21

Der Rubel rollte. Schnelles Geld. Heißes Geld. Neues Geld, das danach lechzte, zum Fenster hinauszufliegen.

Rasend schnell gingen die siebziger Jahre in die achtziger über, und die wichtigste industrielle Spritztour des zwanzigsten Jahrhunderts beschleunigte sich. Elektrotechnisches Gold strömte durch das Silicon Valley, der Kapitalismus genoss seinen Höhepunkt.

Die Videospiele hatten die Fantasie der amerikanischen Durchschnittsfamilie bereits angeregt. 1982 fand man den Gedanken an einen Computer im Wohnzimmer nicht mehr absonderlich. Praktisch über Nacht entstanden neue Firmen. Einige brachen genauso schnell wieder zusammen. Und andere bescherten ihren Begründern unvorstellbaren Reichtum.

In den luxuriösen Gemeinden Los Gatos, Woodside und Los Altos Hills stiegen die Elektrotechniker aus ihren heißen Whirlpools, stopften ihre kultigen Plastikschutzhüllen für tintenbeschmierte Kugelschreiber in Armani-Hemdtaschen, hüpften in ihre BMWs und schrien vor Freude.

Und im Herbst 1982 beherrschten die Freaks das Valley. Die bebrillten, pickelgesichtigen, über- oder untergewichtigen ultimativen Goofy-Typen ohne Dates, geschweige denn Frauen, waren die unangefochtenen Könige des ganzen Valleys!

O Mann, war das fabelhaft ...

Yank steuerte seinen Porsche 911 windschief in eine Parklücke vor dem SysVal-Hauptgebäude und schlurfte zum Eingang. Geistesabwesend nickte er zwei Buchhalterinnen zu, die bei seinem Anblick ihr Gespräch unterbrachen und dem Rücken seiner ledernen Bomberjacke wehmütig nachstarrten. In der Halle ignorierte er entschlossen den Sicherheitsbeamten hinter dem ellipsenförmigen Schreibtisch.

Bei SysVal mussten alle Mitarbeiter einen Plastikausweis vorzeigen, bevor sie eingelassen wurden. Sogar Sam trug ein solches Kärtchen am Revers. Aber Yank tat so, als würden diese Dinger nicht existieren, und Susannah hatte die Wachposten angewiesen, ihn einfach vorbeizulassen. Vom Verstand her begriff er, dass die goldenen Tage des Homebrew Clubs für immer entschwunden waren – die Tage ungehinderter freizügiger Information. Man schrieb den September 1982, John Lennon war tot, Ronald Reagan saß im Weißen Haus. Und Uncle Sam hatte soeben die American Telephone & Telegraph Corporation hopsgenommen. Die Welt veränderte sich. Überall im Valley trieben sich Industriespione herum, eifrig bestrebt, die neueste amerikanische Technologie den Japanern, den Russen oder sogar einem eben erst aufgetauchten Emporkömmling im benachbarten Industriepark zu verkaufen. Die Firma SysVal war das beliebteste Ziel dieser Gauner, dank ihres ungeheuren Erfolgs. Das alles verstand Yank. Trotzdem trug er keine Dienstmarke.

Auf dem Weg durch den langen Flur zum Multimillionen-Dollar-Labor, eigens für ihn ausgestattet, verfolgte ihn das quälende Gefühl, dass er etwas sehr Wichtiges vergessen hatte. Doch was konnte wichtiger sein als die Lösung des Problems, das die Leiterbahnen für die Lötstellen auf der neuen Platine betraf? Ganz nahe waren sie schon dran. Und er hatte eine spezielle Idee ...

Zehn Meilen entfernt, im goldenen Brokatglanz des Schlafzimmers in seinem neuen Portola-Valley-Domizil verdarb das Wäschemodel Tiffani Wade eine sorgsam arrangierte verführerische Pose mit einer ärgerlich gerunzelten Stirn. »Yank? Jetzt kannst du hereinkommen, Yank, ich bin bereit.«

Noch drei Mal rief sie nach ihm, bevor sie merkte, dass niemand antworten würde. Wütend sank sie in die Kissen zurück. »Hurensohn!«, murmelte sie. »Also tust du’s mir schon wieder an!«

 

Susannah schaltete den Blaze III auf der Konsole hinter ihrem Schreibtisch aus und streckte sich. Irgendwo im Gebäude stellte ein Mitarbeiter den Fliegeralarm an. Den nahm sie kaum wahr. Bei SysVal heulten dauernd Sirenen, oder die Leute schrien Bingo-Nummern ins Lautsprechersystem, nur damit niemand den Fehler beging, den Betrieb mit IBM oder FBT zu verwechseln.

Als hätte jemand ihre Gedanken gelesen, plärrte der Lautsprecher. »Mayday, Mayday. Soeben haben die Japaner den Parkplatz attackiert. Alle Angestellten, die Personenautos fahren, sollten sofort in Aktion treten. Das ist keine Übung. Ich wiederhole. Das ist keine Übung.«

Seufzend verdrehte Susannah die Augen. Möge der Himmel einen echten Notfall verhüten, dachte sie. An den würde niemand glauben.

Ein Großteil des SysVal-Personals war männlich, in den Zwanzigern und stolz auf ein ausgeprägtes Bad-Boy-Image. In nur sechs Jahren seit der Firmengründung hatte sich Sam Gambles Persönlichkeit zu ihrem Vorbild entwickelt. Sogar die Wunderknaben bei Apple Computer traten genauso vergammelt, dreist und wild auf wie die Rowdy-Bande bei SysVal.

Im Apple-Gebäude fanden jeden Freitagnachmittag große Bier-Feten statt, bei SysVal wurden zusätzlich Stummfilmpornos gezeigt. Ungeniert führten SysVal-Jungs vor, was sie zu bieten hatten – ihre Jugend, ihre Kühnheit, ihr Gespür für schicksalhafte Ereignisse. Sie waren es, die der Welt den magischen kleinen Blaze geschenkt hatten, die ihr halfen, den Zauber der privaten Computernutzung kennen zu lernen. So wie der unverschämte charismatische Firmengründer waren sie unbesiegbar, unsterblich.

Susannah nahm ihre Brille ab und massierte ihren Nasenrücken. Dann schaute sie zum anderen Ende ihres Büros, wo ein zerkratztes Dart-Board mit Apple-Logo hing. Lächelnd dachte sie an die Fünferbande. Jobs und Woz, Sam, Yank und sie selbst. Lauter College-Aussteiger. Freaks, Fanatiker und Rebellen – und ein überaus höfliches Partygirl. In den fünf Jahren seit der West Coast Computer Faire verwandelte sich alles, was sie anrührten, in Gold. Die Götter hatten sie mit Jugend, Verstand und grenzenlosem Glück gesegnet. Auf dem Papier waren Susannah und ihre Partner – pro Kopf – über hundert Millionen Dollar wert, aber Steve Jobs von Apple über dreihundert Millionen.

Manchmal jagte ihr der enorme Erfolg kalte Todesangst ein. Das ramponierte Apple-Dart-Board symbolisierte die einstige Rivalität zwischen den jungen Firmen. Das hatte sich in den letzten paar Jahren geändert. Zu Beginn der achtziger Jahre hatten die großen Bonzen endlich aufgehorcht und begriffen, dass sie nicht am Ball geblieben waren. IBM hatte Ende 1981 den IBM-PC auf den Markt gebracht. In bewundernswerter Frechheit – Susannah wünschte immer noch, SysVal wäre auf diese Idee gekommen  – hatte Apple Computer eine ganzseitige Anzeige in landesweite Zeitungen setzen lassen: WILLKOMMEN, IBM. IM ERNST. Diesem Gruß folgte ein Text, in dem die ausgeschlafenen jungen Aufsteiger von Apple die Rollen weiser alter Industrieller annahmen und dem mächtigen IBM-Konzern alle Vorzüge des Personalcomputers erklärten – als wären die IBM-Leute zu unerfahren, zu dumm und zu feucht hinter den Ohren, um das selber herauszufinden. Monatelang hatte die Branche darüber gelacht.

Plötzlich rollte ein spezialangefertigtes, ferngesteuertes kleines Auto in ihr Büro, überschlug sich mitten auf dem Teppich und verschwand wieder, ohne einen Hinweis auf den menschlichen Lenker zu hinterlassen. Offensichtlich amüsierten sich die SysVal-Ingenieure wieder einmal.

Susannah rieb sich die Augen und strich eine verirrte kastanienrote Strähne aus ihrem Gesicht. Jetzt trug sie ihr Haar kürzer, in einem fransig geschnittenen Stil, der ihre prägnanten aristokratischen Züge milderte. Da an diesem Tag keine wichtigen Besprechungen auf dem Programm standen, war sie leger gekleidet, in einem korallenroten Sweatshirt mit Kapuze und engen Jeans mit geraden Beinen. An einem Handgelenk glitzerten zwei schmale Goldreifen, durch einen winzigen Manschettenknopf verbunden. Den dritten Finger der rechten Hand schmückte ein zweikarätiger Diamant im Marquis-Schliff. Mehr ist besser als weniger, hatte sie definitiv entschieden.

Aus einem Impuls heraus griff sie zum Telefon und wählte die Nummer, die sie direkt mit Mitchs Privatbüro verband. Noch bevor sein Apparat läutete, kam er zur Tür herein.

»Gedankenübertragung.« In seiner Vertrauen erweckenden, tröstlichen Nähe spürte sie, wie ein Teil ihrer Nervosität verflog. »Ich wollte dich gerade anrufen.«

Müde sank er in den Sessel gegenüber ihrem Schreibtisch. »Jemand hat einen BH im Flur liegen lassen.«

»Solange niemand oben ohne herumläuft, darfst du dich nicht beklagen.«

Von ihnen allen hatte sich Mitch am wenigsten verändert. Sein großflächiges Gesicht hatte sich ein wenig verhärtet. An den Schläfen zogen sich graue Strähnen durch das rotblonde Haar. Aber sein Körper wirkte so fit wie eh und je. Mit siebenunddreißig war der geschäftsführende SysVal-Vizepräsident der Abteilung Verkauf und Marketing genauso kraftvoll gebaut wie der Footballer, der vor so vielen Jahren einen besonderen Platz in Woody Hayes’ Herz gewonnen hatte.

Der respektabelste Manager von SysVal, ein überaus gewissenhafter Schreibtischtäter, dachte sich nichts dabei, wenn er immer wieder quer über den Kontinent flog, um eines seiner Kids Fußball spielen zu sehen. Vor kurzem war er, dank seines wohltätigen Engagements in der Bay Area, von der gemeinnützigen Organisation Jaycees zum Mann des Jahres gewählt worden.

Zwischen Susannah und Mitch hatte sich im Lauf der Zeit eine tiefe Freundschaft entwickelt. Jetzt merkte sie ihm sofort an, wie erschöpft er war. Seit Monaten bemühte er sich unermüdlich um einen Multimillionen-Vertrag mit dem Staat Kalifornien, damit SysVal den Blaze III in ein paar hundert staatlichen Ämtern installieren konnte. Dieses Kapital brauchte SysVal, um die Arbeit am Wildfire zu vollenden und den neuen Geschäftscomputer vor der Konkurrenz auf den Markt zu bringen. Unglücklicherweise bewarb sich auch FBT um den Deal, und Cal Theroux legte sich mächtig ins Zeug, um die Abgeordneten zu Gunsten des Falcon 101, dem neuen Personalcomputer von FBT, zu beeinflussen. Einerseits war das Konzept des PC durch den Einstieg großer Konzerne wie IBM und FBT gefördert worden, andererseits hatte dies die Situation kleinerer Firmen erschwert.

»Sei ehrlich zu mir«, bat Mitchell und streckte die langen Beine aus. »Findest du mich spießig?«

»Spießig? Du? Wie kommst du denn darauf

»Das ist kein Witz, ich will’s wissen.«

»Meinst du’s ernst?«

Mitch nickte.

»Ja. Du bist furchtbar steif und spießig.«

»Oh, besten Dank – vielen herzlichen Dank.« Mit schmalen Augen starrte er sie an, die gekränkte Würde in Person.

Susannah lächelte. »Hängt diese plötzliche Selbstanalyse irgendwie mit deiner Beziehung zu der schönen, talentierten und unheilbar widerwärtigen Jacqueline Dane zusammen?«

»Unsinn, Jacqueline ist nicht widerwärtig, sondern eine der besten Schauspielerinnen in diesem Land.«

»Und stets bestrebt, auf sich aufmerksam zu machen. Hast du das TV-Interview letzte Woche gesehen? Da erzählte sie lang und breit, wie wichtig es doch sei, ernsthafte Filme zu drehen und ernsthafte Arbeit zu leisten. Dauernd fuhr sie mit allen Fingern durch ihr Haar, als hätte sie die Krätze oder so was Ähnliches. Noch nie habe ich ein Interview mit der Frau gehört, in dem sie nicht den Yale-Magister raushängen ließ. Außerdem kaut sie an den Fingernägeln.«

Mitch warf Susannah einen frostigen Blick zu. »Wär’s dir lieber, ich würde mich mit jungen Flittchen amüsieren, so wie Yank?«

»Sicher würdet ihr euch einen Gefallen tun, wenn ihr euere Frauen für ein paar Monate austauscht. Yank braucht jemanden mit einem Intelligenzquotienten, der etwas höher wäre als die Geschwindigkeitsbegrenzung. Und du müsstest dir eine Frau suchen, die dir die harte Arbeit ein bisschen erleichtert. Woher nimmt Jacqueline eigentlich den Nerv, dich steif oder spießig zu nennen? Wenn sie auch nur zu lächeln versuchte, würde ihr Gesicht wahrscheinlich einen Sprung kriegen.«

»Soeben hast du gesagt, ich sei spießig«, betonte er.

»Das darf ich, weil ich zu deinen besten Freunden gehöre und dich anbete. Während sie sich nur um tote Philosophen kümmert, mit Namen, die kein vernünftiger Mensch aussprechen kann.«

»In meiner Ehe mit Louise habe ich meinen Bedarf an hirnlosen Schönheiten gedeckt.«

Ärgerlich schüttelte Susannah den Kopf. Man konnte einfach nicht vernünftig mit ihm reden. In den letzten sechs Jahren war er langfristige Beziehungen mit drei Frauen eingegangen  – alle brillant, schön und sehr vernünftig. Susannah wusste noch immer nicht, welche sie am meisten gehasst hatte. Im Grunde war er ein Familienmensch. Nun fürchtete sie, er würde Jacqueline tatsächlich heiraten. Und falls ihr Verdacht zutraf, würde sich der Star mit Feuereifer auf das Angebot stürzen. Mitch übte eine eigenartige Wirkung auf Frauen aus. Obwohl er genau genommen ein Spießer war, fiel es ihm nicht schwer, Bettgefährtinnen zu finden.

Wenn sie auch wusste, dass sie gegen Windmühlen kämpfte, beharrte sie auf ihrem Thema. »Warum lässt du mich nicht ein paar Frauen für dich aussuchen? Wirklich, Mitch, ich weiß genau, wen du brauchen würdest, eine intelligente und warmherzige Frau, die nicht versuchen würde, dich zu bemuttern. Das würde dir missfallen. Außerdem müsste sie Humor haben, um auszugleichen, dass er dir völlig fehlt.« Das stimmte nicht, Mitch besaß einen wundervollen Humor. Doch der war so doppelbödig, dass ihn nur wenige Leute würdigten. »Eine Frau ohne übermäßige Libido, da du allmählich älter wirst. Wahrscheinlich hast du nicht mehr den Sex-Drive von früher.«

»Jetzt reicht’s.« Erbost sprang er auf. »Meine Libido geht dich nun wirklich nichts an, Miss Hot Shot.«

Vergeblich versuchte sie sich auszumalen, sie hätte vor sechs Jahren mit einem Mann über seine sexuellen Bedürfnisse gesprochen. SysVal hatte sie alle verändert.

Endlich lächelte er. »Jetzt, wo du stinkreich bist, hast du dich in eine nervtötende Zicke verwandelt.«

»Wir alle sind stinkreich. Und ich bin keine Zicke.«

Wie sie feststellte, war der Stress, der ihn bei seiner Ankunft in ihrem Büro sichtlich belastet hatte, inzwischen verflogen. Die Firma war ein Dampfdrucktopf voller Aktivitäten. Jede Stunde tauchte eine neue Krise auf. Gemeinsam mit Mitch hatte Susannah schon vor langer Zeit herausgefunden, wie sie sich am besten entspannen konnten – wenn sie aufeinander losgingen.

Aus dem Lautsprecher plärrte eine zornige Männerstimme.

»Der Hurensohn, der den neuen HP-Kalkulator von DP27E geklaut hat, soll ihn sofort ins Büro zurückbringen, verdammt noch mal!«

Schmerzlich verzog Mitch die Lippen, und eine missbilligend erhobene Braue wies in die Richtung des Lautsprechers. »Susannah?«

»Okay«, seufzte sie, »ich schicke noch ein Memo los, dass den Leuten solche Obszönitäten verbietet.« Schon vor Jahren hatten sie herausgefunden, wie sinnlos es war, die Lautsprecherdurchsagen zu blockieren. Nichts machte den SysVal-Ingenieuren größeren Spaß, als alles zu durchlöchern, was auch nur annähernd einem geschlossenen System glich.

»Wie war’s in Boston?«, fragte sie. Im Lauf der Jahre hatten Mitchs Kinder ihn oft besucht, und sie waren ihr ans Herz gewachsen. Auf ihrem Schreibtisch stand ein gerahmtes Bild, das die neunjährige Liza für sie gezeichnet hatte, neben einem Briefbeschwerer, von David beim Kunstunterricht in der sechsten Klasse gebastelt.

Mitch stand auf und ging zum Fenster. »Diesmal habe ich Louises neuen Ehemann endlich kennen gelernt. Wir haben ein Bier zusammen getrunken und über die Kinder geredet. Wie er mir versichert hat, kommen sie gut miteinander aus, und er würde nicht versuchen, meinen Platz bei ihnen einzunehmen. Er hält sich mehr für einen großen Bruder, nicht für einen Vater – so ungefähr. Wirklich ein netter Junge.«

»Und du hasst ihn abgrundtief, nicht wahr?«

»Am liebsten hätte ich ihm die Zähne eingeschlagen.«

Mitfühlend lächelte sie ihn an. Mitch war ein viel besserer Freund, als es Sam jemals gewesen war. Das hatte sie längst erkannt.

Ein paar Minuten lang unterhielten sie sich noch, dann verließ Mitch das Büro. Ihr Magen knurrte. Vielleicht konnte sie Sam an diesem Abend überreden, früher mit der Arbeit Schluss zu machen. Zur Abwechslung ein Dinner daheim, ein Abend zu zweit – das wäre wundervoll. Wann hatte sie das zum letzten Mal erlebt? Daran konnte sie sich nicht mehr erinnern.

Entschlossen verdrängte sie die bedrückende Gewissheit, dass Sam keinen Abend allein mit ihr verbringen wollte. Sie hatte sich angewöhnt, bei ihrer Arbeit nicht an ihre Eheprobleme zu denken. Doch das war schwierig. Während sie vom Schreibtisch aufstand und aus dem Büro ging, konzentrierte sie ihre Gedanken auf die Firma.

SysVal gehörte zu den außergewöhnlichsten Privatfirmen der Welt. Dank Mitchs perfekter finanzieller Strategie besaßen die vier ursprünglichen Partner fantastische fünfzehn Prozent des Unternehmens. Daran dachte Susannah nur ungern. Diese Summe kam ihr fast unanständig vor.

Als sie um die Ecke in den nächsten Flur bog, traf sie die beiden Ingenieure, die das ferngesteuerte Auto ausprobierten. Eine Zeit lang plauderte sie mit ihnen und bewunderte ihr Spielzeug. Dann ging sie weiter, ohne die Blicke zu bemerken, die ihr folgten.

Obwohl sie keine Schönheit war, hatte sie etwas an sich, das die jungen SysVal-Techniker faszinierte. Vielleicht lag es an den engen Jeans, den langen schlanken Beinen oder an der Art, wie sie sich bewegte – hoch aufgerichtet und stolz. Doch ihre Anziehungskraft beruhte nicht nur auf der äußeren Erscheinung. Da gab es auch noch das Aphrodisiakum ihres Reichtums, des wachsenden Einflusses, den sie auf eine von Männern dominierte Industrie ausübte. Alles in allem personifizierte die einunddreißigjährige Susannah eine hinreißende Kombination aus Stil, Sex, Verstand, Geld und Macht – und diese Qualitäten erschienen den brillanten jungen Männern, die aus aller Welt ins Valley kamen, um für SysVal zu arbeiten, unwiderstehlich.

Dauernd witzelten sie, wie es wohl wäre, mit ihr zu schlafen. Aber hinter dieser schlüpfrigen Fassade verbarg sich echter Respekt. Susannah war tough und anspruchsvoll  – und nur selten unvernünftig. Im Gegensatz zu anderen Leuten.

Da Sam nicht in seinem Büro saß, ging Susannah weiter.

Die SysVal-Zentrale verteilte sich auf drei große Gebäude, in einem zwanglosen Campus-Arrangement gruppiert. Im Hauptgebäude lag Susannahs Büro, dessen Mittelteil weitläufig und offen wirkte, mit Glas- und Trennwänden, die nicht ganz bis zur Decke reichten. Aus einem der Labors tönte ein Joan-Jett-Song, und Susannah lief an mehreren Videospielern vorbei, die eine Nische in einem der bunt gestrichenen Flure okkupierten. Bei SysVal wurden die Grenzen zwischen Arbeit und Spiel absichtlich verwischt.

Zur Linken brannte Licht, und Susannah bog in diese Richtung. Obwohl es schon nach sechs Uhr war, erörterte das New Product Team immer noch die Probleme mit dem Blaze Wildfire, dem revolutionären neuen Geschäftscomputer, den sie innerhalb eines Jahres auf den Markt bringen wollten. Trotz der viel versprechenden Zukunft von Sams Wildfire-Projekt war der Blaze III der Ackergaul von SysVal, die Butter auf dem Brot. Diesen Computer kauften die Amerikaner für ihre Kinder. Er stand in kleinen Büros, die allmählich davon abhängig wurden, und er hatte – zusammen mit seinen Vorfahren, Blaze I und II, vier Partner reich gemacht.

Aus einem der Konferenzräume drang Sams Stimme heraus. Susannah blieb in der Tür stehen und beobachtete ihn. Früher hatte allein schon sein Anblick heiße Feuerströme durch ihren Körper gejagt. Doch jetzt empfand sie wachsende Verzweiflung. Irgendwie musste sie die eheliche Beziehung wieder in Ordnung bringen. Aber wie sollte ihr das gelingen, wenn sie gar nicht wusste, was falsch daran war?

Rittlings saß er auf einem Stuhl, verkehrt herum, und dehnte den feinen Wollstoff seiner anthrazitfarbenen Hose. Die weißen Hemdsärmel waren bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, der Kragen stand offen, die Absätze seiner italienischen Halbschuhe stemmte er gegen die Sprossen des Stuhls. Ringsum saßen mehrere junge Männer mit gekreuzten Beinen am Boden. Sichtlich verzückt lauschten sie seiner New-Age-Bergpredigt. Gesegnet sei der Mikrochip, dachte Susannah, denn seine Benutzer werden die Erde erben.

Die Angestellten liebten und hassten Sam gleichermaßen. Mit seinem Evangelisteneifer feuerte er sie an, das Unmögliche zu vollbringen. Andererseits kannte er keine Geduld, wenn ihm jemand schwächere Leistungen zumutete, und seine Kritik war brutal.

Trotzdem kündigten nur wenige Mitarbeiter, und manche nahmen sogar seine demütigenden, ätzenden Strafpredigten hin, die zumeist in aller Öffentlichkeit stattfanden. Er vermittelte ihnen das Gefühl, sie hätten in ihrem Leben eine Mission zu erfüllen, sie wären wie Soldaten im letzten Kreuzzug des zwanzigsten Jahrhunderts. Und sogar die Jungs, die ihn hassen gelernt hatten, überschlugen sich, um sein Wohlwollen zu erringen. Die Stirn gerunzelt, betrachtete Susannah die jungen, strahlenden Gesichter, jedes einzelne Wort saugten sie förmlich auf. Um Sam herum hatte sich die Aura einer Heldenverehrung gebildet, die sie beunruhigte. Für das Geschäft mochte das gut sein, für ihn selbst nicht.

Jetzt bemerkte er ihre Anwesenheit und musterte sie, verärgert über die Unterbrechung. Seine Züge hatten sich früher stets gemildert, wenn er ihr begegnet war. Wann hatte sich das zu ändern begonnen? Manchmal glaubte sie, es wäre schon beim Begräbnis ihres Vaters geschehen.

Sie wies zur Küche im Hintergrund und bedeutete ihm, sie würde ihn dort erwarten. Ohne die Geste zu erwidern, wandte er sich wieder zu seinem Publikum. Sie straffte die Schultern, in würdevoller Haltung setzte sie ihren Weg fort.

Kurz bevor sie die Küche erreichte, traf sie eine Frau mit zwei kleinen Kindern, die zur großen Cafeteria gingen. Alle waren mit Passierscheinen ausgerüstet. Am Arm der Mutter hing ein Picknickkorb. Diese Szene vertiefte Susannahs Depression. So etwas sah sie nicht zum ersten Mal. Immer wieder machten SysVal-Angestellte so lange Überstunden, dass die Partner – für gewöhnlich Ehefrauen – mit den Kindern auftauchten, um wenigstens die Imitation eines Familiendinners zu organisieren. Da SysVal nur Workaholics einstellte, beeinträchtigte die lange Arbeitszeit das Familienleben  – was Sam in seiner utopischen Vision von einem grandiosen Konzern nicht berücksichtigt hatte. Aber er fand Familien ja auch nicht wichtig. Susannah berührte ihren Bauch und spürte die Leere in ihrem Innern. Wie lange würde er ihre drängende Sehnsucht nach einem Kind noch ignorieren? Wenn sie auch die Vizepräsidentin von SysVal war – sie betrachtete sich immer noch als Frau.

In der Küche angekommen, nahm sie einen Joghurtbecher aus dem Kühlschrank. Als sie ihn öffnen wollte, verharrte sie in der Bewegung, und sie kniff die Augen zusammen. Wie konnte sie ihre Ehe retten? In den vergangenen Jahren hatte sie Sam leider schon zu oft als Feind gesehen, noch einen Mann, den sie zu erfreuen hatte, der ihr ständig eine Liste von zu erfüllenden Qualitäten vor die Nase hielt. Und allen musste sie gerecht werden.

Jetzt stürmte er zur Tür herein. Entnervt strich er durch sein kurzes schwarzes Haar. »Hör mal, Susannah, du musst dich unbedingt noch einmal an die Marketing-Abteilung wenden. Von dieser Scheiße habe ich die Nase voll. Entweder engagieren sie sich für den Wildfire – und zwar total -, oder sie schleppen ihre Ärsche zu Apple rüber. Wie eine gottverdammte Bande alter Weiber ...«

Wortlos ließ sie seine Schimpfkanonade über sich ergehen. Am nächsten Morgen würde er zweifellos in die Marketing-Abteilung stürmen und einen seiner berühmtem Wutanfälle kriegen. Danach war es ihre Aufgabe, hinter ihm die Wogen zu glätten. Er war zwar nun dreißig, aber in vieler Hinsicht nach wie vor ein Kind.

Ermattet sank er in einen Sessel. »Bring mir eine Cola.«

Susannah öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose von seinem Privatvorrat. Als sie den Verschluss öffnete, zischte es. Sie stellte die Dose vor Sam auf einen kleinen Tisch. Dann neigte sie sich vor und streifte seinen Mund mit einem sanften Kuss. Seine Lippen fühlten sich kühl und trocken an. Dass sie nicht leidenschaftlich glühten, erstaunte Susannah jedes Mal, wenn er seinen Untertanen einen Vortrag gehalten hatte. Sie begann seine verkrampften Schultermuskeln mit ihrem Daumen zu massieren. »Warum nehmen wir uns am Freitagabend nicht früher frei und fahren nach Monterey? Dort gibt’s einen Gasthof, von dem ich gehört habe. Private Cottages, Aussicht aufs Meer ...«

»Keine Ahnung. Vielleicht.«

»Ich glaube, es würde uns beiden gut tun, wenn wir mal eine Weile von hier wegkämen.«

»Ja. Wahrscheinlich hast du Recht.«

Trotz seiner Zustimmung wusste sie Bescheid – im Grunde wollte er das nicht. Er ernährte sich geradezu vom rasanten Tempo der Firma. Sogar daheim dachte er pausenlos nach, rackerte sich ab, oder er machte einen Mitarbeiter an einem der sieben Telefone zur Schnecke. Versuchte er dem Leben davonzulaufen?

Ihre Hände verharrten reglos auf seinen Schultern. »Dort ist es sehr schön um diese Jahreszeit. Die Wölfe heulen den Vollmond an, der Eisprung ...«

»Heiliger Himmel ...« Abrupt riss er sich von ihr los. »Fängst du schon wieder mit dieser Babyscheiße an? Verschone mich damit! Du hast nicht einmal Zeit, mir bei der Suche nach dem neuen Orientteppich für das Speisezimmer zu helfen. Wie willst du dann ein Kind großziehen?«

»Ich befasse mich nur ungern mit Teppichen. Aber ich mag Kinder. Jetzt bin ich einunddreißig, Sam. Die Uhr tickt. Am Ende dieses Jahres gibt es bei SysVal eine Kindertagesstätte. Das wird für mich und die weiblichen Angestellten einen großen Unterschied machen.«

Sobald die Worte über ihre Lippen gekommen waren, bereute sie es, die Kinderbetreuung erwähnt zu haben. Dadurch bot sie Sam eine Gelegenheit, das Thema zu wechseln, die privaten Probleme zu ignorieren und wieder über die Firma zu reden.

»Warum tust du so, als wäre diese Kindertagesstätte schon beschlossene Sache? Darin unterstütze ich dich nicht, und ich fürchte, von Mitch darfst du auch keine Hilfe erwarten. Meine Güte, ein Unternehmen ist nicht für die Kids seiner Angestellten verantwortlich!«

»Doch, wenn das Management auch auf weibliche Arbeitskräfte Wert legt. In diesem Fall werde ich dich bekämpfen, Sam. Wenn’s sein muss, bringe ich’s vor den Aufsichtsrat.«

»Was nicht das erste Mal wäre.« Plötzlich sprang er auf. »Ich verstehe dich nicht mehr, Susannah. Dauernd legst du mir Steine in den Weg.«

Das stimmte. Immer noch glaubte sie, Sam hätte von allen Partnern die schönste Vision von SysVals Zukunft. Nur seinetwegen war SysVal niemals mit Hierarchien belastet worden, nur er sorgte für eine flüssige, straffe, profitable Organisation.

»Also, ich weiß nicht recht, Susannah ... Du hast dich verändert. Und ich fürchte, nicht zu deinem Vorteil.« Voller Missbilligung wanderte sein Blick über ihre Kleidung. Er mochte es nicht, wenn sie Jeans trug, er hasste kürzeres Haar. Wenn er sie fluchen hörte, inszenierte er eine gigantische Konfrontation. Schließlich hatte sie herausgefunden, was er sich zumindest teilweise zurückwünschte – das Partygirl, das er in der Bibliothek ihres Vaters kennen gelernt hatte.

»Bitte, Sam, wir müssen öfter zusammen sein – ohne klingelnde Telefone und die Leute, die vor unserer Haustür stehen. Da gibt es einige Probleme, die wir lösen sollten. Dafür brauchen wir Zeit. Nur wir beide.«

»Ist dir eigentlich klar, dass du dich in eine zerkratzte Schallplatte verwandelt hast? Davon will ich nichts mehr hören. Ich habe schon genug am Hals. Auch ohne den Scheißdreck, den du mir aufbürdest ...«

»Verzeihung – eh – Sam?«

Ganz vorsichtig trat Mindy Bradshaw in die Küche, als würde es am Boden von Klapperschlangen wimmeln. Die dünne Blondine mit den babyfeinen Haaren, die wie Schleier an ihren Wangen hinabfielen, sah saft- und kraftlos aus. Erst vor kurzem war sie für das New Product Team engagiert worden. Trotz ihrer Intelligenz mangelte es ihr an Selbstvertrauen, und sie hatte Sams öffentliche Schimpftiraden schon mehrmals erdulden müssen. Während der letzten Wochen hatte Susannah sie schon öfter in Tränen aufgelöst aus einem Konferenzraum laufen sehen – nicht ganz das Verhalten, das sie sich von der weiblichen Minderheit des Personals wünschte. Gerade diese Gruppe wollte sie schützen. Aber obwohl Sam das Mädchen so grausam behandelte, hing es an seinen Lippen und schmachtete ihn an, als könnte er sich jeden Moment frei schwebend vom Boden erheben.

Offensichtlich erleichterte ihn die Unterbrechung. »Ja, Mindy, was gibt’s?«

»Pete und ich haben überlegt – das heißt ...«

»Großer Gott, fangen Sie noch mal von vorn an, okay? Gehen Sie endlich mal in einen Raum, und erwecken Sie den Eindruck, er würde Ihnen gehören. Stehen Sie gerade, schauen Sie mir in die Augen, und schicken Sie mich zum Teufel, wenn Ihnen danach zumute ist.«

»O nein«, erwiderte sie atemlos. »Es ist nur – Pete und ich haben ein paar Zahlen analysiert. Und wir würden gern mit Ihnen unsere Ideen über die Preispolitik durchgehen. Auf dem – eh – Bildverarbeitungsgerät für die Preisvergleiche ...«

»Ja, natürlich.« Sam warf seine leere Coladose in den Recyclingeimer und eilte ohne ein weiteres Wort aus der Küche.

Lustlos kehrte Susannah zu ihrem Büro zurück. Die letzten Jahre hatten eine Kämpferin aus ihr gemacht. Aber sie wusste nicht, wie sie gegen ihr Eheproblem ankämpfen sollte. Aus einem Impuls heraus machte sie einen Umweg, der sie zum Ostflügel des Gebäudes führte. Vielleicht arbeitete Yank noch in seinem Labor. Manchmal, wenn sie sich aufregte, schaute sie gern bei ihm vorbei und leistete ihm einige Minuten lang Gesellschaft. Dabei sprachen sie nur selten. Aber allein schon seine Anwesenheit wirkte beruhigend. Sie genoss die stille Geduld seiner Bewegungen, seinen direkten Blick, wenn er ihn tatsächlich einmal in ihre Richtung lenkte.

Und dann zögerte sie. Nein, sie würde sich nicht angewöhnen, andere Menschen als Krücken zu benutzen, nur weil sie ihre persönlichen Schwierigkeiten nicht meisterte. Also ging sie in ihr Büro und schaltete ihren Blaze III an. Auf dem Bildschirm begannen Lichter zu flimmern. Nur wenige Sekunden lang betrachtete sie die Maschine mit einer Mischung aus Liebe und Bitterkeit. Und dann verlor sie sich in ihrer Arbeit.

 

Lange nach Mitternacht versank Sam nackt im heißen Whirlpool vor der Terrasse. Hinter ihm erhob sich ein ultramodernes Haus, dessen Dachstruktur in scharfkantigen Winkeln wie Fledermausflügel in den Sternenhimmel ragte, mit acht Solarzellen für die Energiezufuhr. Fast ein Jahr lang hatte er gemeinsam mit einem Architektenteam am Design gearbeitet, zwei weitere Jahre hatte der Bau gedauert. Drinnen war alles vom Feinsten – Couchen im Free-Form-Stil, mit weißem Wildleder bezogen, Tische mit zerklüfteten Kanten, aus Bergkristall und Gips gemeißelt. Der Verandaboden bestand aus Marmor und schwarzem Granit. In der Nähe des Whirlpools schimmerten streng geometrisch konstruierte Möbel aus Stahl, und das Becken aus schwarzem Marmor war so groß wie ein kleiner Swimmingpool.

Sam saß auf einem Vorsprung, der so geformt war, dass er sich seinem Körper anpasste. Trotz seiner Erschöpfung konnte er nicht schlafen. Während das tintenschwarze Wasser rings um ihn rauschte, blickte er auf die Lichter im Valley hinab, malte sich aus, sie wären Sterne und er würde kopfüber von fernen Regionen des Universums herabhängen. Dann ließ er sich treiben, nur auf die Wasserwirbel konzentriert, auf das Gefühl, durch eine unerforschte Galaxis zu rasen.

Niemals hätte er sich träumen lassen, die Unsummen, die er jetzt besaß, würden überhaupt existieren. Was immer er wollte, konnte er kaufen, überallhin fliegen, alles tun. Aber irgendetwas vermisste er. Das Wasser zerrte an ihm, und er flog noch tiefer in den Weltraum hinein. Finde es, wisperte eine Stimme, sieh dich um und entdecke, was dir fehlt.

Erst dreißig Jahre war er alt – und er wollte kein gesichertes, geregeltes Leben. Wo blieben die Herausforderungen? Die Sensationen? SysVal genügte ihm nicht mehr. Und Susannah genauso wenig. Ein Geräusch unterbrach seine Gedanken, eine der Verandatüren hatte sich geöffnet, und Susannah erschien in seinem Blickfeld. Unangenehm berührt, beobachtete er, wie sie ihren seidenen Morgenmantel enger gürtete und die Arme vor der Brust verschränkte, um sich vor der nächtlichen Kälte zu schützen.

»Kannst du nicht schlafen?«, fragte sie.

Er versank noch tiefer im blubbernden Wasser und wünschte, sie würde verschwinden.

»Soll ich zu dir kommen?«, schlug sie leise vor.

Gleichmütig zuckte er die Achseln. »Wenn’s dir Spaß macht ...«

Da öffnete sie den Morgenmantel und ließ ihn von den Schultern gleiten. Darunter war sie nackt. Vorübergehend wechselte der Rhythmus des Wasserwirbels, als sie sich neben ihn auf die Kante setzte. »Ziemlich heiß«, meinte sie.

»Vierzig Grad. Wie üblich.« Er bog seinen Hals nach hinten und legte den Kopf ins Wasser, schloss die Augen, um Susannahs Nähe zu entrinnen.

Zu seinem Leidwesen spürte er ihre Finger auf seinem Arm. »Sam, ich sorge mich um dich.«

»Nicht nötig.«

»Sag mir doch, was nicht stimmt.«

Da riss er die Augen auf. »Du stimmst nicht! Warum lässt du mich nicht in Ruhe?«

Einige Sekunden lang tat sie gar nichts. Dann erhob sie sich schweigend aus dem Whirlpool. An ihrem Körper glänzten Tropfen. Sein Blick glitt von ihren kleinen Brüsten zur Taille hinab, zu den weichen kastanienroten Löckchen. Wie sehr er sie immer noch begehrte, ahnte sie nicht. Ehe sie sich entfernen konnte, ergriff er ihre Hand und zog sie hinab. Da verlor sie ihr Gleichgewicht. Ungeschickt landete sie an seiner Seite, und er stieß ihren Rücken gegen den Marmor. »Öffne deine Beine.«

»Nein, ich will nicht«, protestierte sie und versuchte, sich zu befreien.

»Mach die Beine breit, verdammt noch mal!«, beharrte er.

»Bitte, Sam, das ist nicht richtig – wir müssen reden. Diesmal genügt Sex nicht.«

Als sie aufstehen wollte, biss er die Zähne zusammen und legte sich auf ihren Körper. Er wollte ihr nicht zuhören, wünschte sich das Feuer zurück, die Herausforderung, den Triumph seiner Männlichkeit. Unsanft schob er ihre Schenkel auseinander. Mit einer schnellen kraftvollen Bewegung drang er in sie ein.

Sie war nicht bereit für ihn, und sie zuckte schmerzlich zusammen. Aber er umfasste ihre Hüften und versank noch tiefer in ihr.

Die Handflächen gegen seine Brust gestemmt, versuchte sie ihn wegzustoßen. »Zum Teufel mit dir, Sam, tu das nicht!«

Doch er missachtete ihre Forderung. Rings um ihn wirbelte das nachtschwarze Wasser wie ein Hexenkessel. Dampf stieg von seinen Schultern empor, während er sich aufbäumte und den Rhythmus beschleunigte und Susannah in Gedanken verfluchte. In alten Zeiten hatte sie ihn glücklich gemacht – in alten Zeiten war das Leben aufregend gewesen  – alles neu – die Firma – Susannah ... O ja, früher hatte ihn das Leben fasziniert.

Von seinem Höhepunkt überwältigt, stieß er einen Schrei aus, heftige Wellen durchzuckten seinen Körper, schwerfällig sank er auf Susannah hinab. Mit beiden Fäusten stieß sie ihn von sich und verließ den Whirlpool.

»Susannah ...«

Da fuhr sie herum, von weißem Dampf umhüllt. In ihren hellgrauen Augen glitzerte wilde Wut. »Tu mir das nie wieder an!«

Nackt und zornig stand sie über ihm. Vor dem Himmel zeichnete sich die Silhouette ihres Körpers ab, ihr Kopf vor dem Mond, so dass sich eine Gloriole aus silbernem Glanz um ihr nasses Haar bildete und ihre Schultern schimmern ließ. Wie Quecksilber rannen die Tropfen über ihre Haut. Während Sam sie atemlos anstarrte, schien ihre ganze Gestalt geradezu unheimlich zu phosphoreszieren, und sie wirkte heilig und profan zugleich.

Er hasste die Kraft, die sie ausstrahlte, die Macht und den Mut. Dies alles hatte sie bei der ersten Begegnung nicht besessen. Wann war sie ihm vorausgeeilt? Wie hatte sie Geheimnisse erlernt, die er nicht kannte?

In seinem Innern brach ein Damm voller Gefühle, und er schrie sie an: »Warum sollte ich mich um deine Gefühle sorgen? Du kümmerst dich ja auch nicht um mich!«

Jetzt wirkte das Mondlicht, das sie umfloss, geradezu überirdisch. »Du weißt ja nicht einmal, was du willst.«

Er sehnte sich nach jenem Prickeln, das er früher verspürt hatte, nach dem Gefühl, sie würde die Leere ausfüllen, die so oft in seinem Innern entstand, und ihm einen Teil ihrer Gelassenheit schenken, die rauen Kanten abschleifen, seine Ungeduld bezähmen. Seine Angst vor dem Tod sollte sie ihm nehmen, seine Langeweile verscheuchen und ihm neue Herausforderungen bieten.

Voller Zorn stieg er aus dem Whirlpool und strich das Wasser von seinem Körper. »Falls du noch immer nicht herausgefunden hast, was mit uns schief läuft – ich werd’s dir sicher nicht erklären.«

»Schließ endlich Frieden mit dir selber«, empfahl sie ihm tonlos. »Das kann ich dir nicht abnehmen.«

»Natürlich hätte ich’s wissen müssen – du willst mir die Schuld geben«, stieß er hervor. »Aber was mit uns geschieht, ist dein Problem, Susannah, nicht meines.« Er stürmte davon, dann fiel ihm ein, dass sie eine viel strengere Strafe verdiente, weil sie ihm nicht half. Zu einem noch grausameren Angriff entschlossen, fuhr er herum. »Ich warne dich! Leg mich lieber nicht mit dieser Anti-Baby-Pille herein!«

»Du mieser Schuft!« Entrüstet ballte sie die Hände.

Auf ihren Wangen glänzten Tropfen, und er wusste nicht, ob sie aus dem Pool stammten oder ob es Tränen waren. »Wenn du schwanger wirst, verlasse ich dich!«, herrschte er sie in blinder Wut an. »Das meine ich ernst!«

Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, lief sie zu einer Glastür. Vergessen lag der Morgenmantel auf der Veranda.

»Hier sollte sich einiges ändern!«, schrie er ihr nach.

Doch sie verschwand im Haus, und er stand allein unter den Sternen.