KAPITEL 3
Ursann
Nach der unglücklichen ersten Begegnung mit
König Scurr wurde Ariac zusammen mit den anderen Kindern in einen
großen, kahlen Schlafsaal geführt. Ein schweigender junger Krieger
mit kurzgeschorenen Haaren gab jedem eine Decke. »Ihr werdet zum
Essen gerufen«, sagte er knapp.
Sofort gab es einiges Gerangel um die wenigen mit
Stroh ausgelegten freien Plätze in dem Raum. Ariac hatte gar kein
Interesse daran, denn die Jungen lagen dicht an dicht. Er suchte
sich eine freie Stelle am Fenster, denn er fand die Luft ohnehin
schon stickig genug. Die Jungen, die sich gerade in dem Raum
aufhielten, begutachteten die Neuankömmlinge mit einer Mischung aus
Neugier und Verachtung. Sie hielten sich wohl für etwas Besseres.
Vom kleinen Jungen von vielleicht gerade einmal fünf bis sechs
Jahren, bis zum jungen Mann an der Grenze zum Erwachsenwerden war
hier alles vertreten. Die ausgebildeten Soldaten dagegen hatten
eigene, etwas komfortablere Unterkünfte in den Ruinen. Besonders
Ariac mit seinen Tätowierungen an den Schläfen wurde angestarrt,
und Morac verkündete natürlich sofort, dass der Steppenjunge
Abschaum wäre. Ein hochgewachsener Junge mit kurzgeschorenen
blonden Stoppeln, der eigentlich recht gutaussehend gewesen wäre,
wenn er nicht so einen arroganten Zug um die Augen gehabt hätte,
kam auf Ariac zu und baute sich vor ihm auf.
»Ich bin hier der Älteste und damit der Anführer«,
stellte er
klar, »mein Name ist Lugan, und ich stehe in der Gunst von König
Scurr.«
»Beeindruckend«, antwortete Ariac zynisch und
begann, seine Decke auszubreiten.
Lugan ergriff Ariac von hinten und drückte ihn
brutal gegen die raue Wand. Er war vier Jahre älter und
dementsprechend größer und kräftiger, doch Ariac blieb ruhig.
»Du solltest dich lieber gut mit mir stellen, sonst
wird es dir leidtun«, drohte er.
Ariac packte blitzschnell den Arm des größeren
Jungen, drehte ihn um und warf den überraschten Lugan zu Boden.
Diesen Trick hatte Ariac von seinem Cousin gelernt.
»Es würde mir leidtun, mich mit dir gut zu
stellen«, meinte Ariac grinsend. Die anderen Jungen um ihn herum
hielten die Luft an. Niemals hatte es jemand gewagt, Lugan
anzugreifen, doch dieser lag nun keuchend und mit rotem Gesicht am
Boden.
»Ich reiße dir die Gedärme raus, du verfluchter
Wilder«, knurrte er und versuchte vergeblich aufzustehen.
»Das dürfte dir ein wenig schwerfallen, wenn du am
Boden liegst«, meinte Ariac trocken.
Lugan wollte noch etwas sagen, doch da schwang die
große, hölzerne Tür auf, und ein junger Soldat rief in den Raum:
»Los, Essen!«
Sofort eilten alle Jungen zur Tür, und Ariac ließ
den vor Zorn schäumenden Lugan schließlich ebenfalls los.
Morac mit seiner kriecherischen Art half dem
älteren Jungen sofort auf. »Ich werde dir selbstverständlich
helfen, diesen Unwürdigen fertigzumachen«, sagte er
unterwürfig.
Angewidert schüttelte Lugan den Arm des kleineren
Jungen ab.
»Sehe ich vielleicht aus, als würde ich Hilfe
brauchen?«, schrie er und klopfte sich den Schmutz von den
Kleidern. Sein Arm war verdreht, und er hatte kaum Gefühl darin. Er
hasste den neuen Steppenjungen schon jetzt und würde alles dafür
tun, um ihm das Leben hier zur Hölle zu machen.
Morac zog die Schultern ein und folgte dem wütenden
Lugan in eine große Halle, in der hölzerne Bänke aufgebaut waren,
an denen schätzungsweise fünfzig Jungen und weit über fünfhundert
erwachsene Krieger schweigend aßen. An einem einzelnen Tisch saßen
in imposanten Stühlen König Scurr und sein grober Ausbilder Worran.
Deren Tafel war reich gedeckt, und auch das Essen der Krieger
schien einigermaßen üppig zu sein. Doch bei den Jungen sah es
anders aus. Einige wenige hatten Fleisch und Brot oder Kartoffeln,
alle anderen, darunter auch Ariac, einen merkwürdigen, weißlichen
Brei, der nach gar nichts schmeckte.
Ausbilder Worran erhob sich. »Für die
Neuankömmlinge sage ich Folgendes«, rief er durch den Raum. »Wenn
ihr gutes Essen wollt, müsst ihr euch das erarbeiten. Umsonst gibt
es hier nichts. Wer nicht spurt oder rebelliert, der bekommt gar
nichts. Und jetzt esst! Ihr werdet noch heute mit eurer Ausbildung
beginnen.«
Angewidert tauchte Ariac seinen Löffel in den zähen
Brei, der wirklich furchtbar schmeckte. Die anderen Kinder um ihn
herum aßen alle mit gesenkten Köpfen und versuchten, so viel wie
möglich in sich hineinzuschaufeln. Irgendwann war das Essen
beendet. Lugan ging absichtlich dicht an Ariac vorbei, der sich
gerade erhoben hatte, und schubste ihn gegen den hölzernen Tisch.
Deshalb warf Ariac einige tönerne Schüsseln herunter, darunter auch
seinen nur halb aufgegessenen Brei.
Worran, der den Tumult gehört hatte, kam mit seinen
schweren Lederstiefeln angepoltert.
»Was ist hier los?«, fragte er drohend und baute
sich vor Ariac auf, der mit zornig funkelnden Augen auf Lugan
blickte.
»Der hier«, sagte Lugan abwertend, »benimmt sich
wie ein Tölpel.«
»Ich habe gar nicht …«, begann Ariac. Eine
schallende
Ohrfeige von Worran ließ ihn jedoch verstummen, und seine Lippe
platzte auf.
»Du hast die Schüsseln zerstört«, sagte Worran
drohend. »Und den Brei hast du auch nicht gegessen. Das müsste doch
ein Festessen für dich sein, ihr Steppenleute fresst ja sogar
Würmer.«
Ariac wischte sich das Blut vom Mund und sagte so
energisch, wie er konnte: »Besser Würmer als dieser Fraß!«
Worran schlug ihm erneut ins Gesicht, sodass Ariac
zu Boden ging. Der Ausbilder trat ihn genüsslich grinsend in die
Rippen.»Wenn dir unser Essen nicht gut genug ist, dann wirst du
eben die nächsten zwei Tage gar nichts mehr bekommen. Außerdem hast
du die nächsten fünf Tage Nachtwache auf den Türmen.«
Lugan grinste zufrieden, er hatte sein Ziel
erreicht.
»Und mach diesen Dreck weg«, befahl Worran. Dann
wandte er sich an alle Jungen und die wenigen Mädchen, die sich
hier aufhielten. »Die Neuankömmlinge und älteren Jungen kommen
sofort in den Hof!«
Ariac biss die Zähne zusammen und erhob sich
wieder. Er warf Worran einen vernichtenden Blick hinterher, und ein
kleinerer, dicklicher Junge flüsterte ihm zu: »Du darfst ihn nicht
provozieren, sonst bringt er dich am Ende noch um!«
Ariac unterdrückte ein Stöhnen und begann die
Scherben und den Brei wegzuräumen. Lieber sterbe ich, als mich
diesem widerwärtigen Kerl zu unterwerfen.
Natürlich kam Ariac als Letzter in den großen Hof.
Alle Jungen standen in Reih und Glied. Worran verteilte
Holzschwerter. Die älteren Jungen sollten die Neuen
angreifen.
»Du bist zu spät, deswegen bekommst du keines«,
sagte Worran verächtlich zu Ariac. Offensichtlich freute er sich
schon darauf, dass einer der Sechzehnjährigen ihn gehörig
verprügeln würde.
Doch Ariac gönnte ihm das Vergnügen nicht. Er hatte
gelernt, auch ohne Waffen zu kämpfen. Nach kurzer Zeit hatte er,
obwohl er wesentlich kleiner war, den anderen Jungen zu Boden
geworfen und ihm sein Schwert abgenommen. Er konnte sich einen
triumphierenden Blick zu Worran hin nicht verkneifen, der knallrot
vor Wut war und nun dem Besiegten ein hölzernes Trainingsschwert
zuwarf.
König Scurr trat groß und unheimlich aus dem
Schatten heraus. Er stellte sich neben Worran, der vor Wut
schnaubte.
»Der Steppenjunge ist gut«, sagte Scurr mit seiner
kalten Stimme.
»Ein arroganter, wilder Bastard«, spie Worran
aus.
»Das mag sein, aber er hat Talent. Breche seinen
Willen, aber bring ihn nicht um! Am Ende ist er einer der Sieben«,
befahl der König.
Worran spuckte auf den Boden. »Das hoffe ich
nicht!« Scurr packte den grobschlächtigen Mann am Arm. »Das wissen
wir aber erst in einigen Jahren. Du weißt, du darfst keinen töten,
bevor er nicht siebzehn ist, sonst wirst du es bereuen!«, drohte
der König.
Worran nickte rasch. König Scurr war einer der
wenigen Menschen, vor denen er Angst hatte. Sosehr es ihm missfiel,
er würde diesen unverschämten Jungen am Leben lassen müssen.
Bis die Sonne unterging, dauerte das Training, und
Worran war mehr als streng mit seinen Untergebenen. Endlich gab er
das Kommando aufzuhören, und die Jungen ließen sich erleichtert auf
den staubigen Hof fallen.
»Es gibt gleich Abendessen«, blaffte der Ausbilder,
»danach müssen die Ställe ausgemistet, das Vieh gefüttert und
getränkt werden.«
Hier und da hörte man unterdrücktes Stöhnen,
woraufhin Worran mit zusammengekniffenen Augenbrauen herumfuhr.
Nun wagte es niemand mehr, auch nur zu atmen. Die Jungen schlichen
müde in den großen Speisesaal. Nur Ariac blieb allein im Hof
zurück. Er wusste, dass er nichts bekommen würde, und schöpfte mit
der Hand nur etwas Wasser aus dem Brunnen. Dann blickte er in den
blutroten Abendhimmel und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu
Hause auf der Steppe zu sein.
Irgendwann erschienen die Jungen wieder und gingen
hinaus vor das Burgtor. In ärmlichen Baracken waren Pferde, einige
Kühe und Schafe untergebracht. Schweigend machten sich die Jungen
daran, die Ställe auszumisten, Wasser zu holen und die Tiere zu
füttern. Allen taten die Knochen weh, doch als sich ein kleiner
Junge beschwerte, wurde er sofort dazu verdonnert, allein Wasser in
die Burg hinaufzubringen. Ariac wusste, dass für ihn noch lange
nicht das Ende des harten Tages erreicht war. Nachdem die Tiere
versorgt waren, kehrte Worran mit einem erwachsenen Krieger zurück.
Der Mann hatte eine lange Narbe über der Stirn und sah so finster
und kalt aus wie alle anderen von König Scurrs Männern.
»Hier, Tovan wird dich zu den Türmen begleiten, und
schlaf ja nicht ein, sonst wirst du ausgepeitscht«, drohte Worran.
Ariac nickte, es blieb ihm wohl ohnehin nichts anderes übrig.
Der schweigsame junge Mann führte Ariac einen halb
verfallenen Turm hinauf. Die meisten Stufen der Wendeltreppe
fehlten bereits. Es dauerte ewig, bis sie oben angekommen waren.
Ein leichter Wind wehte hier, und man konnte im letzten Abendlicht
über das karge und felsige Land blicken. Im Gegensatz zu der
stickigen Wärme in den Räumen und auf dem Hof fand es Ariac fast
angenehm, hier zu stehen.
»Auf was müssen wir denn aufpassen?«, fragte
Ariac.
Tovan musterte ihn abfällig. »Dass uns niemand
angreift.«
»Aber in der Dunkelheit sieht man doch ohnehin
nichts«, erwiderte der Steppenjunge verwirrt. Es machte vielleicht
Sinn, vor den Toren und in den Bergen Wache zu halten, aber doch
nicht hier oben auf dem Turm!
»Sei ruhig und tu das, was man dir befiehlt«,
knurrte der Mann und blickte angestrengt über den Rand der Zinnen
in die Tiefe.
Ariac seufzte und lehnte sich an die Mauer. Er
wusste nicht, was das alles sollte.
Als es wohl schon nach Mitternacht war, wurde Tovan
von einem kleinen untersetzten Mann abgelöst, und Ariac, der kaum
noch die Augen offen halten konnte, wollte ebenfalls die Treppen
hinabgehen.
»Du nicht«, knurrte der andere Krieger. »Worran hat
gesagt, du musst bleiben.«
Ariac schloss kurz die Augen und hielt sich vor
Müdigkeit schwankend an den Zinnen fest. Er hätte wohl auch dann
keine Gefahr erkannt, wenn sich ein ganzes Heer mit Fackeln
genähert hätte.
In der Morgendämmerung durfte er endlich hinab in
den Schlafsaal der Jungen gehen. Ariac ließ sich einfach auf den
blanken Boden fallen. Irgendjemand hatte ihm seine Decke gestohlen,
doch darum kümmerte er sich nicht mehr. Allerdings war ihm nur
wenig Schlaf vergönnt. Er hatte den Eindruck, dass er gerade erst
die Augen geschlossen hatte, als ihn ein Tritt in den Rücken
weckte. Worran starrte finster auf ihn herab.
»Los, du kannst gleich die Tiere versorgen, die
anderen sind beim Essen.«
Ariac erhob sich langsam, denn ihm tat alles weh,
und sein Magen knurrte. Doch er wollte dem ekelhaften Ausbilder
nicht die Genugtuung bereiten, Schwäche zu zeigen. So ging er hinab
in den großen Hof, wusch sich das Gesicht im Brunnen und trank
etwas, bevor er zu den Ställen torkelte, wo er den Tieren Heu und
Wasser gab. Heimlich knabberte er an einer alten Futterrübe. Etwas
später tauchten die anderen
Jungen auf, und als alles fertig war, kam schon wieder Worran, der
sie alle hinaustrieb. Heute sollten sie durch die Berge laufen,
angeblich, um Ausdauer zu bekommen. Worran selbst und fünf weitere
Soldaten ritten selbstverständlich auf Pferden und trieben die
Jungen gnadenlos mit Peitschen an, wenn sie zurückfielen. Ariac,
der langes Laufen gewohnt war, hielt gut mit, während drei kleinere
Jungen bald zusammenbrachen, woraufhin Worran auch ihnen
Essensentzug verordnete. Den ganzen Tag rannten sie durch die mit
Geröll übersäten Hügel. Hier und da sah man ein paar magere
Wildhasen oder Ziegen, am Himmel kreisten ein paar Aasgeier. Als
die Sonne schon lange ihren höchsten Punkt überschritten hatte,
erreichten die erschöpften Kinder die Ruine. Sie sollten sich im
Brunnen waschen, aber die meisten hatten keine Energie mehr dazu.
Ein Soldat erschien und verteilte einige schrumplige Äpfel an alle
bis auf Ariac und die, die nicht mitgehalten hatten. Doch wer
gedacht hatte, dass der Tag jetzt beendet wäre, der hatte sich
geirrt. Worran tauchte kurz darauf mit den älteren Jungen auf, und
nun wurde wieder Schwertkampf geübt. Kaum einer bekam noch die Arme
hoch, sodass alle eine Menge Prellungen und blaue Flecken
erhielten, weil sie nicht rechtzeitig ausweichen konnten, selbst
Morac, der zuvor noch getönt hatte, er wäre der Beste von
allen.
Ariac musste heute mit Lugan trainieren, dem es ein
boshaftes Vergnügen bereitete, den erschöpften Steppenjungen immer
wieder mit dem Holzschwert zu treffen. Die Sonne war schon lange
gesunken, als Worran endlich erlaubte, dass die Jungen zum
Abendessen gingen. Ariac musste sofort in den Turm gehen, da es
schon sehr spät war. Sein Magen knurrte so laut, dass er glaubte,
allein davon könnten die brüchigen Mauern der alten Festung
einbrechen. Mit einem älteren Mann, der wohl schon sehr lange unter
König Scurr diente, stolperte Ariac die Treppe hinauf. Er wusste
kaum noch, wie er die Augen offen halten sollte.
Er holte den Stein, der wie ein Adlerkopf aussah,
aus seiner Tasche und dachte: Ich hoffe, dir geht es besser,
Rijana.
Immer wieder drohte er einzuschlafen, und als in
der Morgendämmerung Worran kam, grinste dieser ihn hinterhältig an.
»Ich hoffe, das ist dir eine Lehre, sonst kannst du das in Zukunft
immer haben.«
Ariac hatte nicht einmal mehr die Energie, etwas zu
erwidern. Todmüde sank er im Schlafsaal auf den Boden, nur um kurze
Zeit später ein ähnlich hartes Training zu absolvieren wie auch
schon den Tag zuvor.