33
Die Männer brachten das Victors-Spiel in ein Büro neben der Abstellkammer, schalteten es ein und checkten die Kontrolltasten, um festzustellen, ob es nach so langer Zeit noch funktionierte. Als Paige den kleinen Raum betrat, sah sie, dass Susannah bereits dasaß – möglichst weit von den beiden entfernt, aber nahe genug, um sie im Auge zu behalten. Sie sah todunglücklich aus. Fürchtete sie tatsächlich, Sam und Yank könnten ihre Zukunft bestimmen?
Angeblich starb man nicht an gebrochenem Herzen, was Paige bezweifelte. Sie schaute todunglücklich von ihrer Schwester zu Yank und meinte, ihr Herz knacksen zu hören. Doch weil sie beide liebte, musste sie genug Kraft aufbringen, um ihre Gefühle zu verbergen. Vielleicht war es Susannah egal, wie das Spiel ausgehen würde. Aber dass es überhaupt stattfand, zerstörte die Traumwelten, die sich Paige aufgebaut hatte, mit einem einzigen grausamen Schlag.
In den letzten sechs Wochen – seit dem Abend, an dem ihre Schwester fast gestorben wäre, hatte Paige jeden Tag inbrünstig gebetet, ihre Liebe zu Yank möge erlöschen. Ohne Erfolg. Wann immer sie ihn anschaute, stieg heiße Freude in ihr auf. Allein schon im selben Zimmer zu sein wie er, beglückte sie, die gleiche Luft einzuatmen, den Anblick seines sanften, lieben Gesichts zu genießen. Jeden Sekundenbruchteil ihres restlichen Daseins wollte sie mit ihm verbringen – seine Babys gebären, seine Kleidung waschen und ihn pflegen, wenn er womöglich einmal krank wurde. Wenn sie beide alt waren, wollte sie neben ihm in einem Schaukelstuhl sitzen und seine Hand halten. Und dann gemeinsam mit ihm sterben, an seiner Seite begraben werden und ans ewige Leben glauben, damit ihre Geister für alle Zeiten vereint wären. Nur er schenkte ihr jenes Gefühl inneren Friedens, das den tiefsten, geheimsten Teil ihrer Seele erfüllte.
Und jetzt – ganz gleichgültig, welches Ende das idiotische Spiel nehmen mochte – musste sie eine niederschmetternde Tatsache akzeptieren. Yank liebte ihre Schwester, und sie durfte den beiden nicht im Weg stehen. Beinahe wäre Susannah ermordet worden. Dieses Grauen würde Paige niemals vergessen, ebenso wenig ihre Gewissensqualen, weil sie Cal vertraut hatte.
Seit dem schrecklichen Abend bedeutete ihr die ältere Schwester noch viel mehr, genauso wie den anderen. Stets blieb Yank wie ein Wachhund an ihrer Seite, und in Mitchs Augen erschien jedes Mal, wenn Susannah in der Nähe war, ein gehetzter Ausdruck. Armer Mitch. Wegen der Tragödie war er noch ernster geworden und lächelte nur selten. Wochenlang war er nicht mehr nach El Camino gekommen, ins SysVal-Haus, unentwegt vergrub er sich in seiner Arbeit.
Schmerzlich lächelte Susannah, als Paige sich zu ihr setzte. »Ich dachte, du wärst nach Hause gefahren.«
»Nein, ich möchte hier bleiben.«
»Total verrückt, nicht wahr? Die beiden sind völlig durchgeknallt.«
»Wenn du das findest – warum schaust du dann zu?««
»Yanks wegen. Ich begreife nicht, warum er das tut.«
»Weil er dich liebt.« Fast blieben die Worte wie große Brotbrocken in Paiges Hals stecken.
Susannah schüttelte energisch den Kopf. »Ganz sicher nicht. Und er weiß, dass Sam gewinnen wird. Wieso versucht er mich in die Arme meines Ex zurückzutreiben? Das funktioniert nicht. Egal, was Yank sagt oder macht – diesmal wird er seinen Willen nicht durchsetzen. Nie wieder gehe ich zu Sam zurück.«
Seufzend nickte Paige. Welche halbwegs vernünftige Frau würde einen Macho-Hengst wie Sam Gamble einem wundervollen Mann wie Yank vorziehen?
Nun begann das Victors-Spiel, fröhliche kurze Piepser auszustoßen. Sam knöpfte seine Manschetten auf und krempelte die weißen Hemdsärmel hoch. »Erst mal ein Probespiel, Partner – okay? Damit du nachher nicht behauptest, ich hätte dir keine Chance gegeben.«
Angewidert musterte Yank die Tasten. »Kein Probespiel. Ich hasse Victors. Bringen wir’s möglichst schnell hinter uns.«
»Welch ein Scheißpech für dich, Hombre.« Grinsend schlug ihm Sam auf die Schulter. »Aber es war ja deine Idee.«
Victors, das komplizierteste der frühen Target-Spiele, enthielt eine geschichtliche Miniaturabhandlung über die Entwicklung der Waffen, von der Steinzeit bis zum Atomzeitalter. In der ersten Phase tauchten primitiv gestaltete Männer auf, die Steine gegen winzige vierbeinige Kreaturen schleuderten und grellen Blitzen auswichen. Die zweite und die dritte Phase zeigten, wie sie dahingleitende Figuren mit Pfeilen attackierten. Dann feuerten sie Kanonen auf Soldatentruppen ab und flohen vor dem Gegenangriff. In der letzten Phase erschien die schwankende Skyline einer Stadt. Die Spieler manövrierten ein Flugzeug, das Bomben auf kleine Ziele abwarf, während willkürlich bewegte Raketen die Maschine abzuknallen versuchten. Wenn ein Spieler das alles überlebt hatte, entwickelte sich eine pilzförmige Wolke, und darauf stand in Blockbuchstaben:
GLÜCKWUNSCH
SIE HABEN DIE ZIVILISATION ERFOLGREICH
AUSGELÖSCHT.
WAS WERDEN SIE JETZT TUN?
Früher hatte diese Message alle Spieler maßlos begeistert.
Im Gegensatz zu Yank entschloss sich Sam zu einem Probespiel. Während er vor der Maschine stand, in einem weißen Hemd und Designerjeans, die Krawatte locker um den offenen Kragen geschlungen, erinnerte sich Susannah an all die Abende im Mom and Pop’s. Inzwischen war die Kneipe ein vegetarisches Restaurant namens Happy Sprouts. Jahrelang waren sie nicht mehr dort gewesen.
»Okay, ich bin bereit«, sagte Sam. »Die höchste Punktzahl gewinnt. Knobeln wir, wer anfängt?«
»Nur zu«, erwiderte Yank missmutig. »Du bist bereit, also leg los.«
Sam machte ein paar Lockerungsübungen mit seinen Fingern und schenkte Susannah ein freches Lächeln. Dann wandte er sich wieder zu dem Gerät. »Lass mich bloß nicht im Stich, Baby!«
Unfähig, der Versuchung zu widerstehen, trat Paige näher. Susannah war felsenfest von Sams Sieg überzeugt. Wenn er tatsächlich gewann, könnte das einen Sinneswandel in Yanks Herz auslösen, und er würde nicht mehr ihre Schwester lieben, sondern sie. Dann würden sie heiraten und in Falcon Hill leben ...
Und vielleicht würden Kühe über den Traualtar hinwegfliegen.
Sam Gamble war ein grandioser Videospieler. Das musste sie ihm zubilligen. Ausschließlich auf den Bildschirm und die Tasten unter seinen Fingern konzentriert, ließ er sich von nichts ablenken. Glattes schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, während er die ersten drei Phasen höchst effektiv absolvierte. Immer aufgeregter piepste die Maschine, und er kam zur letzten Phase. An seinen Oberarmen zuckten die Muskeln, als er zunehmend schneller auf die Tasten drückte. Abwehrraketen schossen empor, Bomben rasten herab. Vor lauter Aufregung schien sein Gesicht zu glühen.
Und dann stieß er einen triumphierenden Schrei aus. Die pilzförmige Wolke erschien. Über den Monitor flimmerte die Botschaft. Von fünfzigtausend Punkten hatte er fünfundvierzigtausenddreihundert erzielt.
Selbstgefällig drehte er sich zu Yank um. »In meiner Glanzzeit habe ich achtundvierzigtausend geschafft. Aber ich finde, ich darf nicht klagen.«
Paige beobachtete, wie er seinen Blick über Susannahs Körper wandern ließ. Eigentlich wirkte das gar nicht unsympathisch – sie merkte ihm an, dass er ihre Schwester liebte – auf seine Art. Trotzdem jagte ihr seine besitzergreifende Miene einen Schauer über den Rücken. So arrogant konnte nur ein Egomane sein. Wie schrecklich, sich in einen solchen Mann zu verlieben ...
Das personifizierte Elend, ging Yank zu der Maschine und starrte den Bildschirm an. Eine Zeit lang tat er gar nichts. Dann wandte er sich zu seinem Publikum, als wollte er etwas sagen. Offenbar besann er sich anders. Das Kinn verkniffen, drückte er auf den Startknopf.
So hinreißend ...
Welch eine Wonne, ihn arbeiten zu sehen ...
Die Hände ganz locker, perfekte Konzentration. Jede einzelne Bewegung war präzise. Nichts tat er aufs Geratewohl. Eine Phase nach der anderen kapitulierte vor ihm, jedes Projektil traf sein Ziel. Pfeile flogen, Kugeln pfiffen. Zielsicher und tödlich warf er seine Bomben ab und wich den Raketen aus, bevor sie ihm zu nahe kamen. Nichts überließ er dem Zufall. Er war allmächtig, allwissend. Konnte ein Mann so vollkommen sein? Nein, nur Gott. Nur der Schöpfer höchstselbst vermochte so perfekt zu spielen. Fünfzigtausend. Fünfzigtausend Punkte. Die Höchstzahl.
»Du Hurensohn«, murmelte Sam. Immer und immer wieder. »Du Hurensohn ...«
»Jetzt gehört sie mir, Sam«, erwiderte Yank und sah noch unglücklicher aus als vor dem Spiel. »Das haben wir vereinbart. Damit musst du leben.«
Sam starrte zu Boden, endlos lange Sekunden tickten dahin, bis er Susannah anschaute. »Willst du ihn wirklich?«
»Nun, ein Deal ist ein Deal«, wisperte sie.
Und Paige fühlte, wie aus dem tiefsten Grund ihrer Seele ein gewaltiges, furchtbares Schluchzen emporstieg. Vor lauter Angst, es würde aus ihr hervorbrechen, wagte sie nicht zu atmen. Sie musste es unterdrücken, ihre Trauer an einem geheimen Ort verstecken, wo man sie niemals entdecken würde. Irgendwie musste sie genug Großmut aufbringen, um diesen beiden geliebten Menschen ihren Segen zu erteilen. Und dann würde sie aus ihrem Leben verschwinden, weil sie es nicht ertrug, sie vereint zu sehen.
»Suzie, ich liebe dich«, beteuerte Sam heiser, unverhohlene Verzweiflung in den Augen.
Langsam und wehmütig schüttelte Susannah den Kopf.
Da erkannte er die bittere Wahrheit. Endlich verstand er, dass er sie für alle Zeiten verloren hatte. Kein zündender Wortschwall, keine Offensive – mochte er sie auch noch so kühn ersinnen oder aggressiv vortragen – würde Susannah zurückerobern. Zum ersten Mal in seinem Leben war er von einer Willenskraft besiegt worden, die seine eigene übertrumpfte.
Und dann ahnte er etwas Dunkles, Unangenehmes am Rand seines Unterbewusstseins, etwas, das sie ihm einst zu erklären versucht hatte – Visionen seien nicht genug. Die Einsamkeit oder das Alter würden sie nicht in Schach halten. Auf dieser Welt gab es eine Art von Liebe, zu der er unfähig war. Susannah kannte diese Liebe. Aber er nicht. Und weil er sie ihr nicht zu geben vermochte, hatte er sie verloren.
Heftig blinzelte er und griff nach seinem Jackett. Zur Hölle mit ihr. Er brauchte sie nicht. Niemanden brauchte er. Eine ganze Welt voller Ideen lag vor ihm. Und das genügte vollauf.
Der Kragen seines Jacketts glitt zwischen seinen Fingern hindurch. Dann schaute er Yank an. »Victors ist dein Spiel, nicht wahr?«
Langsam nickte Yank. »Das letzte, was ich erfunden habe. Kurz bevor ihr mich gezwungen habt, bei Atari zu kündigen.«
»Warum hast du’s uns nicht erzählt?«
»Ständig habt ihr mir wegen der Kündigung in den Ohren gelegen. Das war mir peinlich. Natürlich wollte ich euch’s sagen. Aber ich wartete zu lang, und schließlich wär’s viel zu blamabel gewesen.«
verdammt unfair, hätte Sam protestieren können. Aber Yank war der beste Ingenieur, den er kannte, und er verdiente größte Hochachtung. »Gutes Spiel, Yank«, bemerkte er heiser. »Richtig gutes Spiel.«
Mit hängenden Schultern wandte er sich ab, ging zur Tür hinaus ...
... und prallte mit Mitch Blaine zusammen.
Das Gesicht hochrot, das blaue Hemd schweißnass an die Brust geklebt, stürmte Mitch ins Büro. In seinen hellblauen Augen leuchtete ein wildes, bedrohliches Licht, das sie nie zuvor gesehen hatten. »Was zur gottverdammten, ewigwährenden Hölle geht hier vor?«, brüllte er.
Wie aus eigenem Antrieb bewegten sich Paiges Füße, als sie zu ihm rannte und ihren zierlichen Körper in seine Arme warf. Guter, beruhigender Mitch. So tröstlich wie ein Teppich. Die einzige stabile Kraft in einer Welt voller vertrauter Menschen, die alle komplett durchgeknallt waren. Sobald ihr klar geworden war, dass dieses irrsinnige Spiel tatsächlich stattfinden würde, hatte sie ihn angerufen. Leider war er nicht rechtzeitig da gewesen.
»Zu spät«, klagte sie, »es ist vorbei.«
Mitch umfasste ihre Schulter, drückte sie an sich, und sie genoss den starken Arm eines Beschützers. So hätte ihr Vater sie in der Kindheit umarmen müssen. Ganz fest wollte sie sich an ihn schmiegen und es ihm überlassen, die bösen Wölfe zu verscheuchen.
»Jetzt sollte irgendjemand zu reden anfangen«, stieß er hervor. »Sofort. Erzähl mir, was passiert ist, Susannah.«
Mit der ganzen Nonchalance der unerschütterlichen SysVal-Präsidentin zuckte sie die Achseln – die tapfere Kriegerin, die alles und jeden abwehrte, der ihre Firma gefährdete. Aber als sie ihre Schwester an Mitchs breite Brust gekuschelt sah, begann ihr Unterlippe zu beben. »Yank hat mich gewonnen.«
Mitchs eisiger Blick traf Yank so tödlich wie eine Victors-Abwehrrakete. »Was heißt das?«
»Ganz einfach, Mitch. Sam weigerte sich zu akzeptieren, dass Susannah ihn aus ihrem Leben entfernen wollte. Also haben wir um sie gekämpft. Der Sieger würde sie in sein Bett holen. Und ich habe gewonnen.«
Irgendwo in Mitchs kräftigem, achtunddreißigjährigem Körper existierten immer noch die Reflexe eines Ohio-State-Footballers. Mit einem halb erstickten Schrei ließ er Paige los, raste um die Ecke des Schreibtisches herum und stürzte sich auf Yank Yankowski, der sofort zusammenbrach.
Paige kreischte, Susannah schrie, und beide rannten durch das Büro, um sich auf Mitch zu werfen. Die eine zerrte an seinen Beinen, die andere an seinen Armen.
»Runter da!«, befahl Paige und setzte sich rücklings auf seine Hüften. »Weg mit dir, du bringst ihn um!«
»Hör auf, Mitch!« Susannah packte eine Hand voll von seinem blauen Hemd aus Oxfordstoff (nur leicht gestärkt) und zog daran. »Nein! Tu es nicht!«
Wehmütig stand Sam bei der Tür und beobachtete, wie sich die vier über den Boden wälzten. O Gott, wie er diese Firma vermissen würde ...
Susannah verlor einen ihrer Pumps, und Paige warf Rolodex-Karteikarten zu Boden, die in alle Richtungen schlitterten. Und über den vier Köpfen flimmerte der Victors-Bildschirm.
Schließlich schüttelte Mitch die Frauen ab, zog Yank auf die Beine und presste ihn an eine Trennwand. Prompt stürzte sie ein, und beide Männer krachten ins benachbarte Büro.
Aufmerksam beobachtete Sam die Ereignisse, las in den Gesichtern, und endlich verstand er, wie diese Menschen zueinander passten. Dies war die Vision, die ihm entgangen war, die er in seinem verblendeten Enthusiasmus übersehen hatte. Nun schüttelte er den Kopf über seine eigene Dummheit.
»Lass ihn los, Mitch!«, schrie Susannah und riss an seinem Arm. Aber irgendetwas lenkte sie ab, eine kleine Bewegung am Rand ihres Blickfelds. Sie wandte den Kopf zur Seite und entdeckte Sam, der dabei war, das Büro zu verlassen.
Er schaute sie an, und seine unverhohlene Resignation nahm ihr fast den Atem. Ja, jetzt gab er sie endlich frei. »Bye, Baby«, sagte er leise. »Sicher sehen wir uns irgendwann mal wieder.«
Für einen kurzen Moment hielten ihre Augen einander fest, dann nickte sie, um sich von ihrer ersten großen Liebe zu verabschieden. Leb wohl, Sam Gamble, alles Gute.
Da verzogen sich seine Lippen zum alten dreisten Grinsen – dem Grinsen des Harley-Davidson-Piraten, der sie bei der Hochzeit entführt und ihr Schicksal neu gestaltet hatte. Und dann kehrte er allen einstigen Partnern den Rücken, um eine neue magische Welt zu erobern.
Aus dem Lautsprecher tönte »Twist and shout«.
»Verdammt noch mal, kämpf mit mir!«, befahl Mitch. So großartig das auch klang, es fiel ihm schwer, die Willenskraft aufzubringen, um ins Gesicht eines so armseligen Gegners zu schlagen. »Kämpf mit mir, verdammter Schurke!«
Aber da es um physische Gewalt ging, stand Yank vor einem Rätsel. Obwohl ihm der Gedanken gefiel, nach all den Jahren endlich in eine Keilerei verwickelt zu werden, kämpfte er nicht gern. Weil er keine Zeit fand, alles durchzudenken, zu überlegen, zu planen.
In Wirklichkeit fand Mitch die Frauen viel problematischer als den armen Yank. Wie Kletten hingen die Faulconer-Schwestern an ihm. Sobald er die eine abgewehrt hatte, stürzte sich die andere wieder auf ihn. Paige umklammerte seinen Hals, Susannah zerrte an seiner Taille. Nun fing sein Knie zu schmerzen an. Und als er gegen die Trennwand geprallt war, hatte er sich den Ellbogen aufgeschürft.
Was zum Teufel trieb er eigentlich? Er war achtunddreißig Jahre alt, zweifacher Vater, ein Mitglied des United-Way-Board-Aufsichtsrats. Großer Gott, hatte er den Verstand verloren? Er ließ Yank los und lockerte Paiges Würgegriff. Sobald Susannah merkte, dass sein Kampfgeist erloschen war, glitt ihr Arm von seiner Taille hinab.
Yank blinzelte verwirrt, und Mitch starrte ihn wütend an. »Du wirst nicht mit Susannah ins Bett gehen.«
»Nein, das wäre keine gute Idee.«
Jetzt entstand ein langes Schweigen. Mitch musterte Yank, dann Susannah. Und die ganze Anspannung wich aus seinem Körper wie die Luft aus einem zu prall gefüllten Ballon.
»Tut mir Leid.« Yank zwinkerte heftig weiter. »Aber ich fürchte, ich habe meine rechte Kontaktlinse verloren.«
Plötzlich krochen alle über den Boden und suchten die Kontaktlinse – froh über die Gelegenheit, sich wieder zu fassen. Unter einer Rolodex-Karteikarte fand Paige die glücklicherweise unversehrte Linse. Mitch rückte seine Krawatte zurecht und rieb seinen wunden Ellbogen. Und Susannah suchte ihren Schuh.
»Natürlich ist es schwierig ...«, begann Yank, nachdem er die Kontaktlinse wieder eingesetzt und einen aufgeschürften Fingerknöchel inspiziert hatte. »Sehr schwierig, wie wir uns da rausmanövrieren sollen. Also – Sam und ich hatten einen Deal. Dabei habe ich mich nicht allzu ehrenwert verhalten, und darauf bin ich gewiss nicht stolz. Ich hätte ihm verraten müssen, dass ich Victors erfunden habe. Andererseits – manchmal heiligt der Zweck tatsächlich die Mittel, und ich habe eine gewisse Verpflichtung.«
Jetzt war es Susannah, die ihn am liebsten niedergeboxt hätte. Auf unsicheren Beinen – sie hatte ihren Schuh noch immer nicht gefunden – hinkte sie zu Yank. »Würdest du’s dabei belassen? Es ist vorbei, dieser Wettkampf war völlig sinnlos.«
Zu ihrer Verblüffung donnerte Mitch: »Halt den Mund, Susannah! Wenn es darum geht, ein Unternehmen zu leiten, bist du Dynamit – aber ein hoffnungsloser Fall, sobald du dein Liebesleben organisieren müsstest. Viel zu lange habe ich’s schleifen lassen. Sechs Wochen bin ich dir aus dem Weg gegangen und habe abgewartet, bis du endlich nicht mehr den Eindruck erwecken würdest, du könntest jeden Moment zusammenklappen. Und jetzt reicht’s mir!«
»Untersteh dich, so mit mir zu reden!«
»Ich rede mit dir, wie’s mir passt. Und in diesem Moment habe ich das Sagen.« Er fuhr zu Yank herum. »Handeln wir einen Nebendeal aus.«
»Einen Nebendeal? Ja, eine gute Idee.«
Unrhythmisch begann Paiges Herz gegen die Rippen zu hämmern.
»Wie fangen wir’s an?«, fragte Mitch in geschäftsmäßigern Ton, nachdem er beruhigenderweise soweit alles unter Kontrolle hatte. »Dein Deal, dein Vorschlag.«
Nachdenklich kaute Yank an seiner Unterlippe. »Vielleicht könntest du mir Geld anbieten, dann wäre es offiziell.«
Bei solchen Verhandlungen hatte sich Mitch oft genug die Zähne ausgebissen, und er wusste, wie man zu einem schnellen Ende kam. »Fünf Dollar.«
»Fünf Dollar?«, mischte sich Susannah empört ein. »Hast du gesagt – fünf Dollar?«
»Ja, das wäre okay«, stimmte Yank zu. »Wenn’s dir nichts ausmacht, ich bevorzuge Bargeld. Meistens verliere ich die Schecks.«
Mitch zog seine Brieftasche hervor und öffnete sie. »Leider habe ich nur zwei Zwanziger. Kannst du mir was herausgeben?«
Nachdem Yank den Inhalt seiner eigenen Brieftasche inspiziert hatte, schüttelte er den Kopf. »Tut mir Leid, ich habe auch nur einen Zwanziger. Paige?«
Beinahe verlor Paige ihr Gleichgewicht, als sie zu ihrer Handtasche hechtete. Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie nichts fand. Vor lauter Verzweiflung schüttete sie den Inhalt der Tasche auf den Schreibtisch – Lippenstifte rollten davon, Kaugummipackungen flogen umher. Hastig ergriff sie die Brieftasche und öffnete das Fach für die Dollarscheine und atmete so schnell, dass ihr schwindlig wurde. »Nein – nein«, schluchzte sie. »O Gott – ich habe nur einen Fünfziger. Was nützt einem ein Fünfziger?« Dann drehte sie sich zu Mitch um und schrie: »Um Gottes willen, gib ihm zwanzig!«
Um ihre Würde wenigstens teilweise zu retten, verkündete Susannah mit einer Stimme, die an die Eiskappen der Pole erinnerte: »Falls das eine Auktion ist, opfere ich zwanzig Dollar und kaufe mich selber.«
»Nein, das ist keine Versteigerung«, protestierte Yank entschieden. »Das wäre erniedrigend.«
Da begann Paige zu würgen, und er klopfte ihr behutsam auf ihren Rücken.
Mitch gab ihm einen Zwanziger. »Aber ich will meine fünfzehn Dollar zurückhaben. Spätestens morgen.«
Wortlos nickte Yank und zog Paige an sich. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen, und sein wundes Kinn ruhte auf ihrem Scheitel.
Paige lehnte zufrieden an seiner Brust. Und dann versteifte sie sich, als ihr einfiel, was er ihr angetan hatte.
Yank hatte für Susannah gekämpft. Drei Männer hatten sich um ihre Schwester gebalgt. Nicht einer, sondern drei! Erinnerte sich denn niemand daran, dass sie die Hübsche war. Dass die Männer ihretwegen Amok liefen?
Daran erinnerte sich jedoch Yank sehr genau. Träumerisch starrte er auf das schöne blonde Geschöpf hinab, in das er sich so verzweifelt verliebt hatte. Paige verkörperte jedes Mädchen, das an ihm vorbeigegangen war, über seine Tollpatschigkeit gelacht und ihn dann ignoriert hatte. Sein Leben lang hatte er an der Seitenlinie gestanden und Frauen wie Paige Faulconer vorübergehen sehen, ohne dass sie ihn wahrnahmen. Damit war jetzt Schluss.
Wer hätte jemals erwartet, eine Frau wie Paige könnte sich in einen Mann wie ihn verlieben? Dass sie ihn liebte, wusste er. Schon in jener Nacht am Strand von Naxos hatte er es gespürt – ihre beiden Seelen passten perfekt zusammen. Aber er wünschte sich eine dauerhafte Liebe. Und so hatte er Paige Zeit und genug Spielraum gegeben, damit sie sich an ihn gewöhnte – obwohl er schon am ersten Abend den Wunsch verspürt hatte, sie für immer an sich zu binden, so fest, dass sie ihn niemals verlassen würde.
An diesem Tag hatte er sie zu Tode erschreckt. Für sie musste sein Entschluss, Susannah vor Sam zu retten, grauenvoll gewesen sein. Jetzt zürnte sie ihm natürlich. Aber er würde alles wieder gutmachen. »In den nächsten Tagen werde ich nicht zur Arbeit kommen, Susannah. Weil Paige und ich ein bisschen Zeit für uns brauchen – nur für uns beide.«
Verächtlich kräuselte Paige die Lippen, wie eine HighSchool-Queen, die man zwingen wollte, mit dem hässlichsten Jungen in der Klasse zu tanzen. »Und wenn du der letzte Mann auf Erden wärst – ich gehe nirgendwo mit dir hin. Du bist verrückt! Total übergeschnappt!«
Yank nahm sich Zeit, um seine Möglichkeiten zu überdenken. Als echter Wissenschaftler schwärmte er geradezu leidenschaftlich für die Wahrheit. Dass er Sam hereingelegt hatte, belastete sein Gewissen, obwohl er aus edlen Motiven gehandelt hatte. An diesem Abend hatte er seine moralischen Grundsätze schmerzlich genug verletzt. Ein zweites Mal würde er das nicht tun.
Oder?
»Wie du meinst, Paige. Würdest du mich zum Arzt fahren, Susannah? Mein Arm tut ziemlich weh. Vielleicht ist er sogar gebrochen ...«
Heiliger Himmel, er vermochte kaum zu atmen, während Paige ganz behutsam seinen Arm umfing und leise Trostworte gurrte. Plötzlich fühlte er sich wie ein bronzebrauner kalifornischer Surf-Gott mit klassisch gemeißelten Muskeln, einer weißen Zinksalbennase und einem Gehirn, das viel zu klein war, um jemals ernsthafte Probleme aufzuwerfen.
Susannah schaute den beiden nach. Eng umschlungen gingen sie davon, als wären sie in dieser Pose geboren worden. Im Büro herrschte auf einmal tiefe, bedrückende Stille. Mitch stand bei der Tür, eine Hand lose in der Tasche seiner marineblauen Hose, der andere Arm hing lässig hinab.
Vor lauter Nervosität konnte Susannah kaum denken. Monatelang war sie in einer Berg-und-Tal-Bahn rauf und runter gerast, halb krank vor Liebe zu Mitch. Und im Glauben, er würde ihre Schwester lieben, hatte sie ihre Emotionen so tapfer bezwungen. Jetzt wünschte sie, er würde sie in die Arme nehmen und all die zärtlichen Worte sagen, die sie ersehnte. Aber er schwieg beharrlich.
Um die angespannte Atmosphäre zu überspielen, begann sie zu schwatzen. »Mit Yanks Arm ist alles okay. Der Kerl manipuliert Paige. Also, ich schwöre dir – er wird immer sonderbarer. Und meine Schwester ...« Ihre Stimme erstarb. Machte sich Mitch denn gar nichts aus ihr? Doch, redete sie sich ein. Sonst wäre er nicht wie ein ausgerasteter Rowdy über Yank hergefallen. »Ich dachte ...«, begann sie und studierte einen Punkt an der Wand neben seiner Schulter, »... dass du und Paige ...«
Er sagte noch immer nichts, stand einfach nur da und musterte sie. Ja, dieser Blick wirkte eindeutig besitzergreifend. Sie erinnerte sich an die fünf Dollar und spürte, wie ihre Wangen brannten.
Bildete er sich wirklich ein, er hätte sie Yank abgekauft? Sie kniete nieder, um ihren Schuh zu suchen. Daraus machte sie eine große Show. Alles, nur damit sie Mitch nicht ansehen musste ... Sie spähte unter den Schreibtisch, unter ein Regal, zur Tür hinüber. Dort standen Mitchs Schuhe. Im Gegensatz zu ihren steckten seine Füße darin. Schwarz, glänzend poliert, lugten sie unter scharfen marineblauen Bügelfalten hervor.
Allmählich wurde die Stille unerträglich. Ihre Wangen fühlten sich nach wie vor heiß an. Als der Schuh dicht vor ihrem Gesicht zu Boden fiel, schreckte sie zusammen. Sie griff danach, und zwei starke Hände zogen sie hoch.
»Noch ist deine Scheidung nicht rechtskräftig.« Seine Miene wirkte überaus streng. Vielleicht ein bisschen gefährlich. »Wenn es so weit ist, verabreden wir uns im Schlafzimmer.«
Zunächst dachte sie, er hätte Konferenzzimmer gesagt. verabreden wir uns im Konferenzzimmer. War sie so verwirrt, dass sie ihn missverstand? Und als sie erkannte, was er tatsächlich gesagt hatte, wandte er sich zum Gehen.
O nein. Wütend knirschte sie mit den Zähnen. So funktionierte das nicht. Falls der Spießer glaubte, so was ließe sich auf geschäftsmäßiger Ebene regeln, täuschte er sich ganz gewaltig. Mit aller Kraft schleuderte sie ihren Schuh gegen die Tür. Blitzschnell reagierten seine Reflexe, obwohl sie ohnehin nicht beabsichtigt hatte, ihn zu treffen. Also verfehlte ihn der Schuh um einen Meter – was ihn aber nicht beruhigte.
Die Arme vor der Brust verschränkt, drehte er sich um und sagte tonlos: »Du hast dreißig Sekunden Zeit, Susannah.«
»Wofür?«
»Um dich nicht mehr wie ein bescheuerter Teenager zu benehmen und zu entscheiden, was du willst.«
»Keine Ahnung, was du meinst ...«
»Fünfundzwanzig Sekunden.«
»Hör auf, mich herumzukommandieren!«
»Achtzehn.«
»Du bist ein echter Idiot, weißt du das?«
»Fünfzehn.«
»Warum muss ich es sein?«
»Zwölf.«
»Warum kannst du’s nicht sagen?«
»Zehn.«
»Okay, ich sag’s.«
»Fünf.«
»Ich liebe dich, du Trottel!«
»Genau. Und untersteh dich, das zu vergessen.«
Er sah immer noch verdammt wütend aus. Aber in Susannahs Brust öffnete sich irgendetwas Warmes und Wundervolles. Sie wollte in seine Arme sinken und für ewig dort bleiben. Welche Magie mochten Mitchell Blaines Arme ausstrahlen, die in einer Frau den Wunsch weckten, sich darin zu verlieren?
Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, legte die Hände auf seine Brust und fühlte sein Herz so schnell rasen wie ihr eigenes. Da senkte sie die Wimpern und hob ihm die Lippen entgegen.
Stöhnend umfasste er ihre Handgelenke und schob sie von sich. »Noch nicht«, stieß er heiser hervor. »Nachdem ich dich gekauft habe, werde ich bestimmen, was geschieht.«
»Machst du Witze?« Empört riss sie die Augen auf.
Da bedachte er sie mit jenem kühlen Blick, den seine Konkurrenten fürchteten, wenn er sich um einen lukrativen Deal bewarb. »Dem Gesetz nach bist du noch verheiratet. Bevor deine Scheidung rechtskräftig ist, werde ich dich nicht anrühren. Denn wenn ich damit anfange, will ich nicht mehr aufhören.«
Voller Vorfreude bezwang sie einen wohligen Schauer und runzelte die Stirn. »Bis dahin dauert’s noch einen Monat, Mitch, eine lange Zeit.«
»Die solltest du gut nutzen.«
»Ich?«
Noch ein stahlharter Blick – aber sie sah diese komischen kleinen Lichter in der hellblauen Iris tanzen. »Am besten sage ich’s dir schon jetzt, Susannah. Für mein Geld erwarte ich Qualität.«
Teils entrüstet, teils belustigt stöhnte sie. Okay, auf dieses Spiel verstand sie sich genauso gut wie er. Nonchalant schob sie einen Finger unter seinen Krawattenknoten. »Was ich zu bieten habe, weiß ich ganz genau. Während du eine Katze im Sack bist.«
»Also, das ist genau die Art von Missachtung, an der wir hart arbeiten müssen, um sie auszumerzen.« Seine Stimme erinnerte sie an einen strengen Richter. Doch sie ließ sich keine Sekunde lang zum Narren halten. »Deine Einstellung muss sich von Grund auf ändern. Zumindest ein Anflug von Unterwürfigkeit wäre vonnöten.«
»Unterwürfigkeit?«
»Ich bin der Mann, du bist die Frau. Nach meiner Ansicht sagt das alles. Und dabei sollte es auch nach der Hochzeit bleiben.«
»Hast du gesagt – Hochzeit?«
»Das ziehe ich in Erwägung.«
»Ah, du ziehst es in Erwägung? Von allen arroganten ...«
»Erst mal musst du das Bewerbungsgespräch im Schlafzimmer absolvieren, Hot Shot. Und danach reden wir über einen Vertrag.«
Als sie nach Luft schnappte, verzog sich sein ernstes Gesicht zum breitesten Grinsen, das sie je gesehen hatte. Und bevor sie reagieren konnte, verließ er das Büro.
Nein, noch war sie nicht mit ihm fertig. Sie rannte zur Tür und sah ihn den Flur entlangschlendern. »Bleib sofort stehen, Mitchell Blaine!«, rief sie. »Liebst du mich?«
»Ja«, erwiderte er, ohne seine Schritte zu verlangsamen. »Seltsam, dass du danach fragen musst ...«
Und dann nahm er einen gewaltigen Anlauf und vollführte einen perfekten Hochsprung bis zur Decke hinauf.
Dabei rutschte sein Hemd nicht einmal um einen Zentimeter aus der Hose.