8

Eine Zeit lang standen die Hochzeitsgäste reglos da, wie die elegant gekleideten Figuren eines modernen tableau vivant. Der Erste, der sich bewegte, war Cal Theroux. Kreidebleich, zutiefst gedemütigt, bahnte er sich einen Weg durch die Menge und verschwand.

Paige war zu verwirrt, um sich zu rühren. Als eine Brise die Federn der Marabu-Boa gegen ihre Wange wehte, spürte sie es nicht. In ihrer Welt hatte sich das Unterste zuoberst gekehrt, und nichts würde jemals wieder so sein wie früher.

Nach einer Weile schüttelte sie den Kopf und versuchte, ihre kühle, perfekte Schwester mit der Frau in Einklang zu bringen, die soeben auf eine Harley gesprungen war, um vor ihrer eigenen Hochzeit zu fliehen.

Bedrückt starrte sie den zerknitterten weißen Teppich und das zertrampelte Gras an und merkte, dass sie ihre Schwester überhaupt nicht gekannt hatte. Dieser Gedanke erschreckte sie zutiefst. Deshalb verdrängte sie ihn lieber hastig und konzentrierte sich auf ihre unkomplizierte helle Wut.

Susannah hatte sie alle belogen und ein heimliches Doppelleben geführt. Nicht einmal der Vater hatte irgendwas geahnt. Also war die damenhafte Perfektion nur Fassade gewesen. Diese raffinierte falsche Schlange ... Die ganze Zeit hatte sie Daddy hinters Licht geführt, um die Position der Lieblingstochter zu festigen, und die jüngere Schwester war zur Außenseiterin gestempelt worden. Entschlossen steigerte sich Paige in ihren Zorn hinein. Ganz fest presste sie ihn an ihre Brust, ließ ihn in alle Poren strömen. Damit kein Raum für ihre Angst übrig blieb, kein Versteck für andere Lügen – die Lügen über sich selbst ...

Allmählich drangen Geräusche in ihr Bewusstsein –

Schreckensschreie, gedämpfte Gespräche. Aufgeregte Gäste bildeten Gruppen. Bald würden sie Paige mit Fragen bestürmen, die sie nicht beantworten konnte, und sie eimerweise mit Mitleid überschütten. Weil sie das nicht ertragen würde, musste sie verschwinden.

Ihr verbeulter VW parkte im Hof, zwischen Jaguars und Rollses. Möglichst unauffällig, am Rand des Gartens entlang, eilte sie dorthin. Bevor sie um die Ecke des hinteren Flügels von Falcon Hill bog, hielt sie inne und schaute zurück. Die Gruppen standen aufgeregt beisammen. Während die Leute in alle Richtungen spähten, schien jeder den Skandal auf andere Weise zu interpretieren. Würden die Männer ihre Kugelschreiber zücken, um zu berechnen, wie sich das Ereignis auf den Preis der FBT-Aktien auswirken würde?

Plötzlich glich das Blut, das zunehmend schneller durch Paiges Adern floss, einem reißenden Strom und rauschte in ihren Ohren. Das war’s! Die Chance, auf die sie ihr Leben lang gewartet hatte! Zögernd streifte sie die Boa von ihren Schultern und warf sie hinter einen Blumenkasten voller Rosen. Dann kehrte sie klopfenden Herzens zu den Gästen zurück.

Als sie die nächste Gruppe erreichte, holte sie tief Luft und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Wäre es nicht eine Schande, das fantastische Buffet zu verschwenden? Gehen wir doch ins Zelt.«

Verblüfft wandten sich die Leute zu ihr.

»Ach, Paige, du armes Kind!«, rief eine Frau. »Wie furchtbar muss das für dich sein!«

»Wir können’s einfach nicht glauben«, seufzte eine andere. »Ausgerechnet Susannah!«

»Nun – in letzter Zeit stand sie unter starkem Druck«, hörte sich Paige mit sanfter, leiser Stimme erklären, die sie an ihre Schwester erinnerte. »Hoffentlich – bekommt sie die professionelle Hilfe, die sie braucht.«

Eine Stunde später schmerzte ihr Rücken vor innerer Anspannung, nachdem sie so viele Fragen höflich beantwortet hatte. Sie verabschiedete sich von den letzten Besuchern. Dann ging sie ins Haus. Falcon Hill umhüllte sie – einerseits tröstlich, andererseits beklemmend. Auf der Suche nach ihrem Vater durchquerte sie Unmengen von menschenleeren Räumen. Unbehaglich stieg sie die Treppe hinauf. Die Tür ihres einstigen Zimmers war geschlossen. In diesem Raum würde sie nichts Wesentliches finden, und es drängte sie nicht, ihn zu betreten.

Susannahs Zimmer wirkte so ordentlich wie eh und je. Neben der Tür warteten die Koffer auf die Hochzeitsreise und glichen einsamen Kindern. Nach kurzem Zaudern schlenderte Paige ins angrenzende Bad. Die Marmorwanne und das Waschbecken schimmerten makellos. Nirgendwo klebte ein kastanienrotes Haar. Das Badezimmer erweckte den Eindruck, ihre Schwester hätte es nie benutzt. War sie stets sauber und perfekt in der Welt aufgetaucht, ohne sich darum zu bemühen?

Auch das Schlafzimmer des Vaters wirkte untadelig aufgeräumt  – und ebenso verlassen. Schließlich fand sie ihn in einem kleinen Arbeitsraum im Hintergrund des Hauses. Stocksteif stand er am Fenster und starrte auf die Spuren der geplatzten Hochzeit hinab.

Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Daddy?« Langsam drehte er sich um und schaute sie fragend an, als wäre nichts Wichtiges passiert. »Ja, Paige?«

Da verflog ihr hart erkämpftes Selbstvertrauen. »Eh – ich  – ich wollte nur sehen, ob du okay bist.«

»Natürlich. Warum glaubst du, es würde mir schlecht gehen?«

Sie musterte ihn etwas genauer und bemerkte seine wächserne Blässe, die harten Linien um die Mundwinkel. Neue Kraft stieg in ihr auf. »Soll ich dir einen Drink bringen?«

Forschend betrachtete er ihr Gesicht und schien über etwas nachzudenken. Dann nickte er knapp. »Tu das.« Sie wandte sich zum Gehen, aber seine Stimme hielt sie zurück. »Und – Paige, dieses Kleid ist grauenhaft. Würdest du etwas anderes anziehen?«

Ihre erste Reaktion auf seine Kritik war der gewohnte, zornige Trotz, der jedoch sofort verebbte, denn Vater schickte sie nicht weg. Nein – er wollte, dass sie hier blieb. Nach der Flucht meiner Schwester bin ich keine Außenseiterin mehr ... Um einen Entschluss zu fassen, brauchte sie nur ein paar Sekunden. Sie rannte in Susannahs Zimmer und schlüpfte aus dem billigen Fähnchen.

Fünf Minuten später stieg sie in einem der eleganten italienischen Strickkostüme ihrer Schwester die Treppe hinab, betrat den Salon und öffnete den Barschrank.

 

Wie ein Karussell, das außer Kontrolle geraten war, flog die Welt an Susannah vorbei. Der Wind zerrte an ihrem Haar, schlang es um ihren Kopf und peitschte es gegen Sams Wange. Da ihr Kleid nach oben gerutscht war, rieben sich ihre Schenkel am rauen Denim seiner Jeans. Doch das spürte sie nicht. Inzwischen hatte sie die Phase unkomplizierter Gefühle, die nur dem Augenblick galten, überschritten. Während sie sich an seine Taille klammerte, hoffte sie, die wilde Fahrt würde niemals enden. Solange die Maschine dahinbrauste, gab es kein Gestern, kein Heute, kein Morgen.

Sam schien ihren Wunsch zu verstehen. Statt die Harley nach Süden zu steuern, raste er im Zickzack über die Halbinsel und zeigte ihr eine vertraute Umgebung aus einer neuen Perspektive. Das San Andreas Reservoir glitt vorbei, später die Bucht, dann eine ruhige Wohngegend. Vom Wind begleitet, folgten sie dem Highway. An ihrer Seite donnerten achtzehnrädrige Laster, wirbelten Split auf und bliesen Auspuffgase in Susannahs Gesicht, die ihr den Atem nahmen. Hupen plärrten die entlaufene Braut an, die in einem unpassenden Spitzenkleid hinter einem Biker saß. So wollte sie bis in alle Ewigkeit weiterfahren, durch die Zeit in eine andere Dimension – in ein Land, wo sie keinen Namen hatte, wo nichts, was sie tat, Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Südlich von Moffet Field verließ Sam den Highway. Bald durchquerten sie Industriegebiete. Dahinter lagen Einkaufszentren, und nach einer Weile drosselte er das Tempo. Susannah presste ihre Wange an seine Schulter. Bleib nicht stehen, flehte sie stumm, bleib nicht stehen.

Aber er bremste, schaltete den Motor aus, und die Harley erstarrte zwischen ihren Beinen. Sam drehte sich um und nahm sie in die Arme. »Höchste Zeit für eine kleine Pause, Biker-Lady«, flüsterte er, »dein Mann ist hungrig.«

Verstört schnappte sie nach Luft. O Gott, war er ihr Mann? Was hatte sie getan – was würde mit ihr geschehen?

Sam ließ sie los und stieg von seiner Maschine. Dann reichte er ihr eine Hand, und sie griff danach, als glaubte sie, die Berührung würde sie retten.

»Jetzt betreten wir eine neue Welt«, verkündete er.

Genau genommen gingen sie zu einem Burger King. Sobald Susannah merkte, wo sie waren, riss sie die Augen auf. Unter ihren bestrumpften Füßen fühlte sich der Asphalt des Parkplatzes warm an. Um Himmels willen – barfuß vor einem Burger King ... Über einem Knie hatte sich ein Loch in einem Seidenstrumpf gebildet, und ein kleines kreisförmiges Stück Haut quoll hervor wie eine Blase aus einem Brotteig. Sam zog sie mit sich. Durch die Fenster sah sie neugierige Gesichter – und in einer Scheibe ihr erschreckendes Spiegelbild – das zerknüllte Brautkleid, zerwühltes kastanienrotes Haar, die schmale Nase, vom Wind gerötet...

In panischer Angst packte sie Sams Arm. »Nein – ich kann nicht ...«

»Du hast es schon getan«, erwiderte er und schob sie durch die Tür, mitten hinein ins typisch amerikanische, nach Burger duftende Herz.

In einer orangegelben Nische unterbrachen einige Teenager-Jungs einen Rülpswettbewerb, um die Neuankömmlinge zu begaffen. Entsetzt hörte sie das Gelächter, das ihrer spektakulären äußeren Erscheinung galt. Einige Sekunden lang hafteten ihre Sohlen an einer klebrigen Stelle auf dem Fliesenboden. Ein paar Sechsjährige, die gerade eine Geburtstagsparty feierten, spähten unter verbogenen Pappkronen hervor, und ein Kind zeigte mit dem Finger auf die derangierte junge Frau. Im ganzen Lokal ignorierten die Leute ihre Fritten und Whoppers, um Susannah Faulconer anzuglotzen. Wie versteinert stand sie da und versuchte erfolglos, die traumatischen Ereignisse aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.

Brave Mädchen ließen sich nicht kidnappen. Und eine Braut, die der kalifornischen Oberschicht angehörte, stieg nicht auf eine Harley-Davidson, um ihrer Hochzeit zu entrinnen. Was stimmte nicht mit ihr? Was würde sie jetzt tun? Sie hatte Cal gedemütigt. Niemals würde er ihr verzeihen. Und ihr Vater ...

Nein, was sie verbrochen hatte, war zu ungeheuerlich, und sie konnte nicht an ihren Vater denken. Noch nicht.

Sam war zur Theke gegangen. Jetzt drehte er sich zu ihr um. »Du wirst doch nicht weinen?«

Unfähig, auch nur ein Wort aus ihrer zugeschnürten Kehle hervorzuwürgen, schüttelte sie den Kopf. Er kannte sie nicht gut genug, um zu wissen, dass sie niemals weinte. Obwohl der Gedanke in diesem Moment verlockend war.

»Du siehst toll aus«, murmelte er. »Richtig cool und sexy.«

Von beglückenden Emotionen erfasst, vergaß sie vorübergehend, wo sie war. So hatte sie noch niemand bezeichnet. Hingerissen schaute sie Sam an. Würde sie jemals genug von seinem Anblick bekommen?

Er grinste und wandte sich wieder zur Theke. »Was willst du essen?«

Abrupt erinnerte sie sich an ihre Umgebung und versuchte, Kraft aus seinem völligen Desinteresse an der Meinung des gaffenden Publikums zu schöpfen. Immerhin fand er sie cool und sexy. Diese Worte müssten ihr helfen, ein neuer Mensch zu werden – die Person, die er beschrieben hatte. Aber Worte genügten nicht. Im Grunde ihres Herzens war sie nach wie vor Susannah Faulconer, und sie hasste das Aufsehen, das sie erregte.

Sam bestellte das Essen und ergriff ein Tablett. Wie betäubt folgte sie ihm zu einem Tisch am Fenster. Sie hatte keinen Appetit. Nach ein paar Bissen schob sie ihren Teller beiseite, und er nahm sich ihren Hamburger.

Während sie beobachtete, wie er seine starken weißen Zähne ins Hackfleisch grub, redete sie sich ein, ihre Angst sei unbegründet. Sicher war alles besser, als im Alter von fünfundzwanzig Jahren langsam zu sterben.

 

Aus irgendeinem Grund hatte sie angenommen, Sam würde ein kleines Junggesellenapartment bewohnen. Deshalb war sie nicht darauf vorbereitet, dass er noch bei seiner Mutter lebte. Das Haus gehörte zu den kleinen Unterkünften, Ende der fünfziger Jahre massenhaft im Valley erbaut, um Wohnraum für die zahlreichen Arbeiter zu schaffen, die Lockheed nach dem Sputnik-Start eingestellt hatte. An der Vorderseite war das Domizil mit grünem Aluminium verkleidet, schmutziger Stuck schmückte die Seitenmauern und die Hinterfront. Feiner Kies bedeckte die Dachpappe und schimmerte schwach im schwindenden Sonnenlicht.

»Offenbar ist Yank nicht da.« Sam zeigte zur Garage, die abgetrennt vom Haus weiter hinten stand, im Schatten einer verkümmerten Palme. »Sonst würde dort Licht brennen.«

»Wohnt er auch hier?«, fragte Susannah. Mit jeder Minute wuchs ihre Nervosität. Warum lebte Sam nicht allein? Wie sollte sie seiner Mutter ihre Anwesenheit erklären?

»Nein, er hat ein Apartment am anderen Ende der Stadt. Und Mom ist für zwei Wochen zu einer Freundin nach Las Vegas gefahren. Also haben wir das Haus für uns allein.«

Wenigstens das beruhigte sie ein wenig, und sie folgte ihm zum Vordereingang. Neben der Tür erstreckte sich ein hohes Fenster mit einer undurchsichtigen gerillten Glasscheibe  – ringsherum hatte sich die rissige Abdichtung gelockert.

Sam sperrte die Tür auf und ging hinein. Als Susannah die Schwelle überquerte, trat sie direkt ins Wohnzimmer und hielt den Atem an. Mit dieser Einrichtung wurde dem schlechten Geschmack geradezu ein Denkmal gesetzt. Hässliche, zottige goldbraune Teppiche bedeckten den Boden. Neben einem Aquarium, das irisierende Kieselsteine füllten, stand ein spanisches Sofa aus dunklem Holz, voller Plastiknägelköpfe, mit rotem Samt gepolstert. Sam drückte auf den Lichtschalter einer Lampe, die einem Vogelkäfig aus Draht glich, mit Rhododendren aus Plastik gefüllt. In der Nähe, offenbar an einem Ehrenplatz, hing das Ölgemälde eines lebensgroßen Elvis Presley in einem seiner weiß seidenen Las-Vegas-Outfits, mit einem Mikrofon zwischen den üppig beringten Fingern.

Susannah schaute Sam an und hoffte, er würde irgendetwas sagen. Schweigend erwiderte er ihren Blick und wartete auf ihren Kommentar. Der kampflustige, herausfordernde Ausdruck erwärmte ihr Herz. Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen, hätte den Kopf an seine Schulter gelehnt und beteuert, sie würde alles verstehen. Ein Mann, der so leidenschaftlich für »formschöne« Designs schwärmte, musste es unerträglich finden, in einer solchen Umgebung zu leben.

Statt ihre Gedanken auszusprechen, fragte sie, ob sie das Bad benutzen dürfte. An orangeroten Kacheln klebten Abziehbilder von dicken Fischen. Sie zog die zerrissenen Strümpfe aus und stopfte sie in einen Abfalleimer aus Plastik. An der Wand hinter der Toilette hing ein kleineres Bild von Elvis in schwarzem Samt. »LOVE ME TENDER« stand in glitzernden Lettern am unteren Rand. Aber einige Buchstaben waren abgeblättert, und so las sie nur »LOVE ME TEN«. Nicht nur ein Mal. Während sie sich die Hände wusch, wich sie ihrem Spiegelbild aus. Nicht nur zwei oder drei Mal. Liebe mich zehn Mal.

Sie fand Sam in der Küche. Erst bot er ihr eine Dose Cola an, dann goldfarbene Sandalen, mit Plastikgänseblümchen verziert. »Die gehören meiner Mutter. Sicher macht’s ihr nichts aus, wenn du sie benutzt.«

Zögernd schob sie ihre Füße in die Sandalen. Die Cola lehnte sie höflich ab. Sam musterte sie und schlang eine ihrer kastanienroten Haarsträhnen um die Finger. In seiner Nähe wurde ihr ganz schwindlig – als würde sie zum Klippenrand eines Abgrunds laufen.

»Was für schönes Haar du hast«, flüsterte er und strich mit einem Daumen über ihre Lippen. Sofort beschleunigten sich ihre Atemzüge. Die bernsteinfarbenen Pünktchen in seinen Augen leuchteten wie die Glühwürmchen, die sie als Kind in einem Marmeladenglas gefangen gehalten hatte. Eines Tages war sie unachtsam gewesen, und Paige hatte das Glas in den Garten getragen. Sie hatte den Deckel abgeschraubt, die Insekten herausgeschüttelt und sie unter ihren Turnschuhen zertrampelt. Durch das Gras hatten sich dann gelbe, phosphoreszierende Streifen gezogen. Danach war Paige in Tränen ausgebrochen, und Susannah hatte geglaubt, das heftige Schluchzen würde niemals verstummen.

In Sams Augen las sie nun den heftigen Wunsch, mit ihr zu schlafen. Ihr Körper fühlte sich weich und entspannt an, fast flüssig, als hätte sie zu viel Wein getrunken. An diesem Tag war sie von derart unzähligen widersprüchlichen Emotionen erfasst worden, dass sie jetzt ihre Fantasien endlich verwirklichen wollte. Trotzdem fürchtete sie sich davor. Noch war sie nicht bereit für diesen letzten Schritt ihrer Befreiung.

Plötzlich wandte sie sich ab und ging ins Wohnzimmer zurück. Mit seelenvollen, schwülen Augen schaute Elvis auf sie herab. Liebte sie Sam zehn Mal? Sie wusste gar nicht, was Liebe überhaupt war. Empfand sie Liebe oder einfach nur Lust? Sie liebte ihren Vater. Und was hatte sie ihm angetan? Sie hatte Liebe zu Cal geheuchelt – und eine Katastrophe heraufbeschworen. Und Sam? War sie über den sexuellen Fantasien, die dieser Anarchist mit den Bernsteinaugen entfesselte, verrückt geworden? Hatte sie ihre ganze vertraute Welt über Bord geworfen – nur für ein bisschen Sex?

»Komm mit mir in die Garage«, sagte er hinter ihr.

Verwirrt fuhr sie herum und sah ihn im Torbogen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer stehen.

»Ich will dir zeigen, was wir machen. Jetzt gehörst du schließlich dazu.« Auf dem Weg zur Hintertür redete er ohne Punkt und Komma. »Nun geht’s los. Das habe ich dir gesagt, und es war ernst gemeint. Letzte Woche hat ein gewisser Pinky von Z.B. Electronics vierzig Mutterplatinen bestellt. Vierzig! Und das ist erst der Anfang.«

Natürlich fiel es Joel Faulconers Tochter schwer, wegen einer so lächerlichen Anzahl in Begeisterung auszubrechen. Trotzdem tat sie ihr Bestes. »Wundervoll!«

Als sie den Hinterhof überquerte, scheuerten die Plastikgänseblümchen an ihren Zehen. Sam wies mit seiner ColaDose auf die Garage, und sie betrachtete seine Hand – eine Arbeiterhand. Mit sauberen, aber ungleichmäßig geschnittenen Fingernägeln. Über einen Daumen zog sich eine gezackte weiße Narbe.

»Garagen sind echte Glücksbringer im Valley«, betonte er. »Damals haben Bill Hewlett und David Packard in einer Palo-Alto-Garage Hewlett-Packard gegründet. Und wir legen in dieser los. Die Hälfte der Homebrew-Jungs hat gerade Projekte in Garagen laufen. Erinnerst du dich an Steve Wozniak? Den habe ich dir bei der Versammlung gezeigt.«

»Zusammen mit einem Freund baut er einen Single-Board-Computer, und der hat einen Obstnamen.«

»Genau – nämlich ›Apple‹«, bestätigte Sam und blieb vor dem Seiteneingang der Garage stehen. »Die beiden arbeiten in der Garage von Steve Jobs’ Eltern in Los Altos. Und Mrs. Jobs macht Woz ganz wahnsinnig, weil sie dauernd rein-und rausläuft, um ihre Waschmaschine und den Trockner zu benutzen.« Grinsend öffnete er die Tür. »Yank ist noch schlimmer dran.«

Was er meinte, verstand sie erst, als sie die Gamble-Garage betrat, die in zwei Räume unterteilt war. Im Hintergrund standen Regale mit elektronischen Geräten, eine lange, beleuchtete Werkbank und ein fadenscheiniges Sofa mit Blumenmuster. Direkt neben dem Seiteneingang wurde der vordere Sektor durch eine golden gestrichene Wand mit einer Tür abgetrennt. Susannah öffnete sie und entdeckte ein Haarwaschbecken, einen Sessel, der aus einem Kosmetiksalon zu stammen schien, und mehrere Haartrockner. An der Stelle, wo sich das Garagentor befinden müsste, glänzte eine Spiegelwand mit goldenen Punkten.

Auf einem kleinen Tisch begann ein Telefon zu klingeln, neben dem ein Terminkalender lag. Ein Anrufbeantworter schaltete sich ein, und eine Frauenstimme verkündete: »Hier ist Angela vom Pretty Please Salon. Der Laden bleibt zwei Wochen geschlossen, während ich mein Glück in Vegas versuche. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, und ich melde mich, sobald ich wieder da bin.«

Nach einer kurzen Pause erklang ein Piepston. »Hi, Angela, hier ist Harry Davis vom Longacre-Bestattungsinstitut. Gestern Nacht ist die alte Mrs. Cooney verschieden. Eigentlich wollte ich dich beauftragen, die Lady für die Aufbahrung am Montag herzurichten. Aber da du verreist bist, wird’s Barb erledigen. Bei der nächsten Leiche rufe ich dich wieder an.«

Nach einem abschließenden Piepston wandte sich Susannah zu Sam und fragte mit schwacher Stimme: »Frisiert deine Mutter Leichen?«

»Großer Gott, auch lebendige Leute«, verteidigte er seine Mom. »Sie arbeitet mit einem Pflegeheim zusammen. Wenn eine der alten Ladys den Löffel abgibt, meldet sich das Bestattungsinstitut. Das macht Yank ganz verrückt.«

»Das Bestattungsinstitut?«

»Nein, das Pflegeheim. Die alten Damen werden regelmäßig in einem Bus hierher gebracht, und Mom richtet ihnen die Haare und frisiert sie. Wenn Yank arbeitet, schauen sie manchmal durch die Tür und stellen dumme Fragen.« Sam nahm einen Schluck Cola und zeigte mit dem Daumen auf die andere Seite der Trennwand. »Komm, ich möchte dir zeigen, was wir machen.«

Susannah verließ den Pretty Please Salon und folgte ihm in den hinteren Teil der Garage. Auf der Werkbank standen ein Sylvania-Fernseher, an einer Leiterplatte angeschlossen, eine Tastatur und ein Kassettenrekorder. Sam knipste die Lampe an und begann mit den Geräten zu hantieren. Sekunden später begann der Bildschirm zu flimmern. Dann schob er eine Kassette in den Rekorder, und auf dem Monitor erschien eine Frage in Blockbuchstaben.

WIE HEISST DU?

»Komm schon, sprich mit ihm!«, verlangte Sam.

Zögernd trat sie vor und tippte: SUSANNAH.

»Jetzt drück auf diese Taste.« Sie gehorchte, dann las sie weitere Zeilen.

HI, SUSANNAH, FREUT MICH, DICH KENNEN ZU LERNEN. NOCH HABE ICH KEINEN NAMEN. FÄLLT DIR WAS EIN?

Wie seltsam, von einer Maschine angesprochen zu werden... NEIN, tippte sie.

SCHADE. LASS DIR WAS VON MIR ERZÄHLEN. ICH WERDE VON EINEM 7319 CORTRON-MIKROPROZESSOR BETRIEBEN UND HABE EINE DATENBANK MIT 8K-BYTES. MÖCHTEST DU NOCH MEHR WISSEN?

JA, tippte sie.

Das Gerät antwortete mit mehreren technischen Informationen. Dann fragte es zu ihrer Verblüffung: BIST DU MÄNNLICH ODER WEIBLICH, SUSANNAH?

WEIBLICH, tippte sie.

BIST DU HÜBSCH?

Sam griff an ihr vorbei und tippte: JA.

BIST DU GUT GEBAUT?

Zum ersten Mal an diesem Tag lächelte sie. »Was für eine unartige Maschine ...«

»Mach mir keine Vorwürfe, ich hab sie nicht programmiert.«

NEIN, beantwortete Susannah die Frage.

WAS FÜR EIN PECH. GEHST DU TROTZDEM MIT MIR INS BETT?

Kichernd tippte sie: NEIN.

VERDAMMT. NIE HABE ICH GLÜCK BEI DEN FRAUEN. ICH FÜRCHTE, MEIN MIKROPROZESSOR IST ZU KLEIN.

Da musste sie lachen. »Was würde die Maschine tun, wenn ich ›ja‹ getippt hätte?«

»Dann hätte ich dir gesagt, du sollst dich vor dem Bildschirm ausziehen«, erwiderte er, und seine Hand glitt über ihren Rücken.

Wohlig erschauerte sie. Seine Finger wanderten zum Madarin-Kragen des Brautkleids hinauf und berührten die Haut ihres Nackens. Dort verharrte seine Hand, Susannah rührte sich nicht. Ganz leicht streichelte er sie mit seinem Daumen, während er andere Funktionen des kleinen Computers erläuterte. Doch sie hörte kaum zu.

Sie wollte sich an seine Brust schmiegen, so fest, dass ihr Körper in seinen übergehen würde. Selbstvergessen malte sie sich aus, ihr Rücken würde durch seine Haut schlüpfen, ihre Rippen zwischen seine. Und wenn er sie vollständig absorbiert hatte, das ganze Gewebe, alle Muskeln und Knochen und Sehnen, würde sie von der Quelle seines Geistes zehren. Seine Energie würde ihr gehören. Und dann würde sie in seiner Unverschämtheit und Arroganz schwelgen, in seinem Wagemut und Selbstbewusstsein, in all den Eigenschaften, die ihr fehlten und die er im Überfluss besaß. Sams Seele würde sie vervollständigen. Auf diese Weise wieder geboren, könnte sie mutig in die Welt hinausgehen, gegen alle Schreckgespenster gewappnet, vor dem Bösen geschützt, und nie wieder würde ihr etwas Schlimmes zustoßen.

Er unterbrach ihre Gedanken, indem er ihre Hand ergriff und sie aus der Garage führte. Über den kleinen Hinterhof kehrten sie zum Haus zurück. Der Geruch eines Barbecues erfüllte die Abendluft. Im Nachbargarten spielten ein paar Kinder mit Taschenlampen Fangen.

Sie gingen in die Küche, und Sam dirigierte Susannah zum Tisch. »Setz dich, heute kümmere ich mich ums Dinner. Morgen bist du dran.«

Wie ihr das flaue Gefühl im Magen verriet, würde sie noch immer keinen Bissen hinunterbringen. »Wir haben erst vor zwei Stunden gegessen.«

»Ja, ich weiß. Aber ich bin schon wieder hungrig.«

Sam spähte in den Kühlschrank. »Was meine Ernährung betrifft, bin ich irgendwie komisch. Manchmal esse ich zwei Tage gar nichts – und dann alles, was ich in die Finger kriege.« Er nahm noch eine Cola aus dem Kühlschrank, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Offenbar hatte er nichts weiter gefunden, was ihm schmecken würde.

Er nahm einen Schluck. In seinen Augen erschien ein so faszinierender Ausdruck, dass Susannah wegschauen musste. »Anscheinend trinkst du ziemlich viel Cola«, bemerkte sie nervös.

»Danach bin ich süchtig. Als ich aufhörte, Pot zu qualmen, wurde ich von Cola abhängig.« Er schlenderte zur Schiebetür der Speisekammer und stieß sie mit einer Fußspitze auf. Nachdem er den Inhalt der Regale inspiziert hatte, entschied er sich für einen Laib Weißbrot, ein Glas Jif-Erdnussbutter und eine Plastikflasche mit Honig. Dann holte er zwei Messer und zwei Teller und setzte sich neben Susannah.

»Welch ein fabelhaftes Gourmet-Dinner ...«, meinte sie leichthin und versuchte, die schmerzhafte Anspannung in ihrem Körper zu lockern.

Ohne zu lächeln, entgegnete er: »Ich denke nicht nur ans Essen.«

»Woran denn sonst noch?« O Gott, was für eine blöde Frage. Was für eine unglaublich idiotische Frage. Er dachte an Sex. An Sex mit ihr.

Sam quetschte einen Honigklecks aus der hellgelben Flasche auf seinen Zeigefinger. Als er daran saugte, ließ er Susannah nicht aus den Augen. »Kannst du’s nicht erraten?«

Mitten in ihrer Brust entstand ein heißes Verlangen, dann strömte es durch ihren Körper hinab bis in die Beine. Sie wollte sich zwingen, aufzustehen und wegzulaufen. Aber sie blieb wie gelähmt sitzen. Wenn Sex alles ist, was ihn an mir interessiert ... Sie wusste, dass er ein Draufgänger war. Reizte ihn nur die Herausforderung, die er in ihr sah? Bevor sie die Situation besprochen hatten, durfte nichts zwischen ihnen geschehen. Sie sollten einander besser verstehen, ehe sie etwas taten, das sie nie mehr rückgängig machen konnten.

Sam legte den Kopf schief, und die Haarspitzen bildeten eine dunkle Wolke auf seiner linken Schulter. Als würde sie plötzlichen Heißhunger verspüren, packte sie das Erdnussbutterglas. Ungeschickt schraubte sie den Verschluss ab und formulierte in Gedanken, was geklärt werden musste.

Mit einem trägen Lächeln nahm er ihr das Glas aus der Hand. »Habe ich nicht gesagt, heute würde ich fürs Dinner sorgen?«

Sie beobachtete, wie er eine Brotscheibe mit Erdnussbutter bestrich und auf den Tisch legte. Dann ergriff er die Honigflasche, und schaute Susannah kurz an. Ihr Atem stockte. Wie im Zeitlupentempo näherte sich seine andere Hand den winzigen, mit Seide umhüllten Knöpfen ihres Brautkleids. Dagegen müsste sie ja nun eigentlich vehement protestieren.

Doch sie brachte kein Wort hervor, während er das Oberteil ihres Kleids aufknöpfte. Erst unterhalb ihrer Brüste hielt er inne. Weil das Kleid gefüttert war, trug sie kein Hemd, nur einen durchsichtigen BH und ein passendes Höschen. Diese Reizwäsche hatte sie gekauft, um Flammen in Cal Theroux’ schwerfälliger Seele zu entzünden.

Sam hakte einen Finger unter die BH-Schließe an der Vorderseite und zog daran, aber er öffnete sie nicht. »Hast du Angst?«

Panische Angst ... Sie starrte die Honigflasche an, die er nach wie vor hielt, und ihr Mund wurde trocken. Könnte sie bloß unter seine Haut greifen und seine Kühnheit herausreißen. »Nein – nein, natürlich nicht ...«, stammelte sie. »Sei nicht albern.«

Sein rauer Daumen glitt über die obere Wölbung einer Brust. »Vielleicht solltest du dich fürchten, Baby. Weil du nicht einmal ahnst, was ich mit dir machen werde.«

In ihrem Körper schienen Raketen zu explodieren, und heißes Verlangen besiegte die zitternden Nerven. Tu es, wollte sie schreien, bitte, tu es ... Um sich zu beherrschen, schlang sie ihre Finger im Schoß ineinander. Wenn sie auch auf einem Motorrad vor ihrer Hochzeit geflüchtet war, Sandalen mit Plastikgänseblümchen trug und ein Elvis-Porträt hinter einer Toilette gesehen hatte – sie hieß immer noch Susannah Faulconer.

Jetzt ließ er den BH los, quetschte eine Honigspirale auf das Erdnussbutterbrot und hielt es ihr an die Lippen. Sie starrte es an und rührte sich nicht.

»Mach den Mund auf«, bat er.

Da sie daran gewöhnt war, einem Mann zu gehorchen, erfüllte sie Sams Wunsch und aß ein kleines Stück.

Sam biss auf der anderen Seite in das Brot. »Schmeckt’s?«

Als sie nickte, schob er ihr die Schnitte wieder hin, damit sie noch einmal abbiss. Schweigend aßen sie, kauten langsam und schauten einander in die Augen.

Dann griff er erneut nach der Honigflasche und setzte ihr die gelbe Plastiktülle an den Mund. Susannah glaubte, er wolle sie füttern wie mit einer Babyflasche. Stattdessen träufelte er Honig auf ihre Unterlippe, und sie fühlte den schweren, süßen Klecks. Ehe er hinuntertropfen konnte, beugte sich Sam vor und leckte ihn weg.

»Ich liebe Honig«, flüsterte er an ihrem Mund. Aufreizend streichelte seine Zunge ihre Lippen, und sie seufzte entzückt. Die Augen geschlossen, erkannte sie, dass sie den Kampf um ihre Beherrschung verlieren würde. Sams Küsse zogen eine klebrige Spur über ihren Hals. »Magst du Honig?«

»Ja. O ja ...«

Jetzt öffnete er ihren BH und entblößte ihre Brüste. Kühle Luft streifte ihre Haut. Sekunden später spürte sie Sams Finger. Nur mühsam unterdrückte sie ein Stöhnen. Sie blinzelte und sah, wie er die gelbe Plastiktülle an einer Brustwarze rieb – wie er Honig darauf drückte. Als er sich herabneigte und an der Knospe saugte, schrie Susannah leise auf.

Dieser Schrei befreite sie von ihren letzten Bedenken. Nun war es endgültig um ihre Selbstkontrolle geschehen. Es gelang ihr nicht mehr, ein braves Mädchen zu bleiben – eine sittsame Prinzessin mit gefühllosen Brüsten und fest zusammengepressten Beinen. Mit beiden Händen zerwühlte sie sein Haar, dann führte sie eine lange Strähne zu ihrem Mund und kostete sie. Alles von ihm wollte sie verschlingen, seine Haare, seine Kraft, seine Kühnheit.

Triumphierend lachte er, hob sie vom Stuhl hoch und presste sie an die geschmacklos gemusterte Kachelwand. Susannah umfasste seinen Nacken und dirigierte seinen Mund zu ihrem. Die Lippen weit geöffnet, nahm sie seine Zunge auf. Dieser verzehrende Kuss schmeckte nach Paradies: nach Sam, Erdnussbutter und Honig.

Er schob das Oberteil ihres Kleids noch weiter hinab, so dass sie die Arme senken musste. Sehnsüchtig grub sie ihre Finger in seine Hinterbacken und spürte pralle Muskeln unter dem rauen Jeansstoff.

Er begann, anzügliche Wörter zu murmeln, lustvolle knappe Sätze, die ankündigten, was er mit ihr machen würde und sie mit ihm. Es klang wie ein derbes, erfinderisches, obszönes Sonett. Dabei zerrte er ihr Kleid hoch und riss an ihrem Seidenhöschen. Wie aus eigenem Antrieb tasteten ihre unzüchtigen Hände nach dem Reißverschluss, und es fiel ihr schwer, ihn aufzuziehen, das Hindernis von Sams harter Erregung zu überwinden.

»Jetzt will ich dich ...«

»Ich besorg’s dir ...«

»Bevor ich fertig bin, wirst du ...«

Alle seine Vorschläge begrüßte sie mit einem atemlosen Ja.

Und dann lag sie am Boden. Ringsum schien sich die hässliche Küche zu drehen, während Susannah die Beine spreizte und endlich die Erfüllung ihrer lüsternen Mädchenträume erlebte. Das lange Haar des bösen Jungen kitzelte die Innenseiten ihrer Schenkel – genauso, wie sie sich das ausgemalt hatte, und sein Mund umschloss ihre intimste Zone. Sie bekam keine Luft. Es war, als würde sie sterben und gleichzeitig im Himmel landen. Denn nur wenige Sekunden verstrichen, als sie einen erschütternden Orgasmus mit allen Fasern ihres Seins genoss. Ihre eigene Stimme hallte in ihren Ohren wider, als würde sie jemand anderem gehören.

Auf die Erde zurückgekehrt, wusste sie es – das hatte ihr all die Jahre gefehlt. Aber das Gefühl perfekter Erlösung verflog, als sie sich an ihr schamloses Verhalten erinnerte. Was würde er von ihr denken? Natürlich musste sie sich entschuldigen und versuchen, alles zu erklären ...

»Du bist völlig ausgehungert, nicht wahr?« Sam küsste die zarte Haut an den Innenseiten ihrer Schenkel. »Armes, vernachlässigtes Baby ...« Während er weitersprach, wurde sie von einer angenehmen Trägheit erfasst. »Nie wieder musst du hungern, armes Baby. Darum werde ich mich kümmern.«

Im nächsten Moment begann seine Zunge wieder zu flattern.

Nachdem er sie zu ihrem zweiten Höhepunkt gebracht hatte, richtete er sich auf. »So will ich es«, sagte er zu ihr. Oder zu sich selbst? Das konnte sie nicht feststellen. »Genauso will ich dich.« Und dann drang er in sie ein. Er war jung und begierig, auf elementare Art selbstsüchtig, gefährlich in seiner Ungeduld. Besitzergreifend versank er zwischen ihren aristokratischen Schenkeln und nahm sie mit der ganzen Leidenschaft eines Himmelstürmers, dem nichts im Leben jemals genügen würde – nicht einmal Sex.

Bei jeder kraftvollen Bewegung keuchte Susannah wollüstig auf. Hemmungslos krallte sie ihre Fingernägel in Sams Rücken und verlangte nach mehr. Von wilder Lust getrieben, wälzten sie sich über den Küchenboden, warfen einen Stuhl um, stießen gegen die Schränke. Ihr Haar verfing sich in seinem, ihre langen Beine umschlangen seine dunkleren. Mit einem gutturalen Schrei erlangten beide gleichzeitig den Höhepunkt.

Danach lagen sie erschöpft, jedoch selig beieinander, und sie spielte mit seinen Haaren. Um nicht reden zu müssen, knabberte sie an seinem Osterinsel-Ohrring herum. Lachend forderte er sie nun auf, sich vollends auszuziehen. Nervös spähte sie zum Küchenfenster, und er grinste vergnügt, weil sie aufsprang und die kaffeefarbenen Vorhänge an der Stange aus imitiertem Holz zuzog. »Da guckt schon niemand rein«, beteuerte er. Seine gebräunten Finger strichen über seinen hellen, flachen Bauch.

»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, erwiderte sie und kam sich total albern vor.

Da brach er in lautes Gelächter aus und stand auf. Mit einem einzigen Bissen verschlang er das restliche Erdnussbutter-Sandwich. Den Mund voll gestopft, japste er: »Du bist zum Brüllen! Ehrlich!«

Die Honigflasche in der Hand, kehrte er diabolisch feixend zu ihr zurück.