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Conti Dove, geborener Constantine Dovido, war dumm, charmant und wahnsinnig sexy. Vor ein paar Monaten hatte ihm ein Mädchen eingeredet, er würde ein bisschen wie John Travolta aussehen, und seither erzählte er Paige jeden Tag davon. Er hatte dunkles Haar und sprach mit ausgeprägtem Jersey-Akzent. Nach ihrer Meinung war das die einzige Ähnlichkeit.

Beinahe liebte sie ihn. Er behandelte sie gut und war nicht schlau genug, um ihr Täuschungsmanöver zu durchschauen.

»Gefällt dir das, Püppchen?«, fragte er und streichelte sie so hingebungsvoll wie die Saiten seiner Gibson-Gitarre.

»Hm – ja ... O ja ...« Stöhnend wand sie sich umher und zog eine erstklassige, exzellente Show ab, damit er nicht merkte, dass sein wildes Mädchen diese intime Berührung nur widerwillig ertrug.

An Contis Liebeskünsten gab es eigentlich nichts auszusetzen. Er drückte auf alle richtigen Knöpfe und schlief nicht ein, wenn er’s hinter sich hatte. Aber sie machte sich nichts aus Sex. Natürlich tat sie’s, weil’s alle taten. Und sie kuschelte gern. Trotzdem machte es ihr keinen Spaß, und manchmal hasste sie’s sogar.

Mit sechzehn war sie von einem College-Jungen vergewaltigt worden, den sie bei einem Rock-Konzert im Golden Gate Park kennen gelernt hatte. Davon erzählte sie niemandem. Entweder würde man sie bedauern oder behaupten, sie habe es herausgefordert.

Als sie wartete, bis Conti sein Liebesspiel beendete, umklammerte sie seine nackten, muskulösen Arme. Diese spektakulären Bizepse kultivierte er mit Hilfe der Hanteln, die sie in einer Ecke ihres Schlafzimmers verwahrten. Der Raum war so sauber, wie man’s ihr gar nicht zutraute, weil sie Schmutz verabscheute. Aber sie fand das Apartment furchtbar hässlich – mit einer rissigen Decke und Möbeln, die nicht zusammenpassten. Eine große Matratze lag am Boden. Darauf schlief sie nur, wenn Conti sie im Arm hielt, denn sie fürchtete, eine Maus würde über ihren Kopf krabbeln und sich in ihrem Haar verfangen.

»Sag mir, wie gut sich das anfühlt«, gurrte er in ihr Ohr.

»Gut, Conti. Gut.«

»O Gott, Püppchen, ich liebe dich so sehr.« Jetzt drang er in sie ein und bewegte sich im Rhythmus von »I Can’t Get No Satisfaction«, der Melodie, die ständig in ihrem Gehirn gellte.

Diesen Song hielten die Doves für ihre beste Nummer. Jason spielte den Bass, Mike das Keyboard, Benny saß am Schlagzeug, Paige war die Backgroundsängerin und Conti der Leadsänger. Während er temperamentvoll an seiner Gibson zupfte, schwang er die Hüften im Takt hin und her.

I can’t – get no – satis-faction ...

Um noch tiefer einzudringen, grub Conti seine Finger in ihre Hinterbacken und hob sie hoch. Ihre Gedanken entfernten sich von der Wirklichkeit und wanderten zu einem schönen Ort – einem ländlichen Garten voller Malven und Rittersporn. Mittendrin stand eine alte Eisenpumpe. Paige stellte sich Vogelgezwitscher und den Duft von Geißblatt vor. In ihrer Fantasie sah sie sich auf einer handgearbeiteten Patchworkdecke liegen, ein dickes, rosiges Baby an ihrer Seite, das fröhlich strampelte und mit beiden Fäustchen in die Luft schlug. Ihr Baby. Das Baby, das sie bei der Abtreibung verloren hatte.

I can’t – get no ...

I can’t – get no ...

Aus Contis Kehle rang sich ein lang gezogenes, halb ersticktes Stöhnen. Dann presste er seine Lippen an ihren Hals. Während er erschauerte, wirkte er so verletzlich, dass sie ein absurdes Bedürfnis empfand, ihn zu beschützen. Sie streichelte seinen Rücken, spendete ihm eine oberflächliche Art von Trost. Wie viele Männer waren schon über ihr erschauert? Über ein Dutzend, nein, viel mehr. Ihre Freundin Roxie behauptete, ein Mädchen sei erst dann promiskuitiv, wenn es mit mindestens dreißig Männern geschlafen habe. Aber Paige fühlte sich seit der Vergewaltigung promiskuitiv.

Als Conti sich beruhigt hatte, hob er den Kopf und schaute sie an. »Wie ich dich liebe, Püppchen ...«

An seinen Wimpern hingen Tränen, und zu ihrer Verblüffung brannten ihre eigenen Augen ebenfalls. »Ich liebe dich auch«, versicherte sie, obwohl es nicht stimmte. Aber sie hätte es grausam gefunden, etwas anderes zu sagen.

Wegen der Bumserei war es spät geworden, und sie mussten sich beeilen. Alle fünf Mitglieder der Doves kellnerten in einem Club namens Taffy Two, benannt nach dem Hund des früheren Besitzers, der wahrscheinlich Taffy One geheißen hatte. Für diese Arbeit bekamen sie kein Gehalt und nur die Hälfte der Trinkgelder. Das akzeptierten sie, weil der Eigentümer sie jeden Abend um elf eine Stunde lang spielen ließ.

Das Taffy’s war ein drittklassiges Lokal inmitten eines weniger pittoresken Stadtteils von San Francisco. Aber gelegentlich kamen ein paar hohe Tiere herein und setzten sich an einen der vorderen Tische. Conti hoffte, irgendjemand würde die Doves entdecken. Wenn Paige besonders deprimiert war, hielt sie ihn für das einzige Mitglied der Band, das genug Talent hatte, um in einem besseren Club aufzutreten. Meistens verdrängte sie solche Gedanken. Sie mochte nicht die beste Sängerin der Welt sein. Aber irgendwie würde sie’s zu was bringen und den Triumph ihrem Vater unter die Nase reiben.

Beinahe hatten sie die Gasse erreicht, die zum Hintereingang des Taffy’s führte, als Conti plötzlich einen Arm hob und schrie: »He, Benny!«

Seine Stimme gellte schmerzhaft in Paiges Ohren. Gequält zuckte sie zusammen.

»Hallo, Conti. Was ist los?« Benny Smith schlenderte ihnen entgegen, der kleine, dünne Schlagzeuger mit der kurzen Afro-Frisur und der hellbraunen Haut.

»Nicht viel.« Conti schlang seine Finger um Paiges Nacken, wie ein Highschool-Athlet mit seiner Cheerleader-Freundin. »Lässt dieser Typ aus Detroit was von sich hören, den Mike erwähnt hat?«

»Der ist verschwunden. Aber gestern Abend sind ein paar Leute von Azday Records im Bonzo’s aufgetaucht.«

»Kein Witz? Vielleicht kommen sie auch ins Taffy’s.«

Daran zweifelte Paige. Im Gegensatz zum Taffy Two war das Bonzo’s ein einigermaßen respektables Etablissement, in dem bessere Bands musizierten. Conti und Benny fachsimpelten weiter und führten sich auf, als würde ihnen jeder Tag einen goldenen Schlüssel bescheren, der das Tor zum ganz großen Erfolg aufsperrte. Wie sich dieser Optimismus anfühlte, wusste sie nicht mehr.

An diesem Abend war das Taffy’s schlecht besucht, und so fielen die Nachzügler, die mitten in die dritte Stones-Nummer der Doves hineinplatzten, umso mehr auf. Paige trug einen billigen Jogginganzug aus blauem Satin voller funkelnder Nieten. Rhythmisch schlug sie auf ihren Schenkel und beobachtete die zwei Männer, die an einem vorderen Tisch Platz nahmen. Die Anzüge glänzten unverkennbar. Eindeutig reine Seide. An den Handgelenken entdeckte sie teure Uhren.

Als Benny die beiden sah, stieß er beinahe sein Schlagzeug um. »Die Typen von Azday Records«, flüsterte er nach dem letzten Akkord von »Heart of Stone«. »Den Alten kenne ich – Mo Geller. Hängt euch rein, Leute! Diese Chance dürfen wir nicht vermasseln!«

Das Gesicht von panischer Angst verzerrt, schaute Conti zu Paige herüber. Trotz des ungeheuer wichtigen Augenblicks fühlte sie sich erstaunlich ruhig und lächelte ihm besänftigend zu. Benny gab den Takt an, und die anderen stimmten ein. Sobald sie den Rhythmus des Songs im Blut spürte, warf sie den Kopf zur Seite. Ihre flatternden Haare fingen die Lichter ein, so dass sie schimmernden Flammen glichen. Dann schüttelte sie ihre Locken noch einmal.

Während Conti zu singen begann, wandte er sich zu ihr. Wilde Emotionen schienen ihn zu erfassen. Lachend schwang er die Hüften – eine sexuelle Herausforderung. Auf diese Stimmung ging sie ein, lachte zurück und schürzte verführerisch die Lippen. Da tänzelte er heran, neigte sich zu ihr, und ihr Haar schlug gegen seine Wange. Von den anderen Doves schreiend ermutigt, vollführten sie einen temperamentvollen »dirty dance«. Für diese Nummer bekamen sie so frenetischen Beifall wie seit Monaten nicht mehr.

Die beiden Männer blieben bis zum Ende des Sets sitzen. Danach spendierten sie der Band Drinks. »Ihr Kids seid gut drauf«, meinte Mo Geller und ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren. »Habt ihr auch eigenes Material?«

»Klar«, versicherte Benny. Die Band sprang wieder auf die Bühne und trug zwei Songs vor, die der Bassist geschrieben hatte.

»Um über einen Vertrag zu reden, ist’s noch zu früh.« Mo drückte seine Visitenkarte in Bennys Hand. »Aber ich bin beeindruckt. Wir bleiben in Verbindung.«

Gegen Mitternacht stürmten die Doves aufgekratzt Contis und Paiges Apartment, wo sie das Ereignis ausgiebig feierten. Sie rauchten Gras, erzählten sich idiotische Witze und tranken billigen Wein. Wortreich verkündete Conti, wie viel sie ihm alle bedeuten würden. Dann brach er in sentimentale Tränen aus.

High vom Pot und vom ersten Silberstreif des Erfolgs, der sich am Horizont zeigte, alberten sie herum, bis die Weinflaschen leer waren. Als der Morgen graute, schliefen die Jungs in verschiedenen Ecken der Wohnung. Nur Paige saß hellwach am Fenster.

Um sechs schlich sie aus dem Apartment und ging durch den dunklen, mit Abfall übersäten Flur zum Münzfernsprecher, der neben der Haustür hing. Sie nahm ein paar Cents aus ihrer Jeanstasche und warf sie in den Schlitz. Nach kurzem Zögern wählte sie die Nummer von Falcon Hill. Susannah lag sicher noch im Bett, und die Haushälterin würde nicht vor acht Uhr eintreffen. Wenn Joel nicht verreist war, würde er den Hörer abnehmen.

»Ja?«, meldete er sich so brüsk, als würde er vor der Sprechanlage in seinem Büro sitzen.

Nervös wickelte sie das schmutzige, ausgeleierte Telefonkabel um ihre Finger. »Daddy, hier ist Paige.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte sekundenlanges Schweigen. »Es ist sechs Uhr, Paige, und ich ziehe mich gerade an. Was willst du?«

»Tut mir Leid, dass ich nicht auf deiner Geburtstagsparty gewesen bin. Mir – ist was dazwischengekommen.«

»Ich wusste gar nicht, dass du eingeladen warst.«

Bitter verzog sie die Lippen. Das hätte ich mir denken können, dass die heilige Susannah dahinter steckt ... »Nun – ja, das war ich.«

»Ah, ich verstehe.«

Paige drehte das Gesicht zur abblätternden Wand. »Hör mal, da gibt’s Neuigkeiten, die dich vielleicht interessieren«, stieß sie hastig hervor. »Gestern war jemand von Azday Records im Club. Der war ganz begeistert von unserer Band, und er will mit uns über einen Vertrag reden.«

Atemlos wartete sie auf die Antwort ihres Vaters, die Augen fest zusammengekniffen. Am liebsten hätte sie ihm erklärt, was sie sich wünschte – eine Lobeshymne, enthusiastische Gratulationen.

»Ich verstehe«, wiederholte er.

Die Stirn gegen die Wand gelehnt, umklammerte sie den Hörer so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Da kann was draus werden. Azday ist eine große Firma, die testen viele Bands. Vielleicht wird’s unser Durchbruch.«

Joel seufzte. »Keine Ahnung, wieso du anrufst, um mir das zu erzählen, Paige ... Du rechnest wohl kaum mit meinem Segen. Wann wirst du anfangen, dich wie ein erwachsener Mensch zu verhalten?«

Bei diesen Worten zuckte sie zusammen, als hätte er sie geschlagen. Dann schluckte sie krampfhaft. »He, Daddy – ich amüsiere mich! Für all diese Scheiße ist das Leben zu kurz ...« Lautlos ließ sie ihre Tränen fließen.

In seiner Stimme schwang kalte Missbilligung mit. »Jetzt muss ich mich wirklich anziehen, Paige. Wenn du bereit bist, dich so verantwortungsbewusst zu benehmen wie deine Schwester, werde ich gern mit dir reden.« Ein scharfes Klicken beendete das Gespräch.

Unbewegt stand sie da, den Hörer immer noch am Ohr, die nasse Wange an die Wand gepresst, wo ihre Tränen die flüchtig hingekritzelten Obszönitäten und Telefonnummern mehrerer Jahrzehnte verschmierten. »Lass mich nicht im Stich«, wisperte sie. »Niemals habe ich dich absichtlich geärgert. Ich wollte nur, dass du mich beachtest und stolz auf mich bist. Bitte, Daddy. Sei ein einziges Mal stolz auf mich.«

Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss, und ein junger Mann ging den Flur entlang, auf dem Weg zur Arbeit. Paige hängte den Hörer ein und richtete sich so abrupt auf, dass ein heftiger Schmerz durch ihren Rücken schoss, als hätte man ihr flüssigen Stahl injiziert. Das Kinn erhoben, schlenderte sie an dem Hausbewohner vorbei und wiegte sich scheinbar unbeschwert in den Hüften.

Ein langer, leiser Pfiff folgte ihr.

Verächtlich warf sie den Kopf in den Nacken. »Fahr zur Hölle, Arschloch.«

 

Susannah steuerte den silberfarbenen Mercedes, den Joel ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, auf den Parkplatz des Palace of Fine Arts. Wie eine barocke Hochzeitstorte erhob sich der Rundbau über die anderen Gebäude des Marina Districts. Bei ihrer Ankunft in der City von San Francisco hatte es zu nieseln begonnen. Mit zitternden Fingern schaltete sie die Scheibenwischer und den Motor ab. Dann berührte sie nervös ihr sorgsam frisiertes Haar, stieg aus und sperrte den Wagen ab.

Als sie den Schlüssel in ihre kleine lederne Schultertasche steckte, hatte sie das Gefühl, eine Fremde würde von ihrem Körper Besitz ergreifen – eine rastlose, rebellische Fremde. Warum tue ich etwas, das kein bisschen zu meinem Charakter passt, fragte sie sich zerknirscht. Sie benahm sich gerade genauso verantwortungslos, wie sie es ihrer Schwester ständig vorwarf.

Sie überquerte den Parkplatz, ging zum Hauptgebäude und erinnerte sich an die Geschichte des Palace, damit sie nicht an ihre Unvernunft denken musste.

1915 war der Palace of Fine Arts erbaut worden, anlässlich der internationalen, zur Feier der Eröffnung des Panamakanals veranstalteten Pan-Pazifischen Ausstellung. In den späten fünfziger Jahren hatte man das Gebäude vor dem Verfall gerettet, und jetzt enthielt es das Exploratorium, ein wissenschaftliches, vor allem bei Kindern sehr beliebtes Museum, das den Besuchern diverse Experimente ermöglichte. Bis vor kurzem hatte Joel dem Aufsichtsrat angehört, dann war Susannah seine Nachfolgerin geworden.

Sie wanderte am Exploratorium vorbei und folgte dem Weg, der zum Rundbau neben der kleinen Lagune führte. Allen Elementen geöffnet, wurde die Rotunde mit den massiven Säulen von einer Kuppel überwölbt, um die sich ein klassizistisches Fries zog. Trotz einer Wollhose, eines Pullovers mit Zopfmuster und eines Blazers fröstelte Susannah, und sie wünschte, sie hätte wärmere Sachen angezogen. Aufgeregt betastete sie ihren Verlobungsring, den einzigen Schmuck, den sie außer einer schmalen Armbanduhr trug.

»Weniger ist mehr«, hatte ihre Großmutter oft betont. »Denk daran, weniger ist immer mehr.« Aber manchmal dachte Susannah, wäre weniger einfach nur weniger.

Beklommen und schuldbewusst schaute sie sich um. Wäre sie bloß nicht hierher gekommen ... Sie versuchte sich einzureden, dazu hätte sie sich nur aus Neugier auf den Inhalt von Sam Gambles Lederkoffer entschlossen. Doch sie fürchtete, dass das nicht stimmte.

»Also habe ich Sie richtig eingeschätzt.«

Verwirrt drehte sie sich um und sah ihn in die Rotunde schlendern. Auf seiner Jacke perlten Regentropfen, etwas Silbernes schimmerte durch seine dunklen Haare – ein Ohrring. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Was musste das für eine Frau sein, die ihrem Vater und ihrem Verlobten entfloh, um einen Mann mit einem Ohrring zu treffen?

Er stellte seinen kleinen Koffer neben einen Sägebock und ein paar Holzkisten, die für Reparaturarbeiten benutzt wurden. Als er näher kam, roch Susannah den Regen in seinem Haar. Sie starrte die Strähnen an, die an seiner Wange klebten. Dann glitt ihr Blick zu dem silbernen, wie ein Eingeborenenkopf von der Osterinsel geformten Ohrgehänge, das hin und her baumelte. Irgendwie erinnerte es Susannah an das Pendel eines Hypnotiseurs.

»Normalerweise erwarte ich zu viel von den Leuten«, sagte er, »und ich werde meistens enttäuscht.«

Die Hände in den Taschen ihres Blazers vergraben, beschloss sie zu schweigen – so wie üblich, wenn sie sich unsicher fühlte. Ironischerweise hatte ihr dieses Schweigen den Ruf einer unerschütterlichen Selbstbeherrschung eingetragen. Und dann hörte sie sich ihre Gedanken aussprechen, als wäre sie in den Bann des hypnotisch schwingenden Ohrrings geraten. »Manchmal glaube ich, dass ich nicht genug von den Leuten erwarte.«

Nach ihren Maßstäben war das ein uncharakteristisch kühnes Geständnis. Aber Sam Gamble zuckte nur die Achseln. »Damit überraschen Sie mich nicht.« Viel zu eindringlich musterte er ihr Gesicht. Das zerrte noch mehr an ihren ohnehin schon strapazierten Nerven. Plötzlich grinste er. »Wollen Sie später mit mir auf meiner Harley fahren?«

Zu ihrer eigenen Verblüffung lächelte sie. »Ich bin kein Bike-Typ.«

»Was? Sind Sie noch nie auf einem gefahren?«

Einige Sekunden lang zog sie seinen Vorschlag tatsächlich in Betracht – bis sie erkannte, wie lächerlich das war. Niemals würde sie sich auf ein schmutziges, gefährliches Motorrad setzen. Sie schüttelte den Kopf.

»Versuchen Sie’s mal. Es ist großartig. Unglaublich. Diese Energie zwischen den Schenkeln zu spüren – die Vibrationen des Motors ...« Er senkte die Stimme, und seine Augen schienen sie zu liebkosen. »Fast so gut wie Sex.«

Wenn es darum ging, Gefühle zu verbergen, war Susannah die amtierende Weltmeisterin. Nicht einmal ein leichtes Zucken ihrer Lider verriet, welche Wirkung seine Worte ausübten. Jetzt erkannte sie deutlicher denn je, was für ein Fehler es war, diesen Mann zu treffen. Irgendetwas an ihm regte die unschicklichen erotischen Fantasien an, die sie immer wieder peinigten. »Eigentlich dachte ich, Sie hätten mich hierher gebeten, um über Geschäfte zu reden, Mr. Gamble.«

»Und ich dachte, rothaarige Frauen wären wahnsinnig temperamentvoll. Sie sehen nicht so aus, als könnten Sie jemals wütend werden.«

Seltsamerweise empfand sie das Bedürfnis, sich zu verteidigen. »Doch, sicher ...«

»Waren Sie schon einmal richtig sauer?«

»Ich ärgere mich genauso wie alle Menschen.«

»Haben Sie jemals irgendwas an die Wand geworfen?«

»Nein.«

»Oder jemanden geschlagen?«

»Natürlich nicht.«

»Oder haben Sie irgendwen Arschloch genannt?«, fragte er und grinste boshaft.

Als sie ihm eine geziemende kühle Antwort geben wollte, besiegte dieses verräterische Lächeln schon wieder ihre Lippen. »Dafür bin ich zu gut erzogen.«

Ohne Vorwarnung streichelte er ihre Wange. »Sie sind wirklich was ganz Besonderes, Suzie. Wissen Sie das?«

Sofort erstarb ihr Lächeln. Seine Finger fühlten sich rau und rissig an. Ganz anders als Cals Hände ... Die waren so glatt, dass sie seine Berührung manchmal gar nicht wahrnahm. Hastig drehte sie den Kopf zur Seite, um Sam Gambles ungehörigen Zärtlichkeiten auszuweichen. »Ich heiße Susannah. Noch nie im Leben wurde ich Suzie genannt.«

»Sehr gut.«

Voller Unbehagen strich sie über den Schulterriemen ihrer Tasche. »Vielleicht sollten Sie mir erklären, warum Sie mich hier treffen wollten.«

Da lachte er und ließ seine Hand sinken. »Außer ein paar Englischprofessoren auf dem College sind Sie der einzige Mensch in meinem Bekanntenkreis, der ein Wort wie ›vielleicht‹ benutzt, ohne dass es falsch klingt.«

»Sie waren auf dem College?« Irgendwie passte das nicht zum Image des wilden Motorradfahrers.

»Zwei Jahre, dann hat’s mich gelangweilt.«

»Wie kann man sich auf einem College langweilen? Das verstehe ich nicht.«

»Nun ja, ich bin ziemlich rastlos.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, ergriff er ihren Arm und führte sie zu einer der Holzkisten, die irgendwelche Arbeiter hatten stehen lassen. »Setzen Sie sich, ich will Ihnen was zeigen.« Widerstrebend gehorchte sie, faltete die Hände im Schoß und wartete, bis er den Lederkoffer an ihre Seite gestellt hatte. »Ich liebe Herausforderungen, Suzie. Wenn Sie das gesehen haben, werden Sie vielleicht verstehen, wer ich bin.«

Während er die Schnallen öffnete, hielt sie den Atem an. Welche Geheimnisse trug dieser Bike-Freak, der ihr allmählich wie ein Medizinmann vorkam, bei sich? Vor ihrem geistigen Auge erschienen lächerliche romantische Bilder – von vergilbten Landkarten, auf denen vergrabene Schätze eingezeichnet waren, von kostbaren Juwelen, mit jahrhundertealten Flüchen beladen, von geheiligten Schriftrollen aus dem Toten Meer.

Mit einer dramatischen Geste hob Sam Gamble den Deckel des Koffers.

Eine Zeit lang schwieg er. Als er schließlich sprach, glich seine Stimme dem ehrfürchtigen Flüstern eines Gläubigen, der in einer Kirche betet. »Haben Sie jemals etwas so Schönes gesehen, Suzie?«

Von Enttäuschung überwältigt, starrte sie den Inhalt des Koffers an.

»Dieses Design ist so formschön, so verdammt effizient, dass man fast weinen könnte. Hier sehen Sie die Vorhut neuer Lebenswege, Suzie.«

Sie sah nichts weiter als eine uninteressante Sammlung elektronischer Teile, auf eine Leiterplatte montiert.

»Ein Computer, Suzie. Klein und billig genug, um die Welt zu verändern.«

Beinahe war ihr Frust greifbar. Um das zu begutachten, hatte sie sich wie ein Fassadenkletterer von Falcon Hill weggeschlichen? Sicher hing dieses verantwortungslose Benehmen mit dem Stress der Hochzeit zusammen, die bald stattfinden würde. Susannah rückte den Diamanten ihres Verlobungsrings genau in die Mitte des Fingers und kehrte in ihr Schneckenhaus zurück, kühl und höflich wie eh und je. »Warum Sie mir das zeigen, weiß ich wirklich nicht.« Sie wollte von der Kiste aufstehen, aber eine harte Hand packte ihre Schulter und drückte sie zurück. Verstört rang sie nach Luft.

»Klar, ich weiß, was Sie denken. Für einen Computer ist dieses Ding viel zu klein.«

Das hatte sie keineswegs gedacht. Aber sie ließ es lieber dabei bewenden, bevor er ihr anmerkte, was für wirre Gedanken ihr wirklich durchs Gehirn schwirrten. »Seit den fünfziger Jahren leistet FBT hervorragende Pionierarbeit in der Computerbranche. Fast mein ganzes Leben lang hatte ich mit diesen Geräten zu tun. Und die sind viel größer als das hier.«

»Genau. Selbst die so genannten Minicomputer sind so groß wie Kühlschränke. Aber da drin steckt alles, was ein Computer braucht, Suzie. Ein Mikrocomputer. Jeden Tag arbeitet Yank an diesem Apparat, um ihn noch zu verbessern.«

»Yank?«

»Ein elektronisches Genie, der geborene Hacker. Schon in unserer Kindheit lernten wir uns kennen. Seither sind wir Freunde. Er kann den tollsten integrierten Schaltkreis konstruieren, den Sie je gesehen haben. Und er setzt seinen ganzen Ehrgeiz drein, einen Apparat zu basteln, der einen Chip weniger braucht als andere. Wenn eine etablierte Firma hinter diesem Computer steht, könnte er noch vor dem Jahresende auf den Markt kommen.«

Mit einer »etablierten Firma« meint er FBT ... Wieso hatte sie vergessen, dass er sie nur benutzen wollte, um sich an ihren Vater heranzumachen?

Weil sie sich wie eine Närrin fühlte, war sie mit voller Absicht unfreundlich. Das passte nicht zu ihr – ebenso wenig wie der idiotische Entschluss, heimlich davonzuschleichen, um einen impertinenten Kerl zu treffen. Verächtlich zeigte sie auf das elektronische Sammelsurium, das ihm offenbar so viel bedeutete. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand so was kaufen will.«

»Machen Sie Witze?«

»Nein, ich scherze nie.«

Sie spürte seine Ungeduld. Wieder einmal starrte sie ihn fasziniert an und beobachtete, wie er erfolglos seine Emotionen zu zügeln suchte. Im Gegensatz zu ihr schien er nichts zu verbergen. Wie musste das sein, diese verlockende Art von Freiheit zu genießen?

»Haben Sie’s nicht verstanden?«, fragte er.

»Was?«

»Denken Sie mal nach, Suzie. Die meisten Computer in diesem Land sind Millionen Dollar schwere Maschinen, in Betonräumen weggesperrt, wo nur Kerle in dreiteiligen Anzügen rankommen – mit speziellen Personalausweisen und Karten an den Brusttaschen, auf denen ihre Fotos prangen. In den FBT- und IBM-Fabriken werden solche Apparate fürs große Geschäft gebaut, für die Regierung, für Universitäten, fürs Militär. Von hohen Tieren hergestellt, um den Bedarf hoher Tiere zu decken. Mit einem Computer besitzt man Wissen – und Macht. Und bisher haben die Regierung und die großen Wirtschaftsbosse alle Macht für sich reserviert.«

Skeptisch spähte sie erneut in den Koffer. »Und das lässt sich damit ändern?«

»Nicht sofort. Aber mit der Zeit, ja – besonders, wenn das Gerät von einer Firma wie FBT vermarktet wird. Wir brauchen ein Terminal, einen Video-Monitor. Natürlich wird das eine Menge Geld verschlingen. Aber Yank erfindet ständig irgendwas Neues. Glauben Sie mir – der Mann ist wirklich ein Genie.«

»Offenbar haben Sie nicht allzu viel Respekt vor FBT. Warum bieten Sie das Ding ausgerechnet dieser Firma an?«

»Weil ich nicht genug Geld habe, ums selber zu produzieren. Sicher, Yank und ich könnten ein paar kleine Computer zusammensetzen und unseren Freunden verkaufen. Doch das wäre nicht gut genug. Begreifen Sie’s? Ein Multi wie FBT muss das schaukeln. Wenn sich FBT für Yanks Erfindung stark macht, wird die Welt einen Computer bekommen, der so klein – und noch wichtiger – so billig ist, dass ihn jeder kaufen und nach Hause mitnehmen kann – einen Personalcomputer. Den stellt der Kunde auf seinen Schreibtisch und spielt damit rum. Noch zwei Jahre – und wir würden die dicken großen Bonzenmaschinen ins Reich der Dinosaurier verbannen.«

Das Feuer in seinen Augen wirkte so charismatisch, seine Ausstrahlung so energiegeladen, dass sie sich beinahe mitreißen ließ. »Und wie funktioniert der Apparat?«

»Das kann ich Ihnen hier nicht zeigen. Er muss angeschlossen werden. Dafür braucht man elektrischen Strom. Um die Datenbank zu laden. Damit alles läuft, verwendet man ein Terminal – eine Tastatur wie bei einer Schreibmaschine – und einen Bildschirm.«

»Mit anderen Worten, dieses Ding da bringt gar nichts zu Stande.«

»Um Himmels willen, es ist ein Computer!«

»Aber es ist nutzlos, wenn es nicht mit diesen anderen Teilen verbunden wird?«

»Stimmt.«

»Ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit, Sam. So was interessiert meinen Vater nicht. Und kein Mensch will das Gerät kaufen.«

»Doch, auf der ganzen Welt wird man sich drum reißen! In ein paar Jahren wird der Personalcomputer genauso zu einem normalen Haushalt gehören wie ein Toaster oder eine Stereoanlage. Warum verstehen Sie das nicht?«

Seine feindselige Miene jagte glatt einen Schauer über Susannahs Rücken. Trotzdem zwang sie sich zu einem ruhigen, entschiedenen Ton, so als wollte sie bei einer Sitzung des Hospital-Hilfswerks ihren Standpunkt vertreten. »Vielleicht wird das im einundzwanzigsten Jahrhundert geschehen. Aber nicht 1976. Wer wird so etwas kaufen – eine Maschine, die erst funktioniert, wenn sie mit einem Dutzend anderer Geräte verbunden ist?«

»In den nächsten paar Jahren nur Leute, für die’s ein Hobby ist. Oder Experten. Aber in den achtziger Jahren ...«

»So weit verbreitet kann dieses Hobby gar nicht sein, dass sich die Produktion lohnen würde.« Sie schaute auf ihre Uhr, um zu bekunden, sie habe Wichtigeres zu tun, als auf einer Holzkiste zu sitzen und über die groteske Vision eines Computers zu schwatzen, der auf jedem häuslichen Schreibtisch stehen würde.

Seufzend schüttelte er den Kopf. »Obwohl Sie halbwegs intelligent aussehen, leben Sie völlig am Zeitgeist vorbei. Müssen Sie so viele Dinnerpartys arrangieren, dass Sie gar nicht merken, was ringsum passiert? Großer Gott, das ist Kalifornien! Und Sie wohnen ganz in der Nähe des Silicon Valley. Die elektronische Metropole der Welt liegt praktisch vor Ihren Füßen. Und da draußen gibt’s zahllose Leute, die sehnsüchtig auf so eine Erfindung warten.«

Als Joel Faulconers Tochter war sie in einer Umgebung aufgewachsen, wo man ihr die Spitzentechnologie gewissermaßen zum Frühstück serviert hatte. Also lebte sie keineswegs hinter dem Mond. Und Sam Gambles herablassende Art missfiel ihr. »So Leid’s mir tut«, erwiderte sie eisig, »in diesem Koffer sehe ich nur elektronische Teile, die nichts bewirken. Sparen Sie sich die Mühe, mein Vater wird Sie nicht empfangen. Und wenn doch, werden Sie ihn sicher nicht für die unpraktische Erfindung Ihres Freunds begeistern.«

»Reden Sie mit ihm, Suzie. Verschaffen Sie mir einen Termin in seinem Büro. Alles Weitere erledige sich selber.«

Sie betrachtete seine Lederjacke, das lange Haar, den Ohrring. »Nein, das ist unmöglich.«

Die schmalen Lippen verkniffen, schaute er an ihr vorbei zur Lagune. Inzwischen regnete es stärker, kleine Wellen kräuselten das graue Wasser. Als er seine Hände in die Jackentaschen schob, knirschte das Leder. »Okay. Tun Sie mir wenigstens einen Gefallen. Begleiten Sie mich nächste Woche zu einer Versammlung.«

Erschrocken runzelte sie die Stirn. Diesen Mann ein Mal zu treffen, erschien ihr schon unpassend genug. Zwei Mal – das wäre unverzeihlich. »Nein, es geht nicht ...«

»Oh, das bilden Sie sich nur ein. Seien Sie nicht so stur, Suzie. Es schadet nichts, wenn Sie ein bisschen was riskieren.«

»Hören Sie, ich bin verlobt. Es wäre unschicklich, wenn ich Sie noch einmal treffen würde.«

»Unschicklich?« Sam Gamble hob die Brauen. »Habe ich Sie etwa gebeten, mit mir zu schlafen? Ich möchte Sie nur mit ein paar Leuten bekannt machen. Geben Sie sich einen Ruck, Suzie. Vergessen Sie ausnahmsweise, was in Ihrem Sittenlehrbuch steht.«

Natürlich durfte er nicht merken, wie tief er sie erschüttert hatte. Wie einen Schal, den eine altjüngferliche Tante gehäkelt hatte, schlang sich die prüde Susannah Faulconer ihren Sittenkodex um die Schultern. Sie stand auf, öffnete ihre Tasche und nahm den Autoschlüssel aus einem der sorgfältig geordneten Fächer. »Was für Leute soll ich kennen lernen?«, fragte sie so beiläufig, als würde sie sich nach der Gästeliste für die nächste Party erkundigen.

»Hacker, Schätzchen«, antwortete Sam Gamble grinsend. »Lauter Hacker.«