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Nirgendwo würde man eine eklatantere Versammlung von Freaks und Außenseitern finden – bebrillte kalifornische Jungs aus den sechziger Jahren, in den Vorstädten des Santa Clara Valley, südlich von San Francisco.

In anderen Teilen Amerikas beherrschten Baseball und Football die Szene, im Santa Clara Valley durchdrangen elektrotechnische Elemente die Luft. Hier lagen Stanford und Hewlett-Packard, das Ames Research Laboratory und Fairchild Semiconductor. Von morgens bis abends atmeten die Valley-Kids alle Wunder der Transistoren und Halbleiter ein.

Statt für den Basketballspieler Wilt Chamberlain und den Footballstar Johnny Unitas zu schwärmen, erblickten die Jungs aus den sechziger Jahren ihre Helden in den Elektrotechnikern, die nebenan wohnten und in den Labors von Lockheed und Sylvania schufteten. Die Elektronik prägte das Santa Clara Valley. Und so waren die bebrillten jungen Freaks in den Vorstädten mit ihren Rechenschiebern und ihrem Markenzeichen – den kultigen Plastiketuis für tintenverschmierte Kugelschreiber in den Taschen – die modernen Marco Polos. Abenteurer, die das exotische Mysterium der elektronischen Funktionen und Sinuswellen entschlüsselten...

Allmählich entwickelten sie ein bemerkenswertes Geschick im Tauschhandel. Wenn sie bei den benachbarten Technikern ein paar Jobs in Haus und Garten erledigten, verlangten sie zur Belohnung überschüssige Geräte, die diese Männer aus den Lagerhallen der Firmen entwendeten, für die sie arbeiteten. Um Schachteln mit Kondensatoren und Leiterplatten einzuheimsen, wuschen die Freaks Autos oder strichen Garagenwände. Jeden Penny, den sie verdienten, investierten sie in Teile für Transistorschaltungen und Amateurfunkgeräte. Mit Feuereifer bastelten sie solche Apparate in ihren Schlafzimmern.

Sonst konnten sie nicht viel mit ihrem Geld anfangen. Um Autos zu fahren, waren die meisten noch zu jung. Und die Älteren mussten ihre paar Dollars nicht für Dates sparen, denn die kalifornischen Schulmädchen, die was auf sich hielten, wären lieber tot umgefallen, als sich mit diesen unsportlichen Außenseitern zu zeigen. Einige waren so übergewichtig, dass ihre Bäuche über dem Hosenbund hervorragten, andere so dünn, dass ihre Adamsäpfel dicker wirkten als die Hälse. Zudem hatten sie blasse Gesichter voller Pickel, ihre Schultern hingen nach vorn, und sie blinzelten kurzsichtig.

Später gingen sie aufs College. Aber trotz ihrer eindrucksvollen Intelligenzquotienten schafften ein paar besonders Talentierte keinen Abschluss. Statt die Thermodynamik-Kurse zu besuchen oder für ein Examen in Quantenmechanik zu büffeln, amüsierten sie sich lieber im Computerlabor ihrer Universität.

Sie programmierten die Großrechner, um Spiele auszutüfteln, und so explodierten funkelnde Galaxien auf den Bildschirmen, zwischen Konstellationen, die sich tatsächlich in der richtigen Weise bewegten. Tagsüber schliefen sie, denn sie kamen nur nachts an die Maschinen heran. Dann aber hackten sie, bis sie am Morgen von den Assistenten der Professoren rausgeworfen wurden. Weil sie nur Junk Food aßen, waren sie erbärmlich unterernährt. Im bläulichen Licht der Monitore fristeten sie ein ungesundes Dasein, wachsbleich wie Vampire.

Ständig kämpften sie mit sexuellem Frust. Wenn sie nicht vor den Computern saßen, träumten sie von vollen Brüsten, die sie in ihrer Fantasie betasteten und küssten, oder von süßen kleinen Ärschen unter Miniröcken. Doch sie lebten nur nachts. Deshalb war es natürlich extrem schwierig, Mädchen zu treffen. Und falls es ihnen gelang, gab es Probleme. Wie sollte man mit jemandem reden, der nichts von dem Glücksgefühl verstand, einen Abend mit einem DEC PDP-8 zu verbringen und ein Teilprogramm zu entwickeln, das quadratische Funktionen beherrschte?

Zweifellos waren sie Mega-Freaks, und ihre Beziehungen zum anderen Geschlecht gingen unweigerlich schief.

Die meisten waren so begeistert und überwältigt von der aufregenden Hackerei, dass sie gar nicht auf die Idee kamen, sie würden die Schlüssel zu einer neuen Gesellschaft in den Händen halten. Natürlich sehnten sie sich nach kleinen, billigen Geräten, die sie jederzeit benutzen konnten, statt um drei Uhr nachts in ein Computerlabor zu schleichen. Aber solche Gedanken gingen niemals über vage, flüchtige Tagträume hinaus. Denn es machte viel zu großen Spaß, eine komplizierte Sinus-Cosinus-Routine zu entwickeln, mit der ein selbst erfundenes Computerspiel noch besser funktionierte. Sie waren Hacker, keine Visionäre. An die Zukunft dachten sie nur selten.

Doch es gab sie, die Visionäre. Mit rebellischen jungen Augen, vom althergebrachten Wissen unverdorben. Sie sahen, was geschah, wenn sich die Freaks versammelten – zum Beispiel im Homebrew Computer Club. Was die Visionäre dort beobachteten, verstanden sie.

Ungeduldig wanderte Sam auf dem Fußweg hin und her, der zum SLAC führte – zum Stanford Linear Accelerator Center. Susannah verspätete sich. Vielleicht würde sie gar nicht kommen. Er schob die Hände in die Gesäßtaschen seiner Jeans und berührte seine Brieftasche. Weil er an diesem Tag sein Gehalt vom Konto abgehoben hatte, fühlte sie sich etwas dicker an als normalerweise. Danach hatte er zwei Bücher gekauft – Arthur Charles Clarkes »Profiles of the Future« und Marvin Minskys »Society of Mind«, außerdem eine neue Eagles-Kassette.

Wie er seinen Job hasste ... Er war Techniker bei einer kleinen Halbleiterfirma in Sunnyvale. Was er tat, bereitete ihm keine Mühe. Aber da er keinen akademischen Grad erworben hatte, endete die Arbeit stets in einer Sackgasse. Auch Yank konnte keinen Studienabschluss vorweisen. Trotzdem hatte er einen guten Job bei Atari, den er seiner genialen Begabung verdankte. Diese Stellung würde er vermutlich bald verlieren. Er war chronisch arbeitslos, denn er vertiefte sich immer wieder in unglaubliche Hackereien und vergaß, an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Inzwischen hatte Sam die Erkenntnis gewonnen, moderne Firmen – sogar fortschrittliche wie Atari – wären nicht für Typen wie Yank geschaffen. Nach seiner Ansicht gehörten die Stechuhren zu den hunderttausend Dingen, die in der Geschäftswelt dieses Landes falsch liefen.

Als er sein Studium aufgegeben hatte, war er eine Zeit lang auf seinem Motorrad durch die Staaten getrampt. Das hatte er in vollen Zügen genossen. Er hatte zahllose Leute kennen gelernt und mit vielen Frauen geschlafen, bis ihm dieses ziellose Leben auf die Nerven gefallen war. Wieder daheim, hatte er sich mit Yank Yankowski zusammengetan, der soeben von der Cal Tech abgegangen war.

Schon seit der Kindheit kannten sie sich. Aber Yank war ein Jahr älter, und sie hatten in verschiedenen Cliquen verkehrt. Sam war ein Radaubruder und Yank fast unsichtbar gewesen – ein verschrobener dünner Junge, der sich in der Garage seiner Eltern verkrochen und seltsame Apparate gebastelt hatte.

Das Surren eines bestens eingestellten deutschen Motors erregte Sams Aufmerksamkeit, und er beobachtete den silbernen Mercedes, der auf den Parkplatz fuhr. Als er das effektive, sachliche Design des Vehikels begutachtete, empfand er reine Freude. Eigentlich gab es keinen Grund, warum Detroit nicht auch solche Autos bauen konnte – abgesehen von Profitgier und mangelnder Fantasie.

Während Susannah den Fußweg entlangging, glich sie haarscharf seiner Traumfrau, die er begehrt und nie bekommen hatte. Weder ihr Geld noch ihre äußeren Vorzüge reizten ihn. Oft genug hatte er mit reichen Frauen geschlafen, und ganz sicher mit schöneren. Aber Suzie war anders. Er verfolgte ihre Bewegungen, betrachtete den fein geschwungenen Mund, ihren schlichten, locker gegürteten Kaschmirmantel. Einfach Klasse, genau wie ihr Mercedes. Typisch Miss Faulconer.

Sie ging zu ihm, kerzengerade wie der hölzerne Zollstock, den ihr die Großmutter in der Kindheit auf den Rücken geschnallt hatte. An diesem Abend würde sie nicht hierher kommen ... Das hatte sie sich den ganzen Tag eingeredet  – und dann mit Madge Clemens telefoniert, um das Lunchprogramm für die Ehefrauen der regionalen FBT-Vizepräsidenten zu besprechen. Madge überlegte, ob Susannah jemanden einladen sollte, der was von »Frauenthemen« verstand, der allerletzte Schrei – oder vielleicht einen Gastredner? Und wäre es nicht nett, wenn alle Damen persönliche Musterbücher mit Kleiderstoffen erhielten? Plötzlich besann sie sich anders und verlangte, dieser wunderbare Doktor, von dem ihre Schwester erzählt habe, müsse unbedingt eingeladen werden.

»Wirklich, er ist fabelhaft, Susannah. Sein Vortrag würde jeder Dame wertvolle Anregungen geben. Sicher bringt er Dias mit. Und für die Menopause interessieren wir uns doch alle ...«

Susannah sagte kein Wort. Sekundenlang saß sie reglos da, dann legte sie langsam den Hörer auf die Gabel, mitten in Madges nächstem Satz. Das war furchtbar unhöflich – sogar unverzeihlich. Aber ihre Hand hatte sich wie aus eigenem Antrieb bewegt. Zehn Minuten später war sie in den Mercedes gestiegen, um nach Palo Alto zu fahren.

»Tut mir Leid, dass ich so spät komme, Sam. Der dichte Verkehr – und ich ...«

»Haben Sie den Mut verloren?« Er schlenderte ihr entgegen, ein bisschen o-beinig, so als würde er auf seiner Harley sitzen.

»Natürlich nicht«, erwiderte sie kühl. »Ich habe mir nur zu wenig Zeit für die Fahrt genommen.«

»Alles klar.« Sam Gamble blieb vor ihr stehen. Bewundernd glitt sein Blick über ihren Mantel. Was ihn an diesem abgetragenen Kaschmirfummel so faszinierte, wusste sie nun wirklich nicht. »Wie alt sind Sie, Suzie?«

Fünfzig. Fünfundfünfzig. Reif für die Menopause. »Letzten Monat wurde ich fünfundzwanzig.«

»Großartig«, meinte er lächelnd, »ich bin vierundzwanzig. Wenn Sie viel älter als ich wären, hätten Sie alle möglichen Hemmungen, was uns beide angeht. Sie sehen eher wie dreißig aus.« Ohne zu merken, dass seine Bemerkung ziemlich ungalant klang, nahm er ihren Arm und zog sie zum Center. Offenbar registrierte er ihr Widerstreben, denn er hielt inne und runzelte die Stirn. »Sind Sie nicht an Leute gewöhnt, die sagen, was sie denken, Suzie? Also, ich hasse verlogene Scheiße – ich bin immer ehrlich. Das müssen Sie akzeptieren.«

»Auch ich bin ehrlich.« Was für eine lächerliche Antwort... Und dann blamierte sie sich noch mehr, indem sie hinzufügte: »Das scheint niemand zu verstehen ...« Sie unterbrach sich erschrocken. Warum machte sie diesem Mann, den sie kaum kannte, ständig solche privaten Geständnisse?

Eindringlich schaute er sie mit seinen ausdrucksvollen dunklen Augen an. »Sie sind tatsächlich was Besonderes. Spitzenklasse. Elegant, kompetent, wie ein fantastisches Design.«

Nach einem zitternden Atemzug zwang sie sich, beiläufig und zögernd zu sprechen, damit sie genug Zeit fand, um sich in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen. »Nun – ich bin mir nicht sicher, ob es mir gefällt, dass sie mich mit einem Design vergleichen.«

»Ich weiß Qualität zu schätzen. Obwohl ich kein Geld habe, wünsche ich mir immer nur das Beste.«

Völlig unerwartet legte er einen Arm um ihre Schultern, zog sie an sich, und ihr wurde fast schwindlig. Sein Blick schweifte über ihre Stirn und ihre Nase zu ihrem Mund.

»Bitte«, wisperte sie, »ich denke, das ist ...«

»Denk nicht, fühl einfach nur«, fiel er ihr ins Wort, und seine Lippen berührten ihren Hals.

Er war ein Verführer – ein Hausierer, der auf seiner Harley saß und Plunder verscherbelte -, ein Wanderprediger, der mit seinem Zelt von einem Rummelplatz zum anderen reiste und einem leichtgläubigen Publikum das ewige Leben verhieß – ein Hai, der auf der Brooklyn Bridge Aktien verkaufte. Ein Strichjunge. Das alles wusste sie. Ohne jeden Zweifel. Trotzdem konnte sie sich nicht von der Umarmung befreien.

Er neigte den Kopf herab. Mit feuchten, warmen Lippen, vital und elektrisierend, verschloss er ihr den Mund. So jugendlich wirkte er, so sinnlich, seine Haut so frisch und rau. Susannahs Hand glitt zu seiner Brust. Sie hungerte nach seiner Berührung, seinem Geschmack. Wie von selbst krallten sich ihre Finger in das Leder seiner Jacke. Unwillkürlich öffnete sie die Lippen. Ihre Zungen spielten miteinander – ihre zuerst nur zaudernd, seine quecksilbrig, voller magischer Versprechungen. Da vergaß sie alle guten Manieren, ihre übliche Zurückhaltung und Würde – sogar ihre Angst, als beglückende Jugend durch ihre Adern strömte, Frühlingsgrün und unreifes Ahnen.

Ja, ihr Blut war jung und mit Sehnsucht erfüllt, geradezu im Überfluss, und sie spürte, wie es sich erhitzte. Von neuen Hormonen bestürmt, geriet sie in den Bann einer sonderbaren süßen Schwäche. Sam öffnete seinen Mund noch weiter, schob seine Hände unter ihren Mantel, ihren Pullover und streichelte ihre nackte Haut, liebkoste sie mit seiner Zunge. Stöhnend presste sie sich an ihn.

Letzten Endes war es Sam, der sich losriss. »Großer Gott«, murmelte er.

Entsetzt presste sie eine Faust auf ihre Lippen. Schon wieder hatte sie die Selbstkontrolle verloren – wie beim ersten Liebesakt mit Cal -, wie an jenem längst vergangenen Junitag, als sie durch das schützende schmiedeeiserne Tor von Falcon Hill geschlüpft war, um einem Bündel bunter Luftballons nachzujagen.

»Beruhige dich, Suzie«, bat Sam in sanftem Ton, als er ihre Bestürzung erkannte. »Reg dich nicht dauernd über irgendetwas auf. Nimm’s leicht.«

»Das schaffe ich nicht. Ich bin nicht so wie Sie – wie du ...« Mit bebenden Fingern griff sie in ihre Manteltasche und tastete nach dem Autoschlüssel. »Sam – wir dürfen uns nicht mehr treffen. Okay, ich – ich werde meinen Vater bitten, mit dir zu reden. Mehr kann ich nicht tun.«

Und dann – weil sie so verwirrt war und nicht mehr klar denken konnte, benahm sie sich unglaublich dumm. Es war ein Reflex, die unbewusste Reaktion einer Frau, die zu viele offizielle Empfänge besucht hatte. Bevor sie sich zum Gehen wandte, reichte sie Sam die Hand.

Lachend schaute er darauf hinab, und sie wollte hastig zurücktreten. Aber er hielt ihre Hand fest und hob sie an seine Lippen. Als er schmerzhaft in ihre Fingerspitzen biss, schrie sie leise auf.

Da küsste er jeden einzelnen Finger. »Du bringst mich total durcheinander«, gestand er heiser.

Erfolglos versuchte sie nun zu fliehen. Er ließ sie nicht los. »Lauf nicht weg, Schätzchen.« Ohne Rücksicht auf ihre Gegenwehr schob er sie die Stufen des Gebäudes hinauf und in den überdachten Laufgang.

»Wirklich, ich muss gehen«, protestierte sie.

»Keine Bange, du brauchst nichts zu tun, was dir missfällt. Und im Moment willst du ganz sicher bei mir bleiben.«

Er führte sie durch die Halle zum Auditorium und gab ihr keine Zeit, um sich zu besinnen. Stattdessen öffnete er die Tür und bugsierte sie ins Epizentrum der Freak-Szene – in den Homebrew Computer Club.

Immer noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, bemühte sie sich, ruhiger zu atmen. Das dauerte allerdings eine ganze Weile. Dann schaute sie sich um. Ein paar hundert Leute bildeten mehrere Gruppen – eine merkwürdige Mischung. Während Susannahs Wahrnehmung allmählich wieder funktionierte, stellte sie fest, das größtenteils männliche Personen das Auditorium bevölkerten – die meisten über zwanzig, dazwischen auch ein paar Teenager. Einige trugen die Hemden und Krawatten respektabler Geschäftsmänner, aber die meisten sahen ziemlich schäbig aus, wie die Überbleibsel der Untergrundkultur – unrasiert, mit langen Pferdeschwänzen über verblichenen blauen Jeanshemden. Die einzelnen Gruppen drängten sich um elektronische Geräte auf kleinen Tischen vor dem Podium und an der Rückwand des Raums.

In Susannahs Nähe stand ein Junge, das Gesicht voller Pickel, höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Temperamentvoll stritt er mit drei Männern, die doppelt so alt waren wie er.

Ein fettleibiger Typ in einer Polyesterhose, über dem runden Bauch gegürtet, watschelte an Susannah vorbei. »Wer hat einen Oszillographen?«, schrie er. »Den muss ich mir für einige Tage ausleihen!«

»Wenn du ein logisches Resultat hast, kriegst du meinen.«

Elektronische Teile wurden ausgetauscht, schematische Zeichnungen wanderten von einer Hand zur anderen.

»Sieh mal!« Sam zeigte auf einen Mann mit spitzer Nase und zerzaustem Haar. »Das ist John Draper, Captain Crunch. Wahrscheinlich der berühmteste Telefon-Freak der Welt.«

»Telefon-Freak?«

»Ja, er hat rausgefunden, dass die Spielzeugpfeifen in den Captain-Crunch-Müslipackungen denselben 2600-Hertz-Ton produzieren, den die Telefongesellschaft für Ferngespräche benutzt. Also wählte er eine Nummer, blies mit der Pfeife in die Sprechmuschel und bekam eine Verbindung. Dann zeichnete er Telefon-Zugangcodes auf einem Plan ein, hüpfte von einer Fernleitung zur anderen, über die Kommunikationssatelliten in aller Welt. Nur aus Jux und Tollerei rief er sich selber über mehrere Kontinente hinweg an – Tokio, Indien, Südafrika und noch vier oder fünf andere Nummern -, nur damit ein zweites Telefon auf dem Tisch neben ihm klingelte. Wegen des Zeitunterschieds konnte er tatsächlich mit sich selber reden.«

Ob sich der Mann so viel zu sagen hatte, überlegte Susannah in einem Anflug von Heiterkeit.

»Captain Crunch kennt sich mit der Konstruktion erstklassiger illegaler Boxen aus. Und sie eignen sich bestens für kostenlose Telefonate. Man braucht nur seinen Namen zu erwähnen, und schon dreht die Telefongesellschaft durch.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«

»Jetzt ist er gerade auf Bewährung aus dem Knast gekommen.«

Susannah lächelte – etwas schuldbewusst, weil sie mit verschiedenen Mitgliedern des Bell-System-Aufsichtsrats gut befreundet war.

»Hier gibt’s viele Jungs, die das Telefonsystem knacken und einen Riesenspaß dabei haben.«

»Wegen seines formschönen Designs?« O Gott, ließ sie sich tatsächlich mitreißen?

»Klar, das allerbeste. Fantastisch.«

»Dein Design ist beschissen«, erklärte ein Junge voller Aknenarben einem Mann, der in einem Rollstuhl saß. »Ein Eimer voller Lärm.«

»Daran habe ich sechs Monate lang gearbeitet«, verteidigte sich der Behinderte.

»Trotzdem ist’s Scheiße«, beharrte der Junge.

Sam dirigierte Susannah zu einem der Tische, wo ein paar Zuschauer einen schlampig gekleideten, etwa zwanzigjährigen Mann mit dichtem Bart und dicken Brillengläsern umringten. Die Augen zusammengekniffen, starrte er auf einen Bildschirm, über den bewegte Ornamente glitten. »Steve Wozniak, der einzige Techniker, der Yank das Wasser reichen kann. Gemeinsam mit seinem Kumpel bastelt er an einem Ein-Platinen-Computer, und der ist so ähnlich wie die Maschine, die Yank und ich konstruiert haben. Ihren haben sie Apple genannt. Ziemlich komischer Name, was?«

Komisch? Das falsche Wort, dachte sie und musterte die merkwürdige Schar, die um Informationen bettelte. Obwohl sie nur einen kleinen Teil der technischen Ausdrücke verstand, die ihr um die Ohren flogen, spürte sie den Enthusiasmus, der diese Leute beflügelte.

»Hier gibt’s keine Geheimnisse, jeder teilt sein Wissen mit allen anderen – ein Hacker-Erbe aus den Sechzigern.« Sam zeigte auf den Jungen, der mit den drei älteren Männern stritt. »Im Homebrew wird man nach seinen Kenntnissen beurteilt und nicht danach, wie alt man ist oder wie viel Geld man verdient. Ganz anders als bei FBT, nicht wahr?«

Über sein Gesicht glitt ein Schatten, und sie ahnte, was in ihm vorging. Obwohl er sie um einen Termin bei ihrem Vater gebeten hatte, bedauerte er die Notwendigkeit, mit FBT zu verhandeln, und sie ärgerte sich über seine Vorurteile.

»Komm, ich mache dich mit Yank bekannt.«

Während er sie zum Vorderteil des Auditoriums führte, begrüßte er einige Clubmitglieder. So wie Steve Wozniak im Hintergrund des Raums, saß auch Yank Yankowski inmitten eines vielköpfigen Publikums und starrte einen Bildschirm an. Der war mit einer Leiterplatte verbunden, die so aussah wie das Gerät in Sams Koffer.

»Ein paar Minuten wird’s dauern, bis er Notiz von mir nimmt. Wenn er sich in irgendwas verbeißt, ist er manchmal ...« Abrupt verstummte Sam, als er etwas weiter vortrat und den Monitor inspizierte. »Heiliger Himmel!«, rief er enthusiastisch. »Yank hat’s tatsächlich geschafft! Alles in Farbe!« Susannah schien nicht mehr zu existieren. Aufgeregt drängte er sich durch die Menge, die den Tisch umzingelte, zu Joseph »Yank« Yankowski vor.

Nach Susannahs Meinung gehörte Yank zu den bemerkenswertesten Typen im Auditorium. Fast eins neunzig groß, überragte er Sam um einen halben Kopf. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und schwarzem Pastikgestell. Unglaublich dünn, fast ausgemergelt, hatte er eine hohe, fliehende Stirn unter braunem Haar mit Bürstenschnitt, ausgeprägte Wangenknochen, eine lange Nase und spindeldürre Beine. Vielleicht wäre er halbwegs attraktiv, würde er zwanzig Pfund zunehmen, seine Haare ordentlich schneiden lassen, Kontaktlinsen benutzen und Sachen anziehen, die nicht so aussahen, als hätte er darin geschlafen. Aber so, wie er sich präsentierte, würde zum Beispiel Paige ihn für völlig ausgeflippt halten.

Susannah verfolgte interessiert den weiteren Verlauf der Ereignisse. Anscheinend hatte Sam ihre Anwesenheit vergessen. Er bestürmte Yank mit Fragen und studierte die Apparatur auf dem kleinen Tisch. Schließlich setzte sie sich auf einen Platz am Mittelgang und musterte sein Haar, das auf den Schultern auflag. Allein schon beim Anblick dieser Frisur würde ihr Vater ihn nicht ernst nehmen, vom Osterinsel-Ohrring ganz zu schweigen. Warum hatte sie Sam bloß versprochen, sie würde ihm einen Termin bei Joel Faulconer verschaffen?

Doch sie wollte nicht an ihren Vater denken, und so konzentrierte sie sich auf das lebhafte Chaos im Auditorium. Dabei erinnerte sie sich an die Forschungs- und Entwicklungslabors bei FBT. Dort herrschten Zucht und Ordnung. Männer mit gepflegten Frisuren und Krawattenknoten in den Krägen ihrer weißen Laborkittel standen vor säuberlich getrennten Arbeitstischen. Stets sprachen sie respektvoll miteinander. Niemand schrie. Und ganz sicher würde kein einziger Wissenschaftler die Leistung eines Mitarbeiters als »monumentale Scheiße« bezeichnen.

Was sie jetzt beobachtete, grenzte an Anarchie. Alle paar Sekunden entbrannten heftige Streitereien. Dauernd kletterte irgendjemand auf die Armstützen eines Sessels und verkündete lauthals, welches Gerät er sich ausleihen wollte. Susannah dachte an die Plastikkarten, mit denen sämtliche FBT-Laborkittel versehen waren. Sogar ihr Vater musste einen solchen Spezialausweis tragen. Vor ihrem geistigen Auge erschienen die verschlossenen Türen, die uniformierten Sicherheitsbeamten. Und dann entsann sie sich, was Sam über das Hacker-Erbe gesagt hatte. Im Homebrew Computer Club schien niemand Geheimnisse zu hüten. Wohin auch immer sie schaute – überall wurden Informationen ausgetauscht, großzügig und hilfsbereit. Offensichtlich kam keiner dieser Experten auf die Idee, sein Wissen für sich zu behalten, um persönlichen Profit daraus zu schlagen.

Sam kam wieder zu ihr. »Jetzt will ich dir endlich meinen Freund vorstellen, Suzie. Dieser verrückte Hurensohn hat einen Farbbildschirm hingekriegt, ohne zusätzliche Chips. Bei der letzten Versammlung behauptete er ebenso wie Wozniak, das würde mit einer Zentraleinheit laufen. Aber niemand hat erwartet, sie würden es schaffen.«

»Unfassbar«, bemerkte sie, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wovon Sam sprach.

»Möglicherweise wird’s eine Weile dauern, bis ich seine Aufmerksamkeit errege.« Sam führte sie zum Tisch seines Freunds. »He, Yank, das ist Susannah, von der ich dir erzählt habe.«

»Verdammt, das Biest will einfach noch nicht synchron laufen.« Unverwandt starrte Yank seinen Monitor an.

Sam drehte sich achselzuckend zu Susannah um. »Wenn er arbeitet, lässt er sich nicht ablenken.«

»Das ist nicht zu übersehen.«

»Yank?«, versuchte es Sam noch einmal.

»Warum zum Teufel will’s nicht synchron funktionieren?«

»Vielleicht solltest du mich ein andermal mit ihm bekannt machen«, schlug Susannah vor.

»Ja, das wäre wohl besser.«

Während sie zum Hintergrund des Auditoriums gingen, wünschte Susannah, sie hätte nicht den Eindruck erweckt, sie würde sich erneut mit ihm treffen. Das war unmöglich. Nach dem leidenschaftlichen Kuss da draußen durfte sie Sam nicht wiedersehen.

»Nun, was meinst du?«, fragte er.

»Eine interessante Gruppe.«

»Und nicht die einzige. Im ganzen Land arbeiten ein paar hundert Hardware-Hacker zusammen, um kleine Computer zu bauen.« Forschend schaute er in ihre Augen. »Verstehst du nicht, was hier passiert? Ein Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft! Deshalb ist es so wichtig für mich, mit deinem Vater zu reden. Willst du mir wirklich zu einem Termin verhelfen?«

»Okay, ich versuch’s«, sagte sie widerstrebend. »Aber ich fürchte, er wird sowieso keine Zeit für dich haben.«

»Ich gebe dir meine Telefonnummer. Ruf mich an, wenn’s so weit ist.«

»Falls es klappt.« Bevor sie fortfuhr, zögerte sie. Wahrscheinlich würde er sie auslachen. Doch sie kannte ihren Vater zu gut. »Da wäre noch etwas ...«

»Was?«

»Solltest du einen Termin bekommen, könntest du – dich ein bisschen sorgfältiger anziehen?«

»Hast du Angst, ich würde so auftauchen?«

»O nein«, log sie hastig. »Natürlich nicht.«

»Nun, deine Bedenken sind trotzdem berechtigt. Genau so werde ich nämlich in Joel Faulconers Büro gehen.«

Abweisend runzelte sie die Stirn. »Nein, das wäre ein großer Fehler. Mein Vater gehört einer anderen Generation an. Deshalb legt er ungeheuren Wert auf korrekte Anzüge. Und er hält nichts von Männern, die Ohrringe tragen. Außerdem müsstest du dein Haar schneiden lassen.« Noch während sie sprach, bereute sie ihre Worte. Sein Haar gefiel ihr, denn es war ein Teil seiner Persönlichkeit. Frei und wild.

»Ehrlich, Suzie, so einen Mist will ich mir erst gar nicht anhören. Ich bin, wer ich bin.«

»Wenn du mit meinem Vater Geschäfte machen willst, musst du lernen, Kompromisse zu schließen.«

»Nein!«, stieß er so vehement hervor, dass sich trotz des Lärms im chaotischen Homebrew Computer Club einige Köpfe zu ihnen wandten. »Nein, ich schließe niemals Kompromisse.«

»Bitte, nicht so laut!«

Sam packte ihren Arm, seine Finger bohrten sich durch ihren Ärmel. »Keine Halbheiten. Begreifst du’s nicht, Suzie? Nur deshalb versagen die Leute. Das ist der Grund, warum in diesem Land alles verbockt wird – warum die Geschäfte so beschissen laufen. Soll ich dir erklären, wieso ich die Computer liebe? Weil sie eine perfekte Welt darstellen. Bei Computern gibt’s keinen Mittelweg. Alles ist entweder schwarz oder weiß. Und der Octal Code reagiert nur auf absolute Befehle. Ein Bit existiert – oder es existiert nicht

»Im Leben geht’s anders zu«, entgegnete sie leise und erinnerte sich an all die Kompromisse, die sie notgedrungen geschlossen hatte.

»Weil du dich damit begnügst. Weißt du eigentlich, wie feige du bist, Suzie? Du wagst es nicht, dich für irgendetwas einzusetzen, ohne Wenn und Aber.«

»Das stimmt nicht.«

»Klar, du versteckst deine Angst hinter einer kühlen Fassade. Reine Zeitverschwendung, wenn du mit mir zusammen bist – also spar dir die Mühe.« Erbost starrte er sie an, dann erschien ein sanfterer Ausdruck in seinen Augen. »Sorg dich nicht um elegante Anzüge und Frisuren. Bring deinen Alten einfach nur dazu, mit mir zu reden. Immerhin war er ein Pionier in den Fünfzigern, als er all die ersten Computerpatente aufgekauft hat. Er wird verstehen, was ich ihm anbiete. Verdammt, ich werde ihn zwingen, diese magische neue Welt zu begreifen. Und wenn’s das Letzte ist, was ich in meinem Leben zu Stande bringe!«

Susannah fand keine Worte. Aber als sie in Sam Gambles jungen Augen das Feuer einer kühnen Vision brennen sah, glaubte sie beinahe an seinen Erfolg.