag, und wie ihm dann etwas in den Mund gegossen wurde.
»Rijana?«, murmelte er und hob den Kopf. Doch dann schrak er zurück.
Ein schlankes Wesen, in den Farben des Waldes gekleidet, mit einem schmalen Gesicht und spitzen Ohren grinste ihn an.
»Ich bin Bali’an, keine Angst.«
Ariac sprang auf und tastete nach seinem Schwert, aber das lag weiter entfernt. Er sah sich hektisch um, konnte Rijana aber nirgends entdecken. Das Wesen vor ihm mit den langen hellblonden Haaren sah aus wie ein Elf.
»Wo ist meine Gefährtin?«, fragte Ariac, nachdem er den Schrecken überwunden hatte. Der Elf schien ihm nichts tun zu wollen, aber Ariac blieb wie immer misstrauisch.
Der Elf deutete nach rechts. »Ich habe sie zum Aufwärmen in die Sonne gelegt, aber es geht ihr gut.«
Ariac warf Bali’an noch einen kritischen Blick zu, dann ging er, ohne ihn aus den Augen zu lassen, zu der Stelle, wo Rijana in einer kleinen Senke im weichen Moos lag. Er kniete sich neben sie und sah, dass sie eine Beule am Kopf hatte, auf der irgendwelche zerstampften Kräuter lagen.
Ariac zuckte zusammen, als Bali’an lautlos hinter ihn trat.
»Was fehlt ihr denn?«, fragte Ariac ängstlich und hob sie etwas hoch.
Der Elf zuckte die Achseln und zeigte ein Grinsen. »Sie ist gegen den Felsen im Fluss geknallt, deshalb hat sie eben eine Beule. Aber ich habe ihr schon einige Kräuter gegeben, sie wird bald aufwachen.«
Ariac nickte und ließ sie zurück auf den Boden sinken. Der Elf musterte ihn neugierig, sodass Ariac ein wenig unwohl zumute wurde.
»Wo sind wir hier?«, fragte er.
»Im Land der tausend Flüsse«, antwortete Bali’an verwirrt, so als könne er sich nicht vorstellen, dass jemand das nicht wusste.
»Du bist ein Elf, oder?«, fragte Ariac vorsichtig.
Bali’an lachte fröhlich und ansteckend. »Natürlich. Und du, du bist wohl ein Mensch?«
Ariac nickte.
»Ich habe noch nie einen Menschen gesehen außer euch«, sagte der Elf, dann wirkte er jedoch ein wenig verlegen. »Ich muss euch schnell fortbringen, denn eigentlich dürftet ihr gar nicht hier sein.«
»Warum nicht?«, fragte Ariac.
»Es ist geheim«, antwortete Bali’an. »Ihr hättet nicht über den Fluss kommen dürfen.« Bali’an bemühte sich um ein strenges Gesicht.
»Wieso?«
Bali’an seufzte. »Hast du das nicht gemerkt? Der Fluss hat es nicht gewollt und die Bäume und der Wald ebenfalls nicht. Das hier ist Elfenland, da haben Menschen nichts verloren.« Bali’an musterte Ariac kritisch. »Die Alten haben schon immer gesagt, dass die Menschen nicht auf die Natur achten. Wie es scheint, haben sie Recht.«
Ariac schnaubte und wollte etwas erwidern, doch da wachte Rijana blinzelnd auf. Ariac hielt sie fest, als sie erschrocken zurückwich.
»Er ist ein Elf, aber er hat uns geholfen, keine Angst.«
Rijana schluckte und starrte Bali’an verwirrt an.
Der lächelte freundlich. »Tut dein Kopf weh, oder ist es schon besser?«
Sie tastete nach der Beule, verzog nur kurz das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Es tut nicht sehr weh.«
»Mein Name ist Bali’an«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
»Rijana«, erwiderte sie, und Ariac, der sich noch gar nicht vorgestellt hatte, holte dies nun nach. Doch der Elf grinste nur.
»Das weiß ich«, sagte er, »ich verfolge euch, seitdem ihr das Elfenreich betreten habt.«
Rijana und Ariac blickten sich verwirrt an. An sich hielten sich beide für gute Krieger, die bemerkten, wenn sie verfolgt wurden, aber bis auf die wenigen schattenhaften Bewegungen war ihnen nichts aufgefallen.
»Aber jetzt kommt bitte mit, sonst bekomme ich Ärger«, bat Bali’an. »Ich bringe euch zum Waldrand, dort warten auch eure Pferde.« Er seufzte. »Es sind sehr schöne Tiere.«
»Du hattest unsere Pferde?«, fragte Ariac wütend.
Bali’an nickte, fügte jedoch rasch hinzu: »Sie sind mir freiwillig gefolgt, ich konnte nichts dafür.«
Rijana und Ariac folgten dem Elfen, der leichtfüßig und scheinbar ohne den Boden zu berühren seines Weges ging.
Ariac nahm sein Schwert. »Entschuldige, dass ich dich nicht festhalten konnte«, sagte er zu Rijana, »aber dieser Stein …«
Doch sie winkte ab. »Es war nicht deine Schuld.« Dann beugte sie sich näher zu Ariac hinüber. »Ich habe noch nie einen Elfen gesehen. Meinst du, wir können ihm trauen?«
»Hätte er uns umbringen wollen, dann hätte er uns einfach ertrinken lassen können.«
Dem konnte Rijana nichts entgegensetzen, sodass sie schließlich dem Elfen folgten, der leichten Schrittes vorauslief und versuchte, die beiden auszufragen.
»Leben die Menschen wirklich in Städten und Häusern?«, fragte er neugierig. »Führen sie tatsächlich Kriege, nur um ein Stück Land oder etwas Gold?«
Die beiden nickten zögerlich, und Bali’ans Augen wurden groß.
»Aber ich konnte keine bösen Gedanken bei euch lesen, als ihr in unser Reich gekommen seid«, sagte er nachdenklich und musterte sie von oben bis unten. Er wirkte ein wenig verwirrt.
Und plötzlich deutete er hektisch auf eine Gruppe mit runden Felsen. »Schnell, versteckt euch dort«, flüsterte er.
Rijana und Ariac sahen sich verwirrt an, doch der Elf schubste sie rasch zur Seite.
»Duckt euch«, verlangte er, und die beiden gehorchten, zu verwirrt, um zu widersprechen.
»Was soll das?«, flüsterte Rijana, und Ariac spähte vorsichtig über die Steine.
Er sah, wie ein etwas größerer und kräftigerer Elf, der einen Bogen umgehängt hatte, wie aus dem Nichts aufgetaucht war und plötzlich neben Bali’an stand.
»Wo sind die Menschen?«, hörten die beiden ihn streng fragen.
»Fort«, antwortete Bali’an, konnte dem anderen Elfen dabei jedoch nicht in die Augen sehen.
»Sie wollten den Fluss überqueren. Sind sie ertrunken?«
Bali’an wand sich verlegen, und der Elf mit den strengen Gesichtszügen und den etwas dunkleren Haaren bewegte sich überraschend auf die Steine zu. Ariac sprang auf und stellte sich vor Rijana.
»Lass sie in Ruhe!«
Der Elf hielt überrascht inne. »Ein Steppenkrieger«, sagte er verwundert und warf Bali’an einen wütenden Blick zu, der näher gekommen war und den Kopf gesenkt hielt.
»Da überträgt man dir einmal eine verantwortungsvolle Aufgabe, und schon versagst du.«
»Entschuldige, Vater«, murmelte dieser, doch dann hob er den Blick. »Aber ich konnte sie doch nicht ertrinken lassen.«
Der ältere Elf, der Rijana und Ariac gar nicht zu beachten schien, schubste seinen Sohn wütend zurück.
»Du weißt genau, dass der Fluss zu unserem Schutz da ist. Wenn die Menschen zu dumm sind, um die erste Warnung zu verstehen, und dennoch weitergehen, dann müssen sie eben sterben. So ist es, und so wird es auch bleiben! Daran wird so ein dummer Junge wie du auch nichts ändern können.«
Bali’an wirkte nun wirklich wie ein kleiner Junge, obwohl er vom Aussehen her wohl in etwa so alt wie Ariac war. Doch das musste bei Elfen noch nichts heißen.
»Jetzt müssen wir sie mitnehmen, und ich muss dem König vom Mondfluss die Sache erklären«, fluchte Bali’ans Vater Dolevan und blitzte Rijana und Ariac wütend an.
»Wir wollten euch nicht stören oder euch Umstände machen«, wagte Rijana zu sagen und drückte Ariacs Hand, in der er noch immer das erhobene Schwert hatte, nach unten. Doch Ariac blieb misstrauisch.
Den Elf konnte das aber auch nicht beruhigen. »Das habt ihr aber nun.«
»Wir gehen sofort, wenn Ihr uns sagt, wie wir am schnellsten zum Donnergebirge kommen«, versicherte Ariac.
Der Elf baute sich drohend vor dem Steppenkrieger auf, der sein Schwert fester packte, was den Elfen jedoch nicht zu beeindrucken schien. »Das geht nicht, denn dann könntet ihr uns verraten.«
Ariac hielt seinem Blick stand, der Elf wandte sich schließlich ab.
»Folgt mir, und steck das Schwert weg«, verlangte er.
Ariac runzelte die Stirn, Rijana wirkte ratlos. Sie folgten dem Elfen und Bali’an, der mit hängenden Schultern hinter seinem Vater herschlich. Es war schon ziemlich dunkel, und sie liefen noch ein gutes Stück in den Wald hinein. An einer Lichtung machten sie Rast. Rijana und Ariac fiel auf, dass sie ihren Proviant und ihre Decken zurückgelassen hatten. Bali’an kam zögernd näher und reichte ihnen ein Paar Beeren, während sein Vater ein Stück entfernt mit zornigem Blick abwartete.
»Hier, nehmt die, sie sind sehr nahrhaft.«
Rijana lächelte und aß ein paar der Beeren, sodass auch Ariac zögernd zugriff.
»Dein Vater ist ziemlich wütend«, meinte sie.
Bali’an nickte und senkte den Blick. »Es war einer meiner ersten Aufträge als Späher, und schon habe ich alles falsch gemacht.«
»Wie alt bist du denn?« Er seufzte. »Erst fünfhundertzweiunddreißig Jahre alt.«
Rijana verschluckte sich. »Erst?«
Bali’an nickte betrübt. »Ich bin einer der Jüngsten.« Auch Ariac starrte ihn überrascht an. Er wusste zwar, dass Elfen viele tausend Jahre alt werden konnten, aber dass sich jemand mit fünfhundertzweiunddreißig Jahren für jung halten konnte, das fand er dann doch merkwürdig.
»Wie alt seid ihr?«, fragte Bali’an neugierig.
»Ähm, ich bin achtzehn Jahre alt«, antwortete Rijana. Bali’an riss die Augen auf. »Du bist ja noch ein Kind«, dann betrachtete er sie genauer, »aber du siehst nicht so aus.«
Sein Vater kam näher. »Das ist so bei den Menschen«, erklärte er, »und jetzt halte dich fern von ihnen.« Er gab den beiden einen Wasserschlauch. »Hier, trinkt das.«
Ariac nahm ihn zögernd an. Irgendwie traute er diesem Mann nicht. Andererseits war er zu durstig, um abzulehnen. Sein eigener Wasserbeutel lag in dem Proviantsack am Flussufer. Er trank ein paar Schlucke und reichte den Schlauch weiter an Rijana. Kurz darauf wurden beide müde. Ariac versuchte verzweifelt seine Augen aufzuhalten. Er wollte nicht einschlafen, konnte sich aber nicht dagegen wehren. Als die beiden fest schliefen, nickte Dolevan zufrieden und wandte sich an seinen Sohn. »Jetzt hol die anderen, wir müssen die Menschen in unsere Stadt bringen.«
Bali’an nickte und warf Rijana noch einen Blick zu. »Sie ist schön, obwohl sie nur ein Mensch ist«, sagte er fasziniert.
Dolevan funkelte seinen Sohn wütend an, sodass dieser rasch aufsprang und davonlief.
 
Es war heller Tag, als Rijana erwachte. Warmes Licht schien durch die Decke herein. Sie blinzelte verwirrt und bemerkte, dass sie auf einem Bett aus Moos zwischen den Wurzeln eines riesigen Baumes lag. Durch große Flechten, welche die Decke bildeten, drang Licht herein. Als Rijana sich aufrichtete, drehte sich eine hochgewachsene Gestalt zu ihr herum. Es war eine Elfe mit langen blonden Haaren und einem wunderschönen Gesicht. Sie kam näher und betrachtete Rijana eingehend. »Mein kleiner Bruder hat sich wegen euch in Schwierigkeiten gebracht.«
»Wo ist Ariac?«, fragte Rijana plötzlich erschrocken.
»Dein Gefährte?«
Rijana nickte.
»Er wird verhört.«
»Aber sie tun ihm doch nichts, oder?«, erkundigte Rijana sich ängstlich.
Die Elfe zuckte mit den Achseln. »Mein Name ist Elli’vin«, stellte sie sich anschließend freundlich vor.
»Ich heiße Rijana. Was passiert denn jetzt mit uns?«
Elli’vin hob erneut ihre schmalen Schultern, die von einem nur sehr dünnen, durchscheinenden Kleid bedeckt waren.
»Das weiß ich nicht. Der König des Mondflusses wird das entscheiden. Es ist schließlich noch nie vorgekommen, dass ein Mensch hierhergelangt ist.« Sie musterte das Mädchen mit einem seltsamem Blick. »Hattet ihr denn keine Angst, als ihr in den Wald geritten seid?«
Rijana schüttelte den Kopf. »Wir waren auf der Flucht, und mir gefiel euer Wald.«
Kurz erschien ein Lächeln auf Elli’vins Gesicht, doch dann wandte sie sich ab.
»Möchtest du etwas essen?«
Rijana nickte zögernd. »Aber nur, wenn kein Schlafmittel darin ist.«
Elli’vin grinste. »Das war nötig, damit ihr den Weg nicht erkennen könnt und am Ende flieht.«
 
Nach dem Essen, das aus frischem Quellwasser und Früchten bestand, wurde Rijana durch eigenartige unterirdische Gänge gebracht, die überhaupt nicht düster waren, sondern hell und freundlich, obwohl mächtige Wurzeln rechts und links vor ihnen aufragten. Schließlich führte Elli’vin sie in eine Höhle. Durch die Flechten, die die Decke bildeten, drang helles Licht. Ariac stand mit angespanntem Gesicht vor einer Gruppe Elfen, die ihn mehr oder weniger wütend ansahen. Als er Rijana erblickte, entspannten sich seine Gesichtszüge ein wenig.
Aus einer Öffnung am hinteren Ende des Raumes sprudelte eine kleine Quelle, und bizarre Tropfsteine hatten sich hier und da gebildet.Viele waren als Stühle oder Tisch umgeformt worden. Rijana verharrte einen kurzen Augenblick staunend, bevor sie verunsichert zu Ariac hinüberging, der beruhigend ihre Hand nahm.
»Dieser junge Mann hier hat sich hartnäckig geweigert, einen Ton zu sagen, bevor er weiß, dass es dir gut geht«, tönte die Stimme eines Elfen durch den Raum. Es handelte sich um Dolevan, den Vater von Bali’an.
Ein sehr hochgewachsener Elf mit weißblonden Haaren trat plötzlich in die Höhle. Alle anderen Elfen erhoben sich respektvoll von ihren steinernen Stühlen. Er strahlte unglaubliche Weisheit aus. Eigentlich sah keiner der Elfen alt aus, aber dieser hier wirkte so alt und mächtig wie die Steine dieser Höhle.
»Ich bin Thalien, der König vom Mondfluss.«
Auf Rijana wirkte dieser Elf furchteinflößend, obwohl sein Blick zugleich irgendwie melancholisch und gütig schien. An irgendetwas erinnerten sie seine Augen.
Thalien musterte die beiden Menschen eindringlich und kam näher. Rijana brauchte alle Kraft, um nicht zurückzuweichen, und sie spürte, wie auch Ariac sich anspannte.
Der König vom Mondfluss nahm Rijanas Hand in seine, und plötzlich veränderte sich etwas. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
»Ich kenne dich«, sagte er mit seiner melodischen Stimme und blickte ihr tief in die Augen.
»Das … das kann aber nicht sein«, stammelte sie. »Ich habe noch nie einen Elfen gesehen.«
Der Elf lächelte nur und sah zu Ariac hinüber. »Und dich auch. Ihr braucht diese beiden Menschen nicht zu bewachen«, sagte er bestimmt zu den anderen Elfen. »Sie sind meine Gäste.«
Er wandte sich nun wieder Rijana und Ariac zu, die sich verständnislos ansahen. »Würdet ihr mir die Ehre erweisen, mir zu folgen?«
»Haben wir eine Wahl?«, fragte Ariac gereizt.
Rijana hielt die Luft an, doch Thalien lächelte nur sein melancholisches Lächeln und lief mit geschmeidigen, schwebenden Schritten ihnen voran eine Felsentreppe hinauf. Sein langes helles Seidengewand glitt lautlos über die Stufen.
»Verstehst du das?«, flüsterte Rijana, die neben Ariac herlief.
Er schüttelte den Kopf, und die beiden traten hinter Thalien an die frische Luft hinaus. Der Elf atmete befreit auf.
»Ich mag die unterirdischen Räume nicht«, sagte er.
Die drei standen nun in einer Art Felsengarten. Wunderschöne Blumen blühten überall. Aus einem kleinen Hügel plätscherte eine Quelle, um die herum Libellen tanzten. Der König vom Mondfluss führte die beiden zu einem flachen Stein und bedeutete ihnen, sich zu setzen. Ariac legte Rijana seinen Arm besitzergreifend um die Schultern. Er traute den Elfen nicht, aber er traute ohnehin kaum jemandem.
Der Elf musterte sie eine ganze Weile durchdringend, und den beiden wurde mehr als unbehaglich zumute.
»Es war ein Fehler, dass ihr das Elfenreich betreten habt«, begann er plötzlich.
»Das war keine Absicht«, erwiderte Ariac ungehalten. »Wir wurden verfolgt und sind in den Wald geflüchtet. Wir wollten nur in Richtung des Donnergebirges.«
Thalien seufzte. »Menschen verstehen die Warnungen nicht.«
Ariac sprang plötzlich wütend auf. »Warum habt ihr uns überhaupt in den Wald eingelassen, wenn uns euer verdammter Fluss dann doch beinahe umgebracht hätte?«
Thalien beachtete ihn nicht weiter und erklärte: »Es ist vielleicht eine Sentimentalität, aber wir gewähren denen, die reinen Herzens sind, Zuflucht in unseren Wäldern.« Er blickte die beiden ernst an. »Hättet ihr etwas Böses im Schilde geführt, hättet ihr den Wald nicht betreten können.«
Ariac runzelte die Stirn und setzte sich wieder.
»Aber warum durften wir dann nicht über den Fluss?«, fragte Rijana.
Der Elf seufzte. »Das Land der tausend Flüsse ist die letzte Zuflucht der Elfen.« Sein Blick wurde traurig. »Die Menschen zerstören so viel und drängen die zurück, die sich nicht ihren Vorstellungen anpassen. Daher lassen wir niemanden in unser Reich, der Fluss beschützt uns. Wäre Bali’an nicht gewesen, wäret ihr beiden jetzt tot.«
»Ich wusste gar nicht, dass es noch Elfen gibt«, murmelte Rijana.
Thalien lächelte erneut traurig. »Ja, und das ist wohl auch gut so. Wir leben hier in den Wäldern, denn die Menschen denken, dass sie nicht viel wert sind, da es hier keine Bodenschätze oder fruchtbares Ackerland gibt. Früher lebten wir in ganz Balmacann.« Seine Augen sahen traurig aus, während sie tief in die Vergangenheit zu blicken schienen.
Rijana und Ariac sahen sich verwirrt an. Davon hatten sie noch nie gehört.
»Aber warum seid ihr gegangen?«, fragte Ariac vorsichtig.
Thalien blickte wieder auf. »Es ist schon so lange her«, sagte er seufzend. »Über zweitausend Jahre bevor ihr mit eurer Zeitrechnung begonnen habt. Damals gab es nur sehr wenige Menschen in den Reichen. Wir Elfen lebten im gesamten südlichen Teil. Riesige Wälder bedeckten ganz Balmacann, aber es gab auch Weiden für die Pferde.«
Rijana und Ariac waren verwirrt, in Balmacann gab es heutzutage kaum noch Wald.
»Die Menschen kamen aus dem Norden, wir hatten nichts gegen sie«, sagte der Elf traurig. »Wir teilten das, was das Land hergab. Dann entdeckten sie unsere Silberminen auf Silversgaard.«
»Eure Minen?«, fragte Ariac verwirrt.
Thalien nickte. »Die Elfen stellten aus dem Silber des Berges Schmuck und später auch Waffen her. Aber wir nahmen nur das, was der Berg uns freiwillig gab.« Er wurde wütend. »Doch dann kamen die Menschen. Sie rissen den Stein gewaltsam auf, nahmen mehr und mehr und beanspruchten die Insel für sich.«
»Warum habt ihr euch nicht gewehrt?«, fragte Ariac verwirrt.
»Das taten wir«, antwortete Thalien. »Aber zu dieser Zeit waren wir Elfen kein Kriegervolk. Wir lebten in Frieden miteinander. Nach und nach drängten uns die Menschen immer mehr zurück. Sie rodeten das Land, bauten ihre Häuser und Straßen, und wir wichen nach Osten zurück.« Er seufzte. »Es kam der Schattenkrieg, und wir wussten, dass nicht alle Menschen schlecht waren. Also halfen wir ihnen, gegen Orks, Trolle und den Zauberer Kââr zu kämpfen. Der lange Winter folgte, denn die Welt war aus den Fugen geraten, und als wir uns wieder zeigten, war unsere Hilfe schon lange vergessen. « Bei diesen Worten sah er sehr traurig aus. »Halb Balmacann war abgeholzt worden, und nur noch unser Schloss in Tirman’oc stand. Der Wald hat es in der Zeit bewahrt, in der wir Elfen uns weit in den Osten zurückgezogen haben, da es dort etwas weniger kalt war. Die Menschen haben unser ganzes Reich zerstört.«
Rijana riss erschrocken die Augen auf. Tirman’oc – dort war sie als kleines Mädchen mit Rudrinn gewesen, traute sich jedoch nicht, das zu sagen. Aber Thalien wusste ohnehin Bescheid, er lächelte. Das kleine Mädchen von damals hatte sich sehr verändert, aber er sagte nichts weiter dazu.
»Trotzdem verstehe ich das alles nicht«, warf Ariac ein. »Elfen sollen doch gute Krieger sein, die auch magische Fähigkeiten besitzen. Warum habt ihr euch von den Menschen so sehr zurückdrängen lassen?«
Der Elf lächelte. »Die Steppenleute habe ich von allen Menschen immer am liebsten gemocht. Sie leben im Einklang mit der Natur und nehmen nur das, was sie auch wirklich benötigen.«
Ariac blickte überrascht auf. Er kannte kaum jemanden, der die Steppenleute mochte.
»Aber um auf deine Frage zu antworten«, fuhr Thalien fort, »warum sollen wir kämpfen? Die Menschen zerstören sich ohnehin gegenseitig. Wir müssen nur abwarten, bis das Zeitalter der Menschen vorüber ist. Wir Elfen leben sehr lange, da bedeuten ein paar hundert Jahre nichts.«
Erneut blickten sich Rijana und Ariac überrascht an. So etwas konnten sie als Menschen kaum begreifen.
»Eines Tages«, sagte der Elf, »werden wir alles zurückbekommen.«
Rijana lief ein Schauer über den Rücken.
»Und wann?«
Thalien hob die Schultern. »Vielleicht in einhundert Jahren, vielleicht auch erst in dreihundert Jahren, oder aber schon im nächsten Sommer, ich weiß es nicht.« Er zog seinen Umhang um sich. »Die Welt verändert sich schon seit langem. Die Natur schreit auf. Die Erde bebt. Es gibt gewaltige Stürme. Selbst die Zwerge kommen aus den nördlichen Bergen ins Donnergebirge, denn die Vulkane haben begonnen Feuer zu speien, und immer mehr dieser finsteren Wesen treiben sich dort oben herum.«
Rijana und Ariac stellte sich bei diesen Worten die Gänsehaut auf.
Der Elf lächelte. »Ihr könnt die Zeichen wahrscheinlich nicht deuten, denn ihr seid Menschen, aber das sind alles Hinweise, die auf einen Wandel hindeuten.«
Eine Weile sprach niemand, doch dann fragte Rijana mit leiser Stimme: »Warum habt Ihr gesagt, dass Ihr uns kennt?«
Der Elf lächelte und blickte ihr direkt in die Augen. »Ich kenne nicht Rijana, die Kriegerin aus Camasann. Aber ich kannte dich in vielen Leben vorher. Von der ersten Schlacht an, als dein Name Lenya war, und in all den vielen Leben danach.«
Rijana riss erschrocken die Augen auf. »Ihr wisst, wer wir früher waren?«
Der Elf nickte. »Viele Male wart ihr bei uns und habt uns um Hilfe gebeten.« Er blickte Ariac an. »In der ersten Schlacht warst du Norgonn.«
Nun wurde Ariac ein wenig bleich, denn Norgonn war einer der stärksten Krieger gewesen, der am Ende den bösen Zauberer Kââr getötet hatte.
Auch Rijana blickte ihn zugleich bewundernd und entsetzt an.
Der Elf lächelte. »Es wundert mich nicht, dass ihr euch mögt, denn Rijana war in ihrem letzten Leben ein Mädchen aus der Steppe.«
Sie schluckte, dachte kurz an die vielen Lehrstunden in Geschichte und fragte unsicher: »Nariwa?«
Thalien nickte. »Ja, aber, was passiert jetzt mit uns?«, wollte Rijana wissen.
»Normalerweise«, gab Thalien zu, »wenn ihr nicht zwei der Sieben gewesen wärt, hätten wir euch den Rest eures Lebens gefangen halten müssen, um unser Versteck nicht zu verraten. Doch ich setze eine gewisse Hoffnung in euch.« Er hielt inne. »Vielleicht könnt ihr dieses Mal alles zum Guten kehren und helfen, die zu retten, die es wert sind. Ihr müsst zusammenhalten. Berichtet mir von den anderen.«
»Deshalb gehen in den Ländern die Gerüchte um, dass die Wälder verflucht sind«, murmelte Rijana vor sich hin. »Viele Menschen sind nie wieder aufgetaucht, die in die Wälder gegangen sind.«
Anschließend erzählte hauptsächlich Rijana von ihren Freunden. Ariac hörte angespannt zu, als Rijana erwähnte, dass er bei König Scurr ausgebildet worden war.
Der Elfenkönig nahm Ariacs Hand, doch dieser wich instinktiv zurück.
»Er hat deinen Geist nicht gebrochen«, sagte der Elf ernst, »aber in dir ist so viel Hass, den du überwinden musst.«
Ariac bemerkte nur bitter: »Außer Rijana hassen mich alle. Und ich bin mir nicht einmal sicher, dass nicht doch die Krieger von Camasann meinen Clan umgebracht haben.«
Rijana wollte empört widersprechen, doch Thalien war schneller: »Mir ist nicht bekannt, dass die Steppenleute ermordet worden wären. Ich weiß nur, dass momentan Jagd auf sie gemacht wird. Aber die Steppenleute sind klug, sie kennen und lieben ihr Land, und es beschützt sie.«
Ariac sprang auf. In seinem Gesicht zeichnete sich Hoffnung und Unglauben ab.
»Ich befürchte nur, dass du es erst mit deinen eigenen Augen wirst sehen müssen, um es auch glauben zu können«, fügte der alte Elf hinzu. Anschließend stand er auf. »Das waren sehr viele Neuigkeiten für euch. Ich denke, ihr solltet sie erst einmal verkraften.« Er deutete auf die dicke Eiche. »Dort oben haben wir zwei Zimmer für euch hergerichtet. Ich gehe davon aus, dass ihr unsere Gastfreundschaft nicht missbraucht, indem ihr zu fliehen versucht. Zu gegebener Zeit werden wir euch aus unserem Land geleiten.«
Damit verschwand der Elf und war schon wenige Augenblicke später eins mit dem Wald geworden. Rijana kniff die Augen zusammen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie in ihr Quartier auf dem Baum kommen sollte, aber darüber wollte sie sich jetzt auch keine Gedanken machen. Thalien hatte so viele verwirrende Dinge erzählt, dass sie ganz durcheinander war.
Vorsichtig trat sie zu Ariac, der mit starrer Miene in den Wald blickte. Auch ihn schien es zu beschäftigen.
»Ariac, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie und berührte ihn leicht.
Er zuckte überrascht zusammen und nickte kurz.
Die beiden saßen noch lange in Gedanken versunken unter den Bäumen, bevor Bali’an angelaufen kam und fröhlich fragte, ob sie mit ihm zum Essen gehen wollten.
Sie folgten dem jungen Elf zu einer Lichtung, wo etwa zwanzig Elfen im weichen Moos beisammensaßen und sie anstarrten. Das Misstrauen in ihren Augen war Neugier gewichen. Verschiedene Pilze wurden gereicht, dazu Wein aus den orangefarbenen Blüten eines Baumes, der ganz in der Nähe wuchs. Bali’an erklärte ihnen alles mit Feuereifer, doch besonders Ariac starrte nur stumm in seinen Teller und hatte keinen Hunger. Er musste über so vieles nachdenken.
Nach dem Essen kam der König vom Mondfluss dazu. Er nickte Rijana zu: »Wirst du mich begleiten?«
Sie zögerte, doch Ariac war bereits aufgesprungen und hatte sich vor sie gestellt. »Nein, nur wenn ich mit ihr gehen kann.«
Der Elf lächelte beschwichtigend. »Es ehrt dich, dass du auf sie aufpassen möchtest, aber ihr wird nichts geschehen.«
Rijana trat vor. Sie wusste nicht warum, aber sie hatte das Gefühl, dass sie dem Elfen vertrauen konnte.
Ariac zögerte. Er wollte Rijana nicht gehen lassen. Aber er wusste, dass er allein gegen die vielen Elfen ohnehin keine Chance hatte. Nicht einmal die Tatsache, dass er Thondras Sohn und in Ursann ausgebildet worden war, änderte daran etwas. Aus alten Geschichten der Arrowann wusste er, dass Elfen über magische Fähigkeiten verfügten.
»Wir sind zurück, bevor der Mond aufgegangen ist«, versprach Thalien, und Ariac gab zögernd nach.
Rijana warf ihm noch einen aufmunternden Blick zu, bevor sie dem hochgewachsenen Elfen durch den uralten Wald folgte. Bald erreichten sie einen Platz, an dem große Monolithen standen. In ihrer Mitte war eine riesige Esche zu sehen. Ihre uralten Wurzeln wölbten sich über den Waldboden.
»Als ich noch sehr jung war«, erklärte Thalien nachdenklich, »da war dieser Baum noch ganz klein, und neben ihm stand eine noch sehr viel mächtigere Esche.«
Rijana blickte auf einen Baumstumpf, von dem kaum mehr etwas zu sehen war. »Wie alt seid Ihr denn?«, wagte sie vorsichtig zu fragen.
»8352 Jahre, ungefähr zumindest«, antwortete Thalien lächelnd.
Rijana staunte. Ihr war klar gewesen, dass der Elf sehr alt sein musste, wenn er die erste Schlacht der Sieben miterlebt hatte, doch nun diese Zahl zu hören verblüffte sie ungemein.
Er strich mit der Hand sanft über den Boden. Plötzlich schob sich ein moosbewachsener Stein lautlos zur Seite. Eine Öffnung gab den Blick auf eine Vielzahl von Stufen frei.
»Ich mag diese unterirdischen Gänge und Höhlen nicht sonderlich«, murmelte der Elf entschuldigend. »Aber sie dienen unserer Sicherheit, falls die Menschen oder irgendwelche finsteren Wesen in unsere Wälder eindringen sollten.«
Rijana folgte Thalien hinab in die Tiefe. Der Weg wirkte zuerst sehr dunkel, fast bedrückend, aber schon nach kurzer Zeit standen sie in einer Höhle, die von magischem Licht beleuchtet wurde. Prachtvolle Elfenschwerter, Rüstungen, Schmuckstücke, Becher und vieles andere wurde hier gelagert. Rijana hielt überrascht und fasziniert inne. Selbst im Schloss von König Greedeon hatte sie nicht so viele beeindruckende Gegenstände auf einmal gesehen. Thalien ging zielstrebig auf eines der Schwerter zu und hob es hoch. Rijana stockte der Atem – es war eines der sieben Schwerter, prächtig gearbeitet und mit Runen verziert.
Thalien trat näher und reichte es ihr. »Das ist deines.«
Sie nahm das perfekt ausbalancierte Schwert entgegen und spürte gleich, dass es so war, wie der Elf gesagt hatte. Dieses Schwert war das ihre, daran gab es keinen Zweifel.
»Woher habt ihr es?«, fragte sie heiser.
Thalien lächelte traurig. »Damals bei der Schlacht um Catharga gab es hohe Verluste. Und wie du sicher weißt, haben die Wesen der Finsternis damals gesiegt.« Er seufzte. »Wir hatten uns in den Bergen versteckt, sodass wir sehen konnten, wie aussichtslos die Schlacht war. Als der Kampf dann beendet war, konnten wir noch einige Menschen retten. Wir wollten uns zwar nicht einmischen, aber wir können einfach nicht aus unserer Haut, wir sind nun einmal die Bewahrer des Lebens.« Er wirkte traurig. »Du warst tot, so wie all deine Freunde. Also nahmen wir dein Schwert, damit es nicht in die Hände des Königs fallen konnte, der damals über Ursann herrschte.«
Rijana strich vorsichtig und ehrfürchtig über die silberne Klinge. Es fühlte sich gut an, dieses Schwert in der Hand zu halten.
»Meint Ihr«, fragte sie und blickte zu dem Elfen auf, »dass es eines Tages möglich sein wird, dass Menschen, Elfen und alle anderen Völker in Frieden miteinander leben können?«
Der alte Elf lächelte traurig. »Das weiß ich nicht.«
»Wird es wieder einen Verräter geben?«
Thalien legte seinen Arm um sie. »Das kann ich dir nicht sagen, aber wahrscheinlich wird es so sein.«
Rijanas Augen blitzten plötzlich trotzig auf. »Aber Ariac wird uns nicht verraten! Er ist kein schlechter Mensch!«
Der Elf lächelte. »Es ist schön, dass du ihm so vertraust. Er wird Freunde wie dich brauchen können, damit man ihm glaubt.«
»Dann denkt Ihr auch nicht, dass er uns verraten wird?«
Thalien hob die Schultern. »Dein Herz wird dir den richtigen Weg weisen.« Er betrachtete sie eindringlich. »Nur eines kann ich dir sagen. Der letzte Verräter war Slavon, und dies ist keiner von Ariacs früheren Namen.«
Rijana wurde sehr nachdenklich. »Und welcher meiner Freunde war Slavon?«
»Das könnte ich dir erst sagen, wenn ich ihn vor mir stehen sähe«, sagte der alte Elf bedauernd.
»Danke für das Schwert«, meinte sie leise.
Anschließend gingen sie durch die Abenddämmerung zurück und trafen auf Ariac, der bereits ungeduldig wartete. Er bestaunte das Schwert, und allmählich begann er zu glauben, dass die Elfen ihnen wirklich nichts Böses wollten. Zusammen mit Rijana stieg er über eine Strickleiter aus Lianen den Baum hinauf, in dessen dicke Äste ein Baumhaus aus Blättern und Zweigen gebaut worden war. Ariac wünschte Rijana eine gute Nacht, konnte jedoch selbst kaum einschlafen.
 
Am folgenden Tag kam Thalien zu ihnen und meinte, dass sie erst in drei Tagen würden aufbrechen können. Ein Sturm tobe im nördlichen Teil des Landes, sodass es besser sei, wenn sie noch ein wenig warteten. Bali’an brachte ihnen ihre Pferde. Die Stute und der Hengst wieherten erfreut, als sie ihre Herren sahen. Rijana ging zu Lenya und streichelte sie zärtlich. »Jetzt weiß ich zumindest, warum ich dich Lenya genannt habe.«
»Der Name aus deinem früheren Leben war wohl in deinem Unterbewusstsein«, sagte Thalien, der unbemerkt hinter sie getreten war.
Bali’an lächelte und murmelte anschließend etwas betrübt: »Ich würde euch zu gerne die Pferdeherden zeigen, die weiter im Osten grasen, aber ich habe ja leider noch kein eigenes Pferd.«
Thalien trat zu dem jüngeren Elfen und zog ihn an seinen spitzen Ohren. »Du wirst auch noch deine Ausbildung bei den Pferdeherden erhalten, Bali’an. Sei nicht so ungeduldig!«
Ariac hatte Rijanas begeistertes Gesicht gesehen, und er hatte eine Idee: »Wenn du möchtest, dann kannst du auf Nawárr reiten und Rijana die Pferde zeigen«, bot Ariac an und wandte sich Thalien zu. »Ich würde gerne noch einmal mit Euch reden.«
Thalien nickte huldvoll, und Bali’an rief sogleich aufgeregt: »Darf ich?«
Der König vom Mondfluss stimmte zu, woraufhin Bali’an gleich behände auf den Hengst sprang und vor Begeisterung laut auflachte. Schnell galoppierte er durch den Wald, sodass selbst Rijana Schwierigkeiten hatte, dem Elfen zu folgen, der so selbstverständlich auf dem Pferd saß, als wäre er dort oben geboren worden. Sie ritten über sonnige Lichtungen, an kleinen Bächen und großen Seen vorbei. Dann, als der Tag bereits weit fortgeschritten war, hielt Bali’an an einer Klippe an. Rijana, die atemlos neben ihm stoppte, konnte ihren Augen kaum trauen. Auf unglaublich grünen Weiden graste eine Herde von weit über dreihundert Pferden. Alle waren sehr filigran und unglaublich edel.
»Das sind unsere Elfenpferde«, erklärte Bali’an stolz, während er Nawárrs Hals streichelte. »Aber eure Pferde sind auch nicht so schlecht.«
Rijana blickte noch immer fasziniert auf die Herde, die einträchtig über die Wiesen zog.
»Wir brauchen leider nicht sehr viele Pferde«, seufzte Bali’an bedauernd. »Deswegen sind immer nur zehn oder zwanzig Elfen damit beauftragt, auf die Pferde zu achten.«
»Und wo sind die Elfen?«, fragte Rijana verwirrt.
Bali’an grinste und deutete ins Tal. »Sie stehen zwischen den Bäumen. Dort, ganz am Ende des Tals, das ist mein Cousin.« Er hob freudig die Hand.
Rijana kniff die Augen zusammen, konnte jedoch beim besten Willen nichts erkennen.
 
Währenddessen gingen Ariac und der König vom Mondfluss langsam durch die Wälder. Ariac hatte so viele Fragen, wusste jedoch nicht, wie er beginnen sollte. Schließlich blieb der alte Elf stehen. »Was hast du nun auf dem Herzen, mein Junge?«
Ariac seufzte und blickte zu Boden. »Glaubt Ihr wirklich, dass mein Volk noch am Leben sein könnte?«
Thalien runzelte die Stirn. »Ich möchte dir nichts Falsches sagen, aber ich denke, mir wäre zu Ohren gekommen, wenn das Steppenvolk ausgelöscht worden wäre.«
Ariac nickte, doch dann sagte er stockend: »Aber dieser Mann … Er nannte den Namen meines Clans …«
Der alte Elf ergriff Ariacs Arm. »Meinst du nicht, König Scurr könnte dich getäuscht haben?«
Ariac zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass er nicht unbedingt das ist, was man einen guten Menschen nennt, aber er war zumindest nicht so gemein zu mir wie Worran.«
Thalien lächelte milde. »Weißt du, ich glaube, genau darin liegt ihre Macht. Worran quält die jungen Krieger, indem er sie bis an ihre Grenzen und weit darüber hinaus treibt. Erst dann kommt Scurr. Furchteinflößend und charismatisch zugleich gibt er jedem Einzelnen das Gefühl, wichtig und bedeutend zu sein. Sicherlich hat er behauptet, dass er sich nur das nimmt, was ihm zusteht, nicht wahr?«
»Kennt Ihr ihn?«, fragte Ariac überrascht.
Der Elf schüttelte den Kopf. »Nein, nicht persönlich, aber ich kenne den, der ihn beherrscht. Es ist Zauberer Kââr, der schon immer alle Reiche unter seiner Herrschaft haben wollte.«
»Aber wie konnte er überleben?«, fragte Ariac verwundert.
»Es ist nur sein Geist, der in Ursann ruhelos umherzieht. Kââr war ein sehr mächtiger Zauberer, und als du ihn damals, nun ja, eben in einem anderen Leben, getötet hast, da konnte er zwar seinen Körper nicht retten, doch sein Geist blieb in den Bergen von Ursann.«
»Und warum hat er mich dann nicht erkannt?«, fragte Ariac gespannt.
Thalien seufzte. »Das weiß ich nicht. Vielleicht ist diese Gabe einem Menschen nicht geschenkt. Vielleicht hat er dich auch erkannt und wollte es nicht preisgeben.« Der Elf sah ihm eindringlich in die Augen. »Aber wenn du ihm noch einmal begegnest, dann sei auf der Hut. Jetzt bist du in seinen Augen zum Verräter geworden. Er wird dich verfolgen und töten.«
Ariac blickte den Elfen nachdenklich an. »Ist es möglich, diesen Geist zu besiegen?«
Thalien nickte bedächtig. »Ja, das ist es, aber dafür musst du dein Schwert wiederfinden. Wenn du es hast, dann bringe es zu mir, und ich werde einen Elfenzauber darauf sprechen.«
»Aber wo ist mein Schwert?«, fragte Ariac. »Rudrinn hat seines auch noch nicht.«
Thalien hob die Schultern. »Eines ist verschollen, es war das von Dagnar«, sagte der Elf und blickte ihn eindringlich an.
»War … war ich das?«, fragte er verwirrt.
Thalien lächelte nur. »Vielleicht wirst du dich eines Tages daran erinnern.«
»Dann werde ich in die Steppe gehen und anschließend entscheiden, was ich als Nächstes tun werde«, sagte Ariac und ging mit dem König vom Mondfluss zurück zum Lager der Elfen. Auch Rijana war bereits dort und erzählte begeistert von den wunderschönen Elfenpferden, die sie gesehen hatte. Ariac hörte ihr wohlwollend zu. Er hoffte, dass er sie nicht irgendwann in ernsthafte Gefahr bringen würde.
 
In Balmacann lief währenddessen die Suche nach Ariac und Rijana fieberhaft weiter. Falkann war beinahe Tag und Nacht unterwegs, doch jede Spur war ins Leere verlaufen. Die Soldaten, die Rijana und Ariac in die verfluchten Wälder des Ostens hatten verschwinden sehen, waren sich nicht ganz sicher gewesen, ob es tatsächlich die Gesuchten gewesen waren. Falkann war der Einzige, der sich in den Wald hineinwagte, aber er schaffte es nicht einmal, bis zum Fluss durchzudringen. Die Bäume und Büsche schienen ihn hinausdrängen zu wollen.
Zehn Tage nach der Flucht der beiden kehrte er schmutzig, müde und resigniert zurück. Brogan war mittlerweile nach Camasann zurückbeordert worden, doch er hatte selbst Hawionn nichts verraten.
Als Falkann heimkehrte, kam ihm Saliah entgegen und umarmte ihn freundschaftlich. »Gib es doch endlich auf, sie sind sicher schon weit fort.«
Falkann schnaubte nur und fuhr sich übers Gesicht. »Wenn ihr durch seine Schuld etwas passiert, dann bringe ich ihn um«, sagte er wütend. Aber insgeheim hatte er noch immer ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil er Ariac falsch beschuldigt oder das Missverständnis zumindest nicht aufgeklärt hatte.
»Ich verstehe ja auch nicht, warum Rijana uns nicht mehr geglaubt hat als ihm«, sagte Saliah nachdenklich und zog Falkann mit sich in das prunkvolle Schloss, wo er sich zunächst einmal ein heißes Bad gönnte.
König Greedeon war unterdessen außer sich vor Wut. Er hatte seinen Boten an König Scurr nicht mehr abfangen können. Selbst wenn er wollte, könnte er sein Angebot, Ariac auszuliefern, gar nicht einhalten. Er hoffte inständig, dass Scurr von vornherein ablehnte. Außerdem war Greedeon aufgebracht wegen dieses hübschen Mädchens aus Camasann. Rijana musste dem Jungen zur Flucht verholfen haben, allein hätte er das nicht schaffen können. Wo sie allerdings den Schlaftrunk her hatte, war ihm ein Rätsel. Trotz allem musste König Greedeon aber zumindest nicht befürchten, angegriffen zu werden, denn Scurr beschäftigte sich momentan hauptsächlich mit den nördlichen Königreichen, die er mit Terror überzog. Balmacann war fürs Erste nicht gefährdet. Die Silberminen auf der Insel Silversgaard brachten zudem reiche Erträge, und die Bauern und Lords zahlten immer noch pünktlich ihre Steuern. Außerdem hatte er wenigstens noch fünf der sieben Kinder Thondras in seiner Obhut.
 
Falkann trat müde in das große Kaminzimmer, wo seine Freunde bereits versammelt saßen und ihn mitleidig ansahen.
»Falkann, gib es auf! Rijana hat sich gegen uns entschieden.« Broderick sprach als Erster.
Doch Falkann schüttelte den Kopf und ließ sich in einen der weichen Sessel plumpsen.
»Komisch, eigentlich habe ich Ariac vertraut«, meinte Tovion nachdenklich.
»Er ist eine von Scurrs Ratten«, fuhr Falkann ihn wütend an, und die anderen blickten zu Boden. Eigentlich war es ihnen ebenso gegangen wie Tovion, aber da Ariac geflohen war, musste er wohl schuldig sein.
In den folgenden Tagen hatten sie nicht mehr sehr viel Zeit, sich Gedanken um Ariac oder Rijana zu machen, denn sie wurden nach Silversgaard beordert. König Scurrs Soldaten machten die Küste unsicher, indem sie immer wieder Frachtschiffe angriffen, die in Richtung Festland fuhren. Als sie aber sahen, unter welchen Umständen Greedeons Minenarbeiter leben und arbeiten mussten, waren sie entsetzt. König Greedeon versicherte ihnen allerdings schnell, dass die Arbeiter nichts anderes verdient hätten, weil sie nur Verbrecher waren, die ihre Strafe abarbeiten mussten.
 
Inzwischen hatte sich der Sturm im Norden gelegt, sodass Rijana und Ariac schließlich aufbrechen konnten. Bali’an bearbeitete seinen Vater und auch den König vom Mondfluss, dass er die beiden begleiten durfte, aber weiter als bis an den Rand des Reiches der tausend Flüsse durfte er nicht gehen. Rijana und Ariac wurde das Versprechen abgenommen, niemandem etwas von den Elfen zu sagen.
»Wenn ihr jemals zurückkehren solltet oder Hilfe von uns benötigt«, sagte Thalien zum Abschied, »dann stellt euch ans Ufer des Mondflusses und ruft meinen Namen.«
Die beiden nickten und bedankten sich. Sie waren nun dem Donnergebirge ganz nahe. Die hohen Berge ragten über ihnen auf. Thalien hatte ihnen den Weg erklärt.
Er holte noch zwei Bündel heraus. »Hier sind neue Elfenmäntel für euch«, sagte er, »die alten haben ein wenig von ihrer Zauberkraft eingebüßt. Diese werden euch selbst noch trocken halten, wenn es mehrere Tage lang regnet.«
»Wir hatten Elfenmäntel?«, fragte Rijana voller Staunen.
»Man hat sie uns vor langer Zeit gestohlen, als wir aus Balmacann vertrieben wurden.« Thaliens Stimme klang traurig.
Rijana gab ihm den Mantel zurück. »Dann will ich ihn nicht! Ich möchte nichts, was man euch gestohlen hat.«
Doch der Elf drückte beruhigend ihre Hand. »Ihr wusstet nicht, dass sie gestohlen waren, und wahrscheinlich weiß es nicht einmal mehr euer Lehrmeister, dieser Zauberer Hawionn. Dies ist ein Geschenk, das wir euch gerne machen.«
»Danke«, sagte Rijana und strich über den weichen Umhang.
Bali’an verabschiedete sich ebenfalls. Er wirkte betrübt und streichelte die beiden Pferde noch einmal.
»Ich wäre gerne mit euch gegangen«, murmelte er. Doch Thalien schüttelte entschieden den Kopf. »Du bist noch viel zu jung.«
Er plusterte sich empört auf. »Die beiden sind viel jünger als ich.«
»Sie sind Menschen«, erwiderte der König vom Mondfluss entschieden.
Bali’an seufzte und wünschte viel Glück. Auch Ariac bedankte sich noch, bevor sie aus dem Wald hinaus über eine grüne Ebene ritten. Der junge Elf winkte ihnen lange hinterher, bis auch er Thalien folgte, der in seinem Umhang schon nicht mehr erkennbar war.
 
»Ich kann nicht fassen, dass die Umhänge gestohlen waren.« Rijana wollte einfach nicht glauben, dass die Zauberer das nicht gewusst hatten.
Ariac zuckte die Achseln. »Wie mir scheint, ist auch Zauberer Hawionn mit etwas Vorsicht zu genießen.«
»Aber Brogan nicht«, sagte Rijana entschieden, »der ist ehrlich.«
Ariac seufzte. Er wusste gar nicht mehr, wem er trauen konnte und wem nicht.
Am nächsten Abend sahen sie die ersten Ausläufer des Gebirges. Thalien hatte ihnen den besten Weg durch die Berge beschrieben. Sie sollten sich an einen Pass halten, der sie direkt zu den nördlichen Ebenen jenseits des Gebirges führte.
An diesem Abend, als sich die beiden gerade ihr Abendessen auf einem kleinen gut geschützten Feuer gemacht hatten, begann die Erde zu beben. Die Pferde stoben erschrocken davon, und Rijana und Ariac hielten sich an einem der vielen Felsen fest, die das Land übersäten. Es hörte jedoch ebenso plötzlich auf, wie es gekommen war.
Ariac blickte Rijana an. »Vielleicht haben die Elfen doch Recht? Es gibt so viele Erdbeben in letzter Zeit«, meinte er nachdenklich.
Sie musste an die Erdbeben denken, die sie auf dem Schloss in Camasann erlebt hatte, und natürlich dachte sie in diesem Augenblick auch wieder an ihre Freunde. Aber den Gedanken schob sie rasch wieder zur Seite. In dieser Nacht erschütterten immer wieder kleine Beben die Berge. Rijana und Ariac konnten kaum schlafen. Zum Glück kehrten die Pferde bald wieder zurück und begannen zu grasen, obwohl auch sie immer noch angespannt wirkten.
Am nächsten Morgen stiegen sie weiter in die Berge hinauf. Irgendwann wurde es so steil, dass Rijana und Ariac ihre Pferde nur noch führen konnten.
Das Donnergebirge war ein von Wald durchzogener, mächtiger Gebirgszug mit vielen Wildbächen, die sich an unzähligen Stellen in die Tiefe stürzten. Mehrere Tage kletterten Rijana und Ariac steil bergauf, sodass sie jeden Abend furchtbar erschöpft waren. Doch schließlich erreichten sie den Pass, den Thalien ihnen beschrieben hatte. Es war ein schmaler Weg, der an einem rauschenden Wildbach entlangführte. Ariac hielt Rijana zurück und blickte misstrauisch nach oben.
»Was ist?«, fragte sie.
»Das gefällt mir nicht. Auf dem Weg haben wir keine Möglichkeit zu fliehen, wenn uns jemand angreift.«
»Wer soll uns denn hier angreifen?«, erwiderte sie. »Bisher war doch alles ganz friedlich.«
Ariac blieb misstrauisch, denn er war in den Bergen von Ursann ausgebildet worden und wusste, dass hinter jedem Felsen und auf jedem Berg jemand lauern konnte. Aber letztendlich hatten sie keine andere Wahl.Vorsichtig lief Ariac voran, und auch Rijana blieb wachsam, obwohl diese Berge auf sie nicht bedrohlich wirkten, sondern vielmehr faszinierend. Noch nie hatte sie so hohe und majestätische Berge gesehen, über denen immer wieder Adler und andere Raubvögel kreisten. Am Abend kauerten sie sich unter einen Felsüberhang. Der Wind hatte merklich aufgefrischt und pfiff durch die Berge.
»Siehst du«, sagte Rijana lächelnd und wickelte sich in ihre Decke. »Hier ist alles friedlich.«
Ariac nickte zögernd. Es war bekannt, dass im Donnergebirge eigentlich keine Orks und Trolle unterwegs waren, aber er war trotzdem vorsichtig, vor allem wegen Rijana. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte.
So ging es mehrere Tage weiter. Immer wieder tobten heftige Stürme, und der Weg war teilweise sehr gefährlich, da er an vielen Stellen heruntergebrochen war. Doch langsam mussten sie sich dem Ende des Passes nähern. Der Weg führte noch einige Zeit an dem Fluss entlang, dessen sprudelnde Quelle man nun erkennen konnte. Von dort führte ein steiler Felsenpfad in die Höhe. Rijana war die Erste, Ariac folgte ihr. Sie waren den ganzen Tag gewandert und völlig erschöpft. Als Rijana den steilen Berg hinaufklettern wollte, stellte sich ihnen urplötzlich und wie aus dem Nichts ein Zwerg in den Weg. Die Pferde wieherten erschrocken. Der Zwerg reichte Rijana gerade einmal bis zur Schulter, war dafür aber dreimal so breit, trug einen schwarzen, buschigen Bart, einen Helm und eine Lederrüstung. Außerdem hatte er eine gewaltige Axt in der Hand.
Rijana und Ariac zogen gleichzeitig ihre Schwerter und ließen die Pferde los.
»Stell dich hinter mich«, sagte Ariac mit angespannter Stimme.
Rijana hätte das sogar getan, doch hinter ihnen kamen plötzlich aus einer Felsöffnung weitere grimmig dreinschauende Zwerge.
»Was wollt ihr?«, fragte Ariac mit fester Stimme.
Der schwarzhaarige Zwerg schwang drohend seine Axt. »Wir können hier keine Menschen gebrauchen.«
»Wir wollen doch nur passieren und nicht bleiben«, sagte Rijana beruhigend.
Doch der Zwerg spuckte auf den Boden. »Wir lassen uns nicht auch noch diese Berge wegnehmen.«
»Wir wollen nichts wegnehmen«, begann Rijana, doch der Zwerg kam mit erhobener Axt auf sie zu.
»Lass sie in Ruhe«, sagte Ariac mit vor Zorn bebender Stimme und stellte sich zwischen das Mädchen und den Zwerg.
»Willst du dich mit mir anlegen?«, fragte dieser und hob belustigt die dunklen Augenbrauen.
Einer der Zwerge rief: »Schlag ihnen ein Geschäft vor, Bocan. Wenn er dich besiegt, dürfen sie gehen.«
Die anderen Zwerge grölten zustimmend.
Der schwarzhaarige Zwerg, dessen Name wohl Bocan war, nickte daraufhin. »Bist du einverstanden?«
Ariac war das nur recht. Er packte seinen Schwertgriff fester. Gegen Zwerge hatte er bisher noch nie gekämpft, aber dafür gegen jede Menge Orks und Trolle.
Rijana wich ängstlich zurück und beobachtete die Szene. Der Zwerg rollte wie eine Lawine auf Ariac los und deckte ihn mit Schlägen ein. Bocan schlug zwar kraftvoll zu, doch Ariac konnte geschickt ausweichen und landete selbst immer wieder Treffer, die auf der Rüstung des Zwergen jedoch wenig Schaden anrichteten. Auf dem schmalen Weg war nicht viel Platz, und Rijana blieb halb das Herz stehen, als Ariac einmal beinahe den Felsen hinunterstürzte, während er Bocans wilden Angriffen auswich.
Der Zwerg griff ohne Pause an, sodass Ariac irgendwann nur noch wie besessen auf ihn einschlug, um ihn sich vom Leib zu halten. Er verfiel in eine Art Blutrausch, seine Miene war hassverzerrt, und er ließ Bocan kaum mehr an sich ran. Schließlich strauchelte der Zwerg und stolperte über einen Stein. Er fiel nach hinten auf den Boden, und Ariac hielt ihm heftig schnaufend sein Schwert an die Kehle. Es sah aus, als würde er gleich zustechen wollen. Bocan hob die Arme.
»Du hast gewonnen.«
Aber Ariac schien ihn gar nicht gehört zu haben. Er holte aus, doch Rijana hielt seinen Arm fest.
»Hör auf, du musst ihn doch nicht umbringen!«
Er blickte sie wütend an. Im ersten Moment schien er sie gar nicht zu erkennen, doch sie hielt seinen Arm mit erstaunlicher Kraft fest und sah ihm tief in die Augen.
»Du hast ihn besiegt, lass ihn in Ruhe!«
Die anderen Zwerge waren bereits drohend näher gekommen, ihre Äxte in Angriffshaltung, doch Rijana trat hinter Ariac und hob ihr Schwert mit den magischen Runen.
»Lasst ihn, er wird eurem Freund nichts tun.«
Die Zwerge waren von dem zierlichen Mädchen offensichtlich beeindruckt. »Wo hast du das Schwert her?«, fragte ein rothaariger Zwerg mit runzliger Haut.
»Das geht dich nichts an«, erwiderte sie und war erleichtert, als Ariac endlich von dem am Boden liegenden Zwerg abließ.
Ariac steckte sein Schwert ein und zog Rijana mit sich zur Wand.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte er an den schwarzhaarigen Zwerg gewandt, der sich gerade mühsam aufrappelte.
Statt einer Antwort murmelte dieser: »Mich hat in dreihundertfünfzig Jahren niemand besiegt.«
Ariac schnaubte nur und wandte sich in Richtung des Felsganges.
Bocan unterhielt sich kurze Zeit mit dem Rothaarigen.
»Wartet«, rief er den Menschen zu, »es ist schon spät, ihr könnt mit uns essen.«
»Nein«, erwiderte Ariac unfreundlich. Er wollte weiter.
Der rothaarige Zwerg kam nun näher und stellte sich vor den misstrauisch dreinschauenden Ariac.
»Deine kleine Freundin hat ein seltenes Schwert.«
»Das weiß ich«, gab Ariac zurück und hatte schon wieder die Hand an seinem eigenen.
»Bist du etwa eine der Sieben?«, fragte Bocan aufgeregt.
Rijana blickte unsicher zu Ariac, der nur wütend das Gesicht verzog und sich anspannte. Schließlich nickte sie, und die Zwerge unterhielten sich kurz in ihrer eigenen, für menschliche Ohren ungewöhnlich harten Sprache.
»Werden sie uns gehen lassen?«, fragte Rijana leise.
Ariac zuckte die Achseln. »Notfalls müssen wir uns eben den Weg freikämpfen.«
Rijana nickte und legte ihre Hand an den Griff ihres silbernen Schwertes.
»Wir wollen euch nicht aufhalten«, sagte der schwarzhaarige Zwerg und musterte Ariac genau. »Noch nie hat mich jemand besiegt, geschweige denn ein Mensch. Esst und trinkt mit uns, ihr seid eingeladen. Außerdem würden wir gerne mehr über euch erfahren.«
Rijana und Ariac schauten sich zweifelnd an. Sie wussten nicht, was sie tun wollten. Konnten sie den Zwergen wirklich trauen?
»Jetzt kommt schon«, drängte der rothaarige Zwerg. »Mein Name ist Rolcan, und dieser unhöfliche Kerl hier«, er deutete auf Bocan, »das ist unser Anführer. Wir sind nur eine kleine Gruppe auf Patrouille. Unser Lager ist ein Stück den Berg hinauf, oberhalb des Felsganges. Kommt mit uns, wir werden euch nichts tun.«
Rijana und Ariac stimmten noch immer etwas zögerlich zu. Sie mussten ohnehin in die Richtung, und es schien ihnen vernünftig, die Zwerge nicht zu verärgern. Also stiegen die beiden den Zwergen voran den schmalen Felsgang hinauf. Hinter ihnen polterten die Zwerge lautstark in ihren Rüstungen, was Nawárr und Lenya ein wenig nervös machte.
Rijana und Ariac waren früher oben angekommen als die Zwerge, da sie wesentlich leichtfüßiger und schneller waren. Kurze Zeit später tauchte Bocan heftig schnaufend auf und winkte ihnen, ihm zu folgen. Sie standen auf einem Hochplateau, von dem man nun die Ebenen und den See erblicken konnte, der die Grenze zur Steppe bildete. Die Zwerge hielten direkt auf eine Felswand zu. Man konnte den Eingang erst dann sehen, wenn man direkt davorstand.
»Ihr könnt die Pferde an einem der Bäume anbinden«, sagte Bocan.
»Sie sind gut ausgebildet«, erwiderte Rijana. »Sie werden auch so nicht weglaufen.«
Bocan zuckte die Achseln. Mit Pferden kannte er sich nicht aus.
Er führte die beiden Menschen zu dem Felsspalt, hinter dem sich eine große Höhle auftat. Zwei weitere Zwerge blickten überrascht auf. Sie grillten gerade einen ganzen Hirsch über einem Feuer.
»Sie sind unsere Gäste«, stellte Bocan klar, als die beiden Zwerge aufsprangen und nach ihren Äxten griffen.
»Der Steppenjunge hat Bocan besiegt«, rief ein Zwerg mit dunkelblonden Haaren frech grinsend und fing sich von seinem Anführer damit sofort einen Stoß in die Rippen ein.
»Das musst du nicht gleich weitertratschen, du bist schließlich kein Weibsbild.«
»Setzt euch!« Rolcan, der rothaarige Zwerg, deutete auf die Felle, die am Boden lagen.
Anschließend verteilte er Brot, den Hirschbraten und kühles dunkles Bier. Die Zwerge wollten natürlich sofort wissen, wie Ariac ihren Anführer besiegt hatte. Doch der Steppenkrieger schwieg und blickte die Zwerge finster an.
»Warum bewacht ihr den Pass?«, fragte Rijana, um die Zwerge von Ariac abzulenken.
Bocan fluchte laut in seiner Sprache. »Wir wurden bereits aus dem nördlichen Gebirge vertrieben«, antwortete er anschließend, »dieses hier lassen wir uns nicht auch noch von den Menschen nehmen.«
»Warum wurdet ihr vertrieben?«, fragte Rijana überrascht, und auch Ariac beugte sich interessiert nach vorn.
Bocan machte ein sehr wütendes Gesicht. »Überall nur noch Orks, Trolle und Scurrs Soldaten. Sie überschwemmen den gesamten Norden, nichts ist mehr sicher. Und dann noch die vielen Vulkanausbrüche in letzter Zeit …«, er schüttelte den Kopf, »nein, da sind wir lieber hierhergekommen.«
»Wusstest du davon?«, fragte Rijana an Ariac gewandt, doch der schüttelte den Kopf.
Soweit er wusste, hielten sich Scurrs Soldaten nur in Ursann auf. Dass sie in den nördlichen Gebirgen unterwegs waren, war ihm neu.
»Woher soll er das denn auch wissen?«, fragte der blonde Zwerg. »Er kommt schließlich aus der Steppe.« Dann runzelte er die Stirn. »Aber du trägst ein Schwert. Ich dachte, ihr Steppenleute kämpft mit anderen Waffen.«
»Die Zeiten ändern sich«, erwiderte Ariac knapp.
»Aber, Mädchen«, sagte Rolcan zu Rijana, »wenn du eine der Sieben bist, warum bist du denn dann nicht auf Camasann?«
Bocan spuckte auf den Boden. »Gut, dass sie nicht dort ist, Camasann spielt doch auch schon lange ein falsches Spiel.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Rijana empört.
»Hawionn und Greedeon hecken schon lange etwas aus«, antwortete Rolcan und fuhr sich über seinen roten Bart.
»Wie meinst du das?«, fragte Ariac gespannt.
»Überlegt doch mal. Seit so vielen Sommern wurde Balmacann nicht mehr angegriffen. Immer sind es nur die nördlichen Königreiche.«
»Vor einiger Zeit fand ein Angriff statt«, stellte Rijana richtig.
»Natürlich«, erwiderte der Zwerg. »Aber Scurr hat sich doch schnell wieder zurückgezogen, oder? Das ist doch komisch, denn bei den vielen tausend Kriegern, Orks und was weiß ich für eine Dämonenbrut, die er bei sich hat, könnte er Balmacann leicht einnehmen.«
Ariac runzelte überrascht die Stirn. Er wusste, dass Scurr eine Menge Krieger hatte, aber er glaubte nicht, dass es insgesamt mehr als tausend waren.
»Was willst du damit sagen?«, fragte Ariac misstrauisch.
»Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Rolcan. »Ich möchte auch keine falschen Anschuldigungen aussprechen, aber vielleicht machen Greedeon und Scurr gemeinsame Sache.«
Rijana schrie empört auf. »Das kann nicht sein!«
Der Zwerg hob nur die Achseln. »Wie gesagt, nur eine Vermutung«, murmelte er.
Es wurde weiterhin großzügig Bier eingeschenkt, sodass die Zwerge immer lustiger und unterhaltsamer wurden. Nur Ariac hielt sich zurück, trank kaum etwas und beteiligte sich auch nicht an den Gesprächen. Rijana zeigte sich etwas offener. Sie gab schließlich zu, dass sie sich mit den anderen der Sieben verstritten hatte, die noch auf dem Schloss von König Greedeon waren.
»Wenn ihr etwas erreichen wollt, dann müsst ihr zusammenhalten«, sagte Rolcan ernst.
Rijana nickte zögernd. »Das weiß ich, aber … Im Moment geht das eben nicht.« Sie warf Ariac einen hilfesuchenden Blick zu, doch der zog nur die Augenbrauen zusammen. Er wollte den Zwergen nichts verraten, vor allem nicht, dass er bei König Scurr ausgebildet worden war.
Schließlich zogen sich die meisten Zwerge auf ihre Felle in den Nischen der Höhle zurück. Einige gingen hinaus, um Wache zu halten.
Bocan gab Rijana und Ariac ein Fell. »Sucht euch einfach einen Platz.«
Ariac nahm das Fell und ging gemeinsam mit Rijana zum Rand der Höhle. »Schlaf du ruhig, Rijana, ich werde Wache halten.«
»Ich glaube nicht, dass sie uns etwas tun«, erwiderte sie leise.
Doch Ariac schüttelte den Kopf. Er traute den Zwergen nicht. Rijana seufzte und legte sich, in ihre Decke gewickelt, auf das dicke Fell.
»Weck mich, wenn du schlafen willst.«
Ariac nickte und lehnte sich mit offenen Augen an die kalte Höhlenwand. Er beobachtete die schnarchenden Zwerge einige Zeit lang, doch es schien wirklich keine Gefahr von ihnen auszugehen.
Irgendwann, mitten in der Nacht, gesellte sich Rolcan zu Ariac. Er setzte sich nachdenklich vor den jungen Mann auf den Boden.
»Du traust uns nicht, oder?«
Ariacs Gesicht wurde noch verschlossener. »Nein, aber das hat nichts mit euch zu tun.«
»In diesen Zeiten wird man misstrauisch.« Dann deutete er lächelnd auf die schlafende Rijana. »Aber sie scheinst du zu mögen, du passt gut auf sie auf.«
Ariac nickte. »Ich habe es ihr vor langer Zeit versprochen, lange bevor …« Er stockte und zog die Augenbrauen zusammen, doch der Zwerg ging nicht weiter darauf ein.
»Seid vorsichtig, wenn ihr weiterzieht. In den Bergen wird euch nicht viel geschehen, aber auf der Steppe ist es dieser Tage gefährlich. Orkanartige Stürme ziehen über das Land, und Scurrs Soldaten sind überall.«
»Ich kenne mich in der Steppe aus«, erwiderte Ariac knapp.
Aber der Zwerg schüttelte besorgt den Kopf. »Vieles hat sich verändert. Es sind keine normalen Stürme, die gelegentlich über die Steppe jagen. Nein, es ist etwas anderes. Es ist, als würde Nawárronn, der Gott des Windes, selbst erzürnt sein und die Länder mit seinem Zorn strafen.«
»Nawárronn«, flüsterte Ariac. So lange hatte er diesen Namen nicht mehr gehört. Vertraute Bilder erschienen vor seinem geistigen Auge. Feste zu Ehren des Sturmgottes. Lachende, feiernde und ausgelassene Menschen. Herbststürme auf den Ebenen, wenn man zusammen mit seinem Pferd über die Steppe donnerte und selbst Teil des Windes zu sein schien. Doch das alles schüttelte er rasch ab.
»Eine Frage, Rolcan«, sagte Ariac nach einer Weile. »Hast du etwas davon gehört, dass die Krieger aus Camasann Steppenleute getötet haben?«
Der Zwerg zog die Augenbrauen zusammen und dachte eine Weile nach.
»Wir sind hauptsächlich unterirdisch gereist, aber soweit ich weiß, haben sich die Steppenleute weit in den Osten zurückgezogen. Sie werden verfolgt, aber von wem, das kann ich dir nicht sagen.«
Ariac nickte nachdenklich. Er würde selbst sehen müssen, was tatsächlich passiert war.
»Leg dich schlafen«, sagte Rolcan. »Wir werden euch nichts tun.« Als er Ariacs misstrauischen Blick sah, fügte er hinzu: »Oder glaubst du, wir hätten euch sonst eure Waffen gelassen?«
Ariac seufzte und zuckte die Achseln. Schließlich legte er sich hin, behielt jedoch die Augen offen. Als Rijana in der Nacht aufwachte, stellte Ariac sich schlafend. Ihm ging zu viel durch den Kopf, sodass er ohnehin nicht einschlafen konnte. Es war besser, wenn Rijana sich noch ein wenig ausruhte.
Als der Morgen dämmerte, wachte Rijana auf. Sie streckte sich unter ihrer Decke und blinzelte schläfrig. Um sie herum schnarchten die meisten Zwerge noch immer friedlich.
»Du bist schon wach?«, fragte Rijana.
Ariac nickte. Er wollte ihr nicht sagen, dass er gar nicht geschlafen hatte. »Lass uns weitergehen, wenn du so weit bist.«
Rijana setzte sich ganz auf und fuhr sich durch die verstrubbelten Haare. »Wir sollten uns zumindest verabschieden. Die Zwerge waren nett zu uns.«
Ariac seufzte und nickte zögernd. Schließlich erhob er sich, packte seine Sachen zusammen und ging gemeinsam mit Rijana zum Höhlenausgang. Einer der Zwerge stellte sich ihnen mit erhobener Axt in den Weg.
Bevor Ariac etwas sagen konnte, meinte Rijana freundlich: »Wir würden uns gerne von Bocan und Rolcan verabschieden, bevor wir gehen.«
Der Zwerg machte nun ein beruhigtes Gesicht und führte die beiden nach draußen. Vor einem Feuer saßen die beiden Zwerge und unterhielten sich leise. Als sie die Menschen sahen, sprangen sie auf.
»Wir gehen jetzt«, sagte Ariac entschieden.
Die Zwerge warfen sich einen Blick zu, dann nickte Bocan.
»Du hast mich besiegt, das ist euer gutes Recht.«
Rijana rief die beiden Pferde zu sich und begann, Decken und Proviant zu verstauen.
Bocan murmelte etwas davon, dass er noch Proviant holen würde, und Rolcan wandte sich mit ernstem Gesicht Ariac zu. »Nehmt euch in Acht und haltet euch von der Handelsstraße fern! Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber Rijana ist von großem Wert für alle freien Völker. Pass auf sie auf!«
Ariac nickte, denn das würde er ohnehin tun.
Schließlich kehrte Bocan mit zwei großen Proviantbeuteln zurück. »So, das dürfte einige Zeit reichen. Wasser findet ihr hier in den Bergen genügend.« Er grinste Ariac an. »Verdammt, dass ich das noch erlebe, dass ein Mensch mich besiegt.«
Ariac deutete ein Lächeln an und verstaute die Proviantbeutel in den Satteltaschen seines Hengstes.
Der Zwerg zögerte. »Falls ihr jemals in Schwierigkeiten geraten solltet und andere Zwerge in der Nähe sind, dann nennt meinen Namen, dann werden sie euch sicherlich helfen«, sagte er zum Abschied.
»Du überschätzt deinen Einfluss ein wenig«, erwiderte Rolcan scherzhaft, und sein runzeliges Gesicht verzog sich zu tausenden von Falten.
Bocan machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das war ein Scherz«, erklärte Rolcan augenzwinkernd zu Rijana und Ariac gewandt. »Er ist der zweitälteste Sohn unseres Zwergenkönigs.«
»Und wo ist euer König?«, fragte Rijana überrascht.
»Ach, der alte sturköpfige Narr, der sich mein Vater nennt, ist immer noch in den nördlichen Bergen«, knurrte Bocan. »Wenn er nicht bald herkommt, wird einer der Orks seine brüchigen Knochen fressen.«
»Ha, dein Vater und von einem Ork gefressen werden«, sagte Rolcan lachend. »Er kämpft noch immer besser als alle diese jungen Zwerge, die noch grün hinter den Ohren sind. Außerdem würde sich wohl jeder Ork an ihm die Zähne ausbeißen. Er ist verdammt zäh.«
Bocan brach in dröhnendes Gelächter aus, winkte den Menschen noch einmal zu und verschwand in der Höhle.
Rolcan verabschiedete sich ebenfalls. »Es ist eine große Ehre, dass Bocan euch seine Hilfe anbietet. Normalerweise ist er nicht so gut auf Menschen zu sprechen.«
»Wir werden auch allein zurechtkommen«, sagte Ariac und schwang sich auf sein Pferd.
Doch Rijana wandte sich mit einem einnehmenden Lächeln an den alten rothaarigen Zwerg. »Vielen Dank, ihr wart sehr nett zu uns.«
Rolcan lächelte zurück und blickte den beiden nachdenklich hinterher.Vielleicht würden diese jungen Menschen den Frieden bringen können. Dann seufzte er. Wirklich daran glauben konnte er allerdings nicht.