17
Das SysVal-Büro war eher spärlich ausgestattet. In drei Ecken standen drei verbeulte Metallschreibtische, in der vierten – von der Trennwand abgeteilt – zwei Werkbänke. Ein paar Poster von Rock-Konzerten, ein Kalender und eine ausklappbare Harley-Davidson-Reklame hingen an den Wänden.
Als Mitch eintrat, verglich er die Plakate unwillkürlich mit dem Helen-Frankenthaler-Gemälde, das sein letztes Büro geziert hatte. Obwohl es an diesem Montagmorgen erst kurz nach sieben war, saß Susannah bereits an ihrem Schreibtisch, die Füße unter dem Stuhl gekreuzt, einen Bleistift hinter ein Ohr geklemmt.
Lächelnd blickte sie von ihrem Notizblock auf. »Ich kenne die Geschichte von der Morgenstunde, die Gold im Mund hat. Aber solltest du nicht erst mal nach Hause gehen und dich ausruhen?«
»Ich habe im Flugzeug geschlafen«, erwiderte Mitch.
»Wie ist’s in Boston gewesen?«
»Nett.«
Sie bedrängte ihn nicht mit Fragen. Dafür war er dankbar, denn die Trennung von seinen Kindern am vergangenen Abend bedrückte ihn sehr. Beim Abschiedskuss hatten Lizas dunkle Löckchen nach Babyshampoo gerochen. Und David hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und ihn angefleht, nicht fortzugehen. Mitch blinzelte und wandte sich zur Kaffeekanne.
Nur zögernd begann Susannah zu sprechen. »Ich will nicht neugierig sein. Aber ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für dich ist, so weit von deinen Kindern entfernt zu leben. Falls du eine freundschaftliche Schulter brauchst ...«
»Ja, danke«, unterbrach er sie brüsk. Damit gab er ihr deutlich zu verstehen, sein Privatsphäre sei tabu. Um seine Probleme kümmerte er sich selber, und auf das Mitleid anderer Leute legte er keinen Wert. Er trug eine gefüllte Kaffeetasse zu seinem Schreibtisch und inspizierte den überdimensionalen Wandkalender. »Ist an diesem Wochenende irgendwas passiert?«
»Nicht viel. Ich habe einige neue Bestellungen bearbeitet, die Post sortiert, meine Haare gewaschen und geheiratet. Nichts Besonderes.«
Prompt fuhr er herum und verschüttete ein paar Tropfen Kaffee. »Was hast du?«
Susannah lachte. Erst jetzt bemerkte er die rosigen Wangen. Und ihr Gesicht hatte entspanntere Züge angenommen, als wäre sie mit einem Weichzeichner fotografiert worden. »Darüber haben wir schon eine ganze Weile nachgedacht. Du kennst Sam. Eine halbe Stunde vor der Hochzeit hat er’s mir gesagt.«
Während sie die Zeremonie auf dem Spielplatz schilderte, krallten sich seine Finger krampfhaft um die Kaffeetasse. Er war wütend. Für so etwas hatte er seine Kinder auf der anderen Seite des Kontinents verlassen? Er musste verrückt gewesen sein. Endlich verstummte sie. Mitch stellte die Tasse ab und musterte Susannah kühl. »Offen gestanden, ich kann nicht glauben, was ihr getan habt.« Da erlosch der Glanz in ihren Augen, und er fühlte sich wie ein tyrannischer, staubtrockener Lehrer auf dem Schulhof. Trotzdem verdrängte er seine vage Reue. Das hätte er voraussehen müssen. Doch er war zu begeistert von dem abenteuerlichen SysVal-Projekt gewesen, um sich mit der Beziehung zwischen Susannah und Sam zu befassen. Außerdem hatte er Sam nicht für einen häuslich veranlagten Mann gehalten. Verärgert beobachtete er, wie sie ihre Würde zu retten suchte.
»Was Sam und ich füreinander empfinden, weißt du.«
»Und ihr seid gar nicht auf die Idee gekommen, eure Heiratspläne mit mir zu besprechen?«
»Wir sind nicht auf deine Zustimmung angewiesen, Mitch.«
»Nein, aber ihr werdet verdammt noch mal einen Anwalt brauchen. Habt ihr euch überlegt, was diese Ehe für unsere Partnerschaft bedeutet?«
Sie war smart, das musste er ihr zugestehen. Allzu lange dauerte es nicht, bis sie begriff, wie großartig sie es zusammen mit Sam geschafft hatte, die halbe Kontrolle über die Firma an sich zu reißen. »Oh – tut mir Leid«, stammelte sie. »Daran dachte ich nicht. Noch diese Woche werden wir alles mit einem Anwalt in die richtigen Bahnen lenken. Wir haben keinen Machtkampf angestrebt – das müsste dir eigentlich klar sein.«
Okay, wahrscheinlich sagt sie die Wahrheit ... Gerade das fand er so unglaublich – von Anfang an hatte er gewusst, er würde sich mit Amateuren einlassen. Also durfte er niemandem Vorwürfe machen. Nur sich selbst. Susannahs Miene wirkte so verzweifelt, dass sein Zorn teilweise verflog. »Ist der glückliche Ehemann in der Werkstatt?«
Unsicher akzeptierte sie das Friedensangebot. »Noch im Bett.«
»Draußen steht sein Bike, und ich nahm an ...« Beim Anblick ihres selbstgefälligen Lächelns unterbrach er sich. »Hast du etwa die Harley selber hergefahren?«
»Ja, und es war wundervoll, Mitch. Ich kam der allmorgendlichen Rushhour zuvor, und so hielt sich meine Angst in Grenzen.«
Erfolglos versuchte er, sich vorzustellen, seine Exfrau würde auf ein Motorrad springen. Doch die Vermutung, Susannah würde Louise gleichen, hatte er schon vor Wochen über Bord geworfen.
Ihr Lächeln erstarb, und ihr ernsthafter Blick verscheuchte den letzten Rest seines Unmuts. »Freu dich mit uns, Mitch. Sam und ich brauchen einander so dringend.«
Solche intimen Geständnisse wollte er nun absolut nicht hören. Er nippte an seinem Kaffee und wies mit dem Kopf auf ihre Hand. »Kein Ehering?«
»Ein antiquiertes Symbol der Sklaverei.«
»Das klingt nach Sams Ansichten, nicht nach deinen.«
»Stimmt. Immerhin habe ich beschlossen, meinen Namen zu behalten, statt seinen anzunehmen.«
»Nicht alle althergebrachten Traditionen sind lausig.«
»Das weiß ich. Nur – mein Name ist das Letzte, was mich mit meinem Vater verbindet.« Zögernd fügte sie hinzu: »Noch bin ich nicht bereit, das aufzugeben.«
Mitch hatte inzwischen von Sam erfahren, in welcher Weise Joel Faulconer ihr den Rücken kehrte, und er versuchte sich auszumalen, er würde seine eigene Tochter so behandeln. Es gelang ihm nicht. »Wie reagiert Sam auf deine Weigerung, seinen Namen zu tragen?«
»Mindestens eine Stunde lang hielt er mir eine strenge Lektion. Aber ich glaube, es war eher ein rhetorisches Training als ein Zeichen echter Überzeugung. Im Grunde seines Herzens will er gar nicht, dass mich die Ehe in eine Jasagerin verwandelt.«
»Kein Wunder – er liebt leidenschaftliche Kämpfe.«
Susannah runzelte die Stirn. »Und ich fürchte mich nicht davor, mit ihm zu streiten. Nur weil wir verheiratet sind, werde ich seine Meinungen nicht nachbeten. Sobald es um SysVal geht, stehe ich meine Frau.«
Mal sehen, dachte Mitch, mal sehen ...
Am Ende der nächsten Woche hatten sie die nötigen juristischen Maßnahmen ergriffen, um die Firma zu schützen, falls Sams und Susannahs Ehe scheitern sollte. Mittels hieb-und stichfester Dokumente wurde sichergestellt, dass die Partnerschaftsanteile infolge eines Scheidungsvertrags nicht den Besitzer wechseln konnten. Falls es Sam oder Susannah deprimierte, Papiere zu unterschreiben, die – zumindest theoretisch – das Ende einer eben erst begonnenen Ehe betrafen, ließen sie sich nichts anmerken.
Der Herbst ging allmählich in den Winter über, und Mitch wartete ab, ob Sams und Susannahs Ehe geschäftliche Entscheidungen beeinflussen würde. Schließlich musste er zugeben, dass Susannah viel öfter auf seiner Seite stand, statt ihren Mann zu unterstützen.
Während sich die SysVal-Partner an ihr neues Büro gewöhnten, operierte die kleine Apple Computer Company immer noch von der Garage in Cupertino aus, die Jobs’ Familie gehörte. Die Firmengründer arbeiteten ebenfalls am Prototyp eines selbstständigen Computers, den sie Apple II nennen wollten. Eines Abends, Anfang Dezember, fand Mitch bei einem Videospiel im Mom & Pop’s heraus, dass Yank völlig ungezwungen mit Steve Wozniak über die Entwicklung des Blaze diskutiert hatte.
Ungläubig nahm er diese nur nebenbei erwähnte Information zur Kenntnis. »Bist du verrückt?«, herrschte er Yank an, der vor dem benachbarten Videogerät stand. »Dein Entwurf ist der wichtigste Vermögenswert unserer Firma. Darüber kannst du der Konkurrenz nichts verraten. So was darf nie wieder passieren. Nie wieder!«
Yank reagierte völlig verständnislos auf Mitchs Zorn. »Schon seit Jahren respektiere ich Woz’ Arbeit, ebenso wie er meine«, entgegnete er in seinem ruhigen, vernünftigen Ton. »Und wir haben einander immer geholfen.«
Als die lautstarke Auseinandersetzung begann, spielte Susannah gerade Super Pong und bemerkte die neugierigen Blicke eines Paars, das in einer benachbarten Nische saß. Unauffällig trat sie zur Seite und hoffte, ihr Körper würde die Konfrontation gegen die Öffentlichkeit abschirmen.
Beruhigend sprach Sam auf Mitch ein. »Hier draußen lebst du in einer anderen Welt. Yank ist ein Hacker. Und Hacker verstehen nicht einmal das Konzept vom ausschließlichen Besitz einer Information.«
»Hört mir zu! Ihr alle!« Mitchs Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Mit SysVal treiben wir keine Spiele. Von jetzt an ist jede Info über das Blaze-Design unser geistiges Eigentum, bis hinunter zur Anzahl der Schrauben, die das Gehäuse zusammenhalten. Darüber gibt’s keine Diskussion. Niemand redet in der Öffentlichkeit über unser Produkt. Habt ihr mich verstanden?«
Yank wandte sich von Mitch ab, und sein Blick schien Sam zu durchbohren. Dann sagte er laut und deutlich: »Das ist reine Scheiße!«
Zum ersten Mal drückte er sich in Susannahs Anwesenheit so vulgär aus. Ohne ein weiteres Wort stapfte er davon und verließ das Lokal.
So wütend hatte sie Mitch noch nie gesehen. In seiner impulsiven Art wollte Sam die Situation mitten im Mom & Pop’s bereinigen. Aber sie scheuchte die Männer hinaus, und sie fuhren zu dem Apartment, das sie mit Sam jetzt bewohnte.
Es war klein und schmuddelig, mit einer Aussicht auf die Mülltonnen. Aber Susannah liebte das Heim, das sie nur mit Sam teilte, und das schäbige Ambiente störte sie nicht. Sie hatten weder Zeit noch Geld, um irgendwas zu verbessern. Wahrscheinlich war das gut so. Wie sie sich eingestand, hatte sie nie fürs häusliche Leben geschwärmt. Müsste sie entscheiden, ob sie an der Entwicklung des Prototyps mitarbeiten oder Vorhänge fürs Wohnzimmer aussuchen wollte, würde der Blaze mit Abstand gewinnen.
Nachdem Sam ein Bier für Mitch und eine Cola für sich selbst aus dem Kühlschrank genommen hatte, begann er, umherzuwandern. Susannah sank in den einzigen vorhandenen Sessel. Und Mitch, immer noch erbost über Yanks Verletzung der Sicherheitsvorschriften, setzte sich auf die Couch. Finster runzelte er die Stirn. Diese Positionen nahmen sie meistens ein, wenn sie spätabends zu dritt ihre Geschäftsstrategie erörterten und präzise definierten, wie sie ihr Firma betreiben wollten.
Wie viele Nächte hatten sie schon auf diese Weise verbracht – Sam beschwor Illusionen von einem Bürogebäude mit Glaswänden, offenen Türen und Rock-Musik herauf, während Mitch mit einer pragmatischeren Vision konterte. Sie konzentrierte sich nicht auf utopische Arbeitsplätze, sondern auf wachsende Marktanteile und lawinenartig ansteigende Gewinne. Trotz der Freundschaft zwischen den beiden Männern lagen sie sich dauernd in den Haaren, und Susannah musste häufig die Vermittlerin spielen. Daran würde sich auch an diesem Abend nichts ändern.
Seine Hände in die Hüften gestemmt, schaute Sam zu Mitch hinüber. »Klar, du hast deinen Magister am Massachusetts Institute of Technology gemacht, aber Yank und ich sind Valley-Kids. Wir wurden nicht an Universitäten ausgebildet – wir haben in den Vororten Wurzeln geschlagen, in den Garagen. Für Hacker liegt der ganze Reiz darin, Codes zu knacken, in geschlossene Systeme einzudringen, und ein selbst entworfenes Design jemandem zu zeigen, der schlau genug ist, um die fantastische Leistung zu würdigen. Wenn du einem Hardware-Hacker wie Yank verbietest, seine brillante Erfindung mit jemandem zu erörtern, der was davon versteht, nimmst du ihm die Luft zum Atmen.«
»Dann haben wir ein ernsthaftes Problem«, verkündete Mitch frostig.
Tiefe Stille erfüllte den Raum, und Susannah seufzte. Warum konnte keiner der beiden den Standpunkt des anderen verstehen? Wieder einmal empfand sie das Bedürfnis, die beiden Köpfe gegeneinander zu schlagen. Für Mitch zählte nur die Realität, für Sam eine Vielfalt von Möglichkeiten. Anscheinend erkannte nur sie, dass einzig und allein die Verschmelzung beider Philosophien zu SysVals Erfolg führen würde.
Und so schlüpfte sie erneut in die Rolle der Schlichterin, als wäre das ein alter, bequemer Bademantel. »Vergiss nicht, Mitch – wenn Yank mit dem Blaze prahlt, verschafft er sich auch gewisse Einblicke in den Apple II. Sicher wird uns das Vorteile bringen.«
»Quatsch!«, protestierte Mitch. »Falls wir – dank der Gnade des Allmächtigen – tatsächlich mit dieser lächerlichen Firma reüssieren, können wir nicht bis in alle Ewigkeit funktionieren, wenn unsere neuesten Technologien ständig aus dem Fenster fliegen.«
»Da hast du Recht. Aber in diesem Fall sind wir machtlos, weil Yank einfach nicht auf so was achtet.« Über diese Schwierigkeiten hatte sie bereits nachgedacht, und jetzt verriet sie ihre Ideen. »Sobald es unsere Finanzen erlauben, umgeben wir ihn mit den talentiertesten jungen Ingenieuren, die wir finden – mit exzentrischen Denkern von seinem Kaliber. Innerhalb unserer Grenzen schaffen wir eine Homebrew-Atmosphäre.«
Sams Augen leuchteten auf. »Natürlich! Die kreativsten Leute werden Schlange stehen, um für uns zu arbeiten. Bei uns gibt’s keine Stechuhren, keine Arschlöcher in dreiteiligen Anzügen, die den Leuten sagen, was sie tun müssen.«
»Aber alles muss unter Kontrolle bleiben«, wandte Mitch ein. »Das gesamte Personal arbeitet auf ein gemeinsames Ziel hin.«
»Ja – welches Ziel verfolgen wir? Wir wollen der Welt den wunderbarsten kleinen Computer schenken, der jemals erzeugt wurde!«
»Und einen enormen Profit machen«, ergänzte Mitch.
Lächelnd nippte Susannah an ihrem Tee. »Also sind wir uns einig.«
Der Dezember verstrich – einerseits rasend schnell, voll hektischer Aktivitäten, andererseits schmerzlich langsam. Für Susannah war die Weihnachtszeit problematisch. Während sie rings um Angelas künstlichen, mit Plastikschmuck und rosa Lamettagirlanden grell dekorierten Baum Geschenke austauschten, schweiften Susannahs Gedanken zur hoch aufragenden Douglastanne in der Eingangshalle von Falcon Hill. Dort hingen an den duftenden dunkelgrünen Zweigen französische Seidenbänder und Barockengel. Würden Joel und Paige an diesem Tag an sie denken? Wie albern von ihr, die zaghafte Hoffnung zu hegen, das Weihnachtsfest würde die Familie auf magische Weise wieder zusammenführen. Beim Anblick des Plastik-Santa-Claus an der Spitze von Angelas Baum empfand sie unerträgliche Wehmut.
Obwohl sie sich sagte, das dürfte sie nicht tun: Als Angela und Sam am späten Nachmittag ein Footballspiel im TV ansahen, schlich sie in die Küche und wählte die Nummer von Falcon Hill. Das Telefon läutete, und sie biss auf ihre Lippen.
»Hallo.« Die tiefe Stimme ihres Vaters, kurz angebunden, so vertraut – so geliebt ... Umso schwächer und dünner klang ihre eigene.
»Vater? Hier – hier ist Susannah.«
»Susannah?« Ein deutliches Fragezeichen hinter der letzten Silbe, als hätte er vergessen, wer sie war ...
Mit bebenden Fingern umklammerte sie den Hörer. »Ich – ich wollte nur anrufen, um dir fröhliche Weihnachten zu wünschen.«
»Tatsächlich? Das war überflüssig.«
Die Augen zusammengekniffen, spürte sie, wie sich ihr Magen umdrehte. Nein, er würde nicht nachgeben. Wieso hatte sie auch nur sekundenlang darauf gehofft? »Geht es dir gut?«
»Ja, Susannah. Aber ich fürchte, du meldest dich zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt. Paige hat ein fabelhaftes Festmahl vorbereitet. Gerade wollten wir uns an den Tisch setzen.«
Erinnerungen an frühere Weihnachtstage überwältigten sie – Kerzenschein, Düfte, stilvolles traditionelles Dekor. In ihrer Kindheit hatte der Vater sie auf die Schultern gehoben, damit sie den Engel an der Tannenspitze berühren konnte. Ein Engel für einen Engel, hatte er gesagt. Jetzt würde Paige ihren Platz am unteren Ende der Tafel einnehmen, und Daddy würde sein besonderes, für sie reserviertes Lächeln ihrer Schwester schenken.
Weil sie fürchtete, in Tränen auszubrechen, sagte sie hastig: »Nun, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Bitte, richte auch Paige die besten Weihnachtswünsche von mir aus.« Bleischwer lag der Hörer in ihrer Hand. Doch sie war unfähig, die kostbare Verbindung zu beenden und einzuhängen.
»War das alles?«
Entschlossen riss sie sich zusammen. »Ich wollte euch nicht stören, es ist nur ...« Trotz aller Mühe brach ihre Stimme. »Daddy, ich habe geheiratet.«
Keine Reaktion. Kein Staunen, geschweige denn ein Ausdruck gewisser Zuneigung.
Über ihre Wangen begannen Tränen zu rollen.
Endlich sprach er wieder, mit der heiseren Stimme eines alten Mannes. »Warum dachtest du, das würde mich interessieren?«
»Bitte, Daddy ...«
»Ruf mich nicht mehr an, Susannah. Es sei denn, du bist bereit, nach Hause zu kommen.«
Jetzt schluchzte sie laut und vernehmlich. Trotzdem konnte sie das Telefonat nicht beenden. Wenn sie noch eine kleine Weile durchhielt, würde sich alles zum Guten wenden. Immerhin war Weihnachten. Nur noch eine Minute – und der unselige Zwist wäre überstanden. »Daddy ...«, würgte sie hervor. »Bitte, hör auf, mich zu hassen. Ich werde nicht zurückkommen. Aber ich liebe dich.«
Ein paar Sekunden geschah gar nichts. Dann ertönte ein leises Klicken, und sie hatte das Gefühl, das letzte fragile Band zwischen Vater und Tochter wäre endgültig zerrissen.
In der Küche von Falcon Hill presste Paige den Hörer an ihr Ohr und lauschte dem klickenden Geräusch, mit dem der Vater das Telefonat mit ihrer Schwester abbrach. Dann legte sie den Hörer auf die Gabel und wischte die feuchten Handflächen an ihrer Schürze ab. Ihr Mund war trocken, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
Auf dem Rückweg zum Herd verdrängte sie die Erinnerung an sich selbst – in einem schäbigen Hausflur, ein schmutziges Telefonkabel um die Finger gewickelt, während sie versucht hatte, ihrem Vater ein liebevolles Wort zu entlocken. Sie weigerte sich, Mitleid mit Susannah zu empfinden. Letzten Endes hat die Gerechtigkeit gesiegt – so einfach ist das, dachte sie und stellte die Hitze unter dem Gemüse kleiner. Dann nahm sie den Bräter mit dem Truthahn aus dem Backofen. Die letzten Weihnachten hatte sie völlig stoned und todunglücklich in einem Apartment voller Küchenschaben verbracht. Und dieses Jahr war Susannah die Ausgestoßene.
Die Dienstboten hatten an diesem Tag frei. Deshalb war sie verantwortlich für das Weihnachtsdinner. Darauf hatte sie sich schon wochenlang gefreut. Der Truthahn garte zwischen anderen verschiedenen Kasserollen im Backofen nach. Auf der Theke standen Platten mit wundervollen Obstkuchen, sorgsam hatte sie kunstvolle Ranken und Herzen in die Glasur geritzt. Während der letzten sieben Monate hatte sie erstaunlich viel Freude an schlichter Hausarbeit gefunden und sogar einen kleinen Kräutergarten nahe der Küchentür gepflanzt. Regelmäßig schmückte sie das Haus mit üppigen, wild wuchernden, altmodischen Blumensträußen, statt der formellen Arrangements, die Susannah stets beim Blumenhändler bestellt hatte.
Nicht, dass ihr Vater diese häuslichen Note, die vielen besonderen Nuancen wahrnahm ... Er bemerkte nur ihre Versäumnisse – die gesellschaftliche Veranstaltung, die sie zu notieren vergessen hatte, die Toiletten, die sie nicht reparieren ließ, den Installateur, den sie nicht bestellte. All diese Pflichten hatte ihre Schwester ohne Fehl und Tadel erledigt. Der neueste Ludlum-Thriller, der auf seinem Nachttisch lag, oder das Festessen, das ihn bei seiner Rückkehr von einer Reise erwartete – das alles schien nicht zu zählen.
»Brauchst du Hilfe, Paige?«
Lächelnd wandte sie sich zu Cal, der seinen Kopf zur Küchentür hereinsteckte. Dass er ein Opportunist war, wusste sie. Wäre sie nicht Joel Faulconers Tochter, würde er sich wohl kaum als so guter Freund erweisen. Zumindest verstand er, wie schwierig ihr Vater sein konnte. Mitfühlend hörte er zu, wann immer sie ihm ihre Probleme anvertraute. Und es beglückte sie, jemanden an ihrer Seite zu wissen.
»Lass mich nur den Truthahn auf die Platte legen, dann kannst du ihn hineintragen.«
Da sie nur zu dritt essen würden, hatte sie beschlossen, auf den großen, formellen Speiseraum mit der langen Tafel zu verzichten. Vor dem gemütlichen Kamin im Wohnzimmer stand nun ein kleiner Tisch mit herunterklappbaren Seitenteilen aus Kirschbaumholz. Von dort aus würden sie durch den Torbogen, der in die Halle führte, den Lichterbaum sehen.
Als das Essen angerichtet war, setzten sich alle, und sie entfernte die rotgrüne Schleife von ihrer Serviette. Ein antiker Tafelaufsatz stand in der Tischmitte. Am Vortag hatte sie ihn mit Tannenzweigen und Miniaturmöbeln aus einem Puppenhaus geschmückt, das ihr beim Stöbern auf dem Dachboden in die Hände gefallen war. Seltsam, wie viel Spielzeug in diesem Haus überlebt hatte – sogar ein paar winzige Barbie-Puppen-Schuhe. Kaum zu glauben, dass im Lauf der Jahre nichts verloren gegangen war. Andererseits hatte Susannah die Spielsachen stets sorgsam gehütet.
Alte Erinnerungen kehrten zurück, während ihr Vater den Truthahn tranchierte. Den Blick ins Nichts gerichtet, sah sie Susannahs glattes kastanienbraunes Harr nach vorn fallen. Eifrig grub sie ein kleines Monopoly-Haus aus, das Paige im dicken Flauschteppich ihres Schlafzimmers verloren hatte. Oder Susannah, die in makellos sauberen gelben Shorts auf der Terrasse kniete und die Wachsmalstifte ihrer Schwester vor dem heißen Sonnenschein rettete. Diese Stifte benutzte Paige nicht mehr, wenn die scharfe Spitze abgestumpft war. Aber Susannah hatte die Papierhüllen stets geduldig nach unten geschoben und auch die kleinsten Stummel aufgebraucht. Völlig unerwartet spürte Paige eine schmerzliche Leere in ihrer Brust.
Trotz ihrer sorgfältigen Vorbereitungen und Cals Versuch, Konversation zu machen, war die Mahlzeit kein Erfolg. Joel wirkte müde. Kaum ein Wort kam über seine Lippen, und Paige suchte vergeblich nach interessanten Gesprächsthemen. Kurz nachdem sie das Dessert gegessen hatten, verabschiedete sich Cal, was sie ihm nicht übel nahm. Sie begleitete ihn zur Tür, wo er sie teilnahmsvoll anlächelte und einen freundschaftlichen Kuss auf ihre Wange drückte. »Morgen rufe ich dich an.«
Sie nickte und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen hatte sich Joel mit einem Buch auf die Couch gesetzt. Doch sie bezweifelte, dass er darin las, und fühlte sich einsamer, als wäre sie allein gewesen.
»Ich werde jetzt in der Küche sauber machen«, sagte sie unvermittelt.
Da klappte Joel das Buch zu und zeigte auf die Reste des Weihnachtsdinners. »Was ist bloß in dich gefahren? Warum musstest du uns an diesen lächerlichen kleinen Tisch verfrachten? Wo wir doch ein perfektes Speisezimmer besitzen, das mich ein Vermögen gekostet hat!«
Nur mühsam widerstand Paige dem Impuls, ihn anzuschreien – ihn spüren zu lassen, wie sehr er sie verletzt hatte. »Wir waren nur zu dritt. Deshalb dachte ich, hier wäre es gemütlicher.«
»Tu das nie wieder. Susannah hätte niemals ...« Abrupt verstummte er.
Über ihren Rücken rann ein Schauer. »Susannah ist nicht mehr hier, Daddy. Jetzt bin ich da.«
Plötzlich schien er einen inneren Kampf auszufechten, und zum ersten Mal, seit sie denken konnte, wirkte er unsicher. In den Seelenschmerz mischte sich ein sonderbares Angstgefühl. Steifbeinig stand er auf.
»Ich weiß, du findest mich unvernünftig, Paige. Aber ich bin nun einmal an gewisse Gepflogenheiten gewöhnt. Vielleicht bin ich dir gegenüber unfair.«
So nahe war er noch nie an eine Entschuldigung herangekommen. Auf dem Weg zur Tür ging er nahe an ihr vorbei und streckte eine Hand aus. Ungeschickt tätschelte er ihren Arm.
Immerhin etwas, dachte sie und schaute ihm nach. Dann trat sie ans Fenster und betrachtete den perfekt gepflegten Dezembergarten von Falcon Hill. In ihrer Fantasie erschien das Bild eines anderen Weihnachtstags. Sie sah sich selbst in Blue Jeans statt im Seidenkleid neben einem Weihnachtsbaum stehen, der nicht mit Barockengeln, sondern mit Girlanden aus Bastelpapier geschmückt war. Und sie sah kreischende, schlampig gekleidete Kinder mit zerzaustem Haar, die am Geschenkpapier rissen, einen leidgeprüften Golden Retriever, und ein gesichtsloser Ehemann in einem ausgeleierten Sweatshirt umarmte sie ...
In ihren Augen brannten Zornestränen. »Zum Teufel mit Norman Rockwell«, murmelte sie und dachte angewidert an den so berühmten Zeichner und seine Illustrationen aus dem Alltagsleben, die sie normalerweise furchtbar kitschig fand.