22
FBT war kalt erwischt worden. Trotz aller gründlich recherchierten Prognosen, Grafiken und Tabellen, trotz der Legionen von Betriebswirten und Doktoren hatte die Firmenleitung die wachsende Faszination der Öffentlichkeit vom Personalcomputer nicht vorausgesehen.
Personal Computer. Allein schon der Name ließ die FBT-Manager erschauern. Wie konnte ein Gerät so heißen? Um Himmels willen, das klang nach privater Spielerei.
Gegen Ende der siebziger Jahre hatten sich die Manager darauf konzentriert, zu lächeln, zu hüsteln und die Presse mit doppelzüngigem Geschwätz über stabile Produktionsziele und den launischen Konsumgütermarkt abzuwimmeln. Sie faselten über die FBT-Tradition, ergingen sich in poetischen Hymnen über die gigantische Majestät ihrer Großrechner und die augenfälligen Profite, in sämtlichen Jahresberichten schwarz auf weiß zu bewundern. Und je länger sie redeten, je öfter sie alles wegqualifizierten und quantifizierten, desto lauter lachte die Branche hinter ihrem Rücken, weil sie sich von einer Bande fanatischer Kids die Butter vom Brot nehmen ließen.
Für Cal Theroux war das unerträglich gewesen.
Immerhin hatte er im Januar 1981 den Falcon 101 auf den Markt gebracht und der Firma damit ihre Selbstachtung zurückgegeben. Das war sein Baby gewesen. Und diesen Fortschritt hatte er ausgenutzt, um seine Machtposition bei FBT zu festigen. Jetzt würde der Erfolg des kleinen Computers zu seinem unsterblichen Ruhm führen.
Auf der anderen Seite des Büros packte die Sekretärin gerade seine letzten persönlichen Sachen aus und arrangierte sie in den Regalen. Damit beschäftigte sie sich schon ziemlich lang. Allmählich verlor er die Geduld. In einer knappen Stunde würde die Zeremonie anlässlich seiner Ernennung zum neuen Aufsichtsratsvorsitzenden von FBT beginnen, und davor brauchte er ein paar Minuten für sich allein. »Das genügt vorerst, Patricia. Schicken Sie meine Frau herein, sobald sie eintrifft.«
Die Sekretärin nickte und verließ das Büro.
Endlich ungestört, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und genoss das Glücksgefühl, seine imposante Umgebung zu bewundern. Manche Männer waren vom Sex besessen, andere vom Reichtum. Und Cal hatte von Anfang an allein die Macht für das einzige erstrebenswerte Ziel gehalten.
Er strich über die polierte Malachitplatte des Chefschreibtisches, die Schalttafel, mit der er die FBT-Brunnen kontrollieren konnte. Da das Gelände von Journalisten wimmelte, widerstand er der Versuchung, auf die Tasten zu drücken.
So oft hatte er Joel dabei beobachtet. Nicht einmal Paul Clemens hatte während seiner siebenjährigen Regentschaft nach Joels Tod die Verlockung bekämpft, mit den schimmernden Fontänen zu spielen – den ultimativen Symbolen des FBT-Kommandos. Und jetzt gehörten sie Cal.
Die Tür schwang auf, und Nicole trat ein. »Hallo, Darling.« Als sie über den Teppich zu ihm ging, spannten sich ihre Schultern fast unmerklich an, und er wusste, dass sie sein Urteil über ihre äußere Erscheinung erwartete.
In einem schwarzen Kostüm mit hellbrauner Paspelierung sah sie gertenschlank und stilvoll aus. Ihr Haar, zu einem glatten Pagenkopf geschnitten, bildete identische Sicheln neben den Wangen und enthüllte die kleinen Diamantohrstecker, die er ihr letzte Woche zum dritten Hochzeitstag geschenkt hatte. Obwohl sie erst vierunddreißig war, zeigten sich bereits feine Linien um die Augen. Bald würde Cal ein Lifting für seine Frau arrangieren müssen.
»Nimm das Armband ab«, befahl er, warf einen missbilligenden Blick auf den Silberreif, und sie gehorchte sofort.
Nicoles eifriges Bestreben, ihn zufrieden zu stellen, gehörte zu den Qualitäten, die er am meisten an ihr schätzte. Er hatte eine gute Wahl getroffen. Erstens war sie die Tochter eines prominenten FBT-Aufsichtsratsmitglieds, und zweitens hatte sie ihn schon zu der Zeit geliebt, als er noch mit Susannah verlobt gewesen war. Damals hatte er Joel Faulconers Tochter aus verständlichen Gründen bevorzugt. Seine Kinnmuskeln spannten sich an. Könnte er doch das Gesicht dieses Biests sehen, wenn er sein illustres neues Amt antrat ...
»In der Halle geht’s zu wie in einem Zoo«, erzählte Nicole. »Die halbe Welt ist da, um mitzuerleben, wie du den Vorsitz im FBT-Aufsichtsrat übernehmen wirst.« Entzückt schaute sie sich in seinem exquisiten Büro um. »Kaum zu glauben, dass es endlich so weit ist! O Darling, ich bin ja so wahnsinnig stolz auf dich ...«
Während sie aufgeregt schwatzte, genoss er den schmachtenden Glanz in ihren Augen. Zweifellos vergötterte sie ihn, und er konnte sich beinahe einreden, er würde sie lieben. Aber er war nicht sentimental und glaubte längst nicht mehr, er wäre zu solchen Emotionen fähig. Susannah hatte ein Gefühl in ihm geweckt, das noch am nächsten an Liebe herangekommen war. Und es hatte zur schmerzlichsten Demütigung seines Lebens geführt.
Sechs Jahre später drehte sich sein Magen immer noch um, wenn er sich entsann, wie er vor dem Traualtar gestanden und Susannah zu diesem Motorrad hatte laufen sehen.
Statt den Rachedurst zu stillen, hatten die letzten Jahre ihn noch geschürt. So lange war er geduldig gewesen. Zu Joels Lebzeiten hatte er, von dem alten Mann an notwendigen Maßnahmen gehindert, die Hände in den Schoß legen müssen. Und nach Faulconers Tod, unter Paul Clemens’ Kommando, befand sich Cal in einer zu unsicheren Lage, um sich den Luxus irgendwelcher Risiken zu gönnen. Das hatte sich nun dank des erfolgreichen Falcon 101 geändert.
Seine Sprechanlage schaltete sich ein und unterbrach Nicoles Monolog über die Frage, ob das Kleid, das sie für den abendlichen Empfang gewählt hatte, dem Anlass entsprechen würde.
»Da ist Miss Faulconer, Sir«, verkündete die Sekretärin.
»Gut, sie soll hereinkommen.« Als er Nicoles Groll spürte, unterdrückte er ein Grinsen. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen Joel Faulconers jüngere Tochter. Doch das war okay, denn seine langjährige Freundschaft mit Paige hielt seine Frau auf Zack.
Die Tür flog auf, und Paige rauschte herein, schön und unbeschwert, die Haut von der Sonne vergoldet. Nachdem sie Nicole mit einem kühlen Wangenkuss begrüßt hatte, eilte sie zu Cal. »Warum hast du mich bloß gezwungen, wegen dieser grässlichen Zeremonie zurückzukommen, Calvin! In der Halle hat ein Fotograf meinen Knackarsch getätschelt. Selbst wenn er ebenfalls einen knackigen Arsch hatte – bei Körpergeruch ziehe sogar ich gewisse Grenzen.« Sie sank in seine Arme. »Halt bloß deine Zunge im Zaum, wenn du mich küsst, Schätzchen! Deine Frau schaut zu.«
Resignierend hauchte er einen keuschen Kuss auf ihre Lippen. Es war anstrengend, aber notwendig, Paiges Gesellschaft zu ertragen. Ironischerweise hatte nicht Susannah, sondern ihre jüngere Schwester ihm zur ersehnten Spitzenposition verholfen. Von Anfang an hatte sie die Verantwortung gehasst, die ein enormer ererbter FBT-Aktienanteil mit sich brachte. Bereitwillig beriet er sie und spendete ihr Trost. Ein Jahr nach Joels Tod bevollmächtige sie ihn, ihre Aktien zu verwalten, und er konnte diese Anteile bei den Abstimmungen im Aufsichtsrat nach Lust und Laune nutzen. Als Gegenleistung hatte er ihr versprochen, sie nie mehr mit FBT-Pflichten zu belästigen. Also ein Sieg auf der ganzen Linie ...
»Darum habe ich dich nur gebeten, weil es unumgänglich war«, beteuerte er.
Schmollend schürzte sie die Lippen. »Aber all diese langen Reden! Ich verabscheue Reden.«
»Also wirklich, Paige«, mischte sich Nicole indigniert ein. »Das Leben besteht nicht nur aus Partys.«
»Wer behauptet das?« Paige setzte sich auf die Schreibtischkante und schlug die langen Beine übereinander. Wie Cal missbilligend feststellte, trug sie keine Strümpfe. Wenigstens wirkte ihr rohseidenes Kostüm angemessen, wenn er auch bezweifelte, dass sich ein BH darunter befand. Wehmütig dachte er an die Zeiten vor Joels Tod. Damals hatte sie sich konservativ gekleidet und zumindest halbwegs würdevoll benommen. Sogar die Kleider ihrer Schwester hatte sie angezogen. Doch die Mühe war letzten Endes umsonst gewesen, denn sie hatte die Liebe ihres Vaters nicht gewonnen. Ein Jahr nach Joels Begräbnis war sie zu ihrem alten Stil zurückgekehrt – zur gleichen Zeit, in der sie ihr Abkommen mit Cal getroffen hatte.
»Monatelang habe ich dich in Ruhe gelassen«, betonte er. »Wäre es nicht so wichtig, hätte ich dich gewiss nicht gebeten, hierher zu fliegen.«
Mit schmalen Augen musterte sie ihn. »Natürlich musst du am Tag aller Tage mit mir fotografiert werden, nicht wahr, Calvin? Darauf kannst du nicht verzichten. Alle Welt soll zuschauen, wie Paige Faulconer symbolisch die Macht ihres Vaters abgibt.«
Manchmal war sie klüger, als er’s ihr zutraute, und er versuchte, sich stets daran zu erinnern.
Nicole stand nervös neben der Tür. Offenbar widerstrebte es ihr, ihren Mann mit Paige allein zu lassen. »Ich soll mich mit Madge Clemens treffen. Leider muss ich jetzt gehen.«
»In ein paar Minuten komme ich nach unten«, versprach er.
Da blieb ihr nichts anderes übrig, als die Tür hinter sich zu schließen. Paige musterte Cal mit zynischer Belustigung. »Weiß sie’s denn nicht? Wären wir beide scharf aufeinander gewesen, hätten wir schon längst was in dieser Richtung unternommen.« Sie glitt von der Schreibtischkante. In einem Ton, der sogar für ihre Verhältnisse etwas zu beiläufig klang, fügte sie hinzu: »Heute Abend werde ich mir den Großteil der FBT-Fete schenken.«
»Aus einem bestimmten Grund?«
»Susannah hat mir eine Einladung zu einer SysVal-Party geschickt.« Ohne seinem Blick zu begegnen, strich sie eine blonde Strähne hinter ihr Ohr. »Da will ich mal vorbeischauen.«
So gut er es vermochte, verlieh er seiner Stimme einen neutralen Klang. »Im Lauf der Jahre hast du viele Einladungen von Susannah erhalten, aber keine angenommen, falls mich mein Gedächtnis nicht trügt. Warum jetzt?«
»Weil ich in der Stadt bin.«
»Die einzige Person, die Susannah genauso verabscheut wie ich, bist du. Warum jetzt?«, wiederholte er.
Nach kurzem Zögern zog sie eine zusammengefaltete weiße Karte aus ihrer Handtasche und reichte sie ihm. Die Einladung zu einer Party, die SysVal veranstaltete, um den Gewinn von einer halben Milliarde im letzten Steuerjahr zu feiern ... Am unteren Rand der Karte stand in Susannahs kultivierter Handschrift: »Wie lange willst du noch vor mir weglaufen, Paige? Wovor fürchtest du dich?«
Paige riss ihm die Einladung aus der Hand und stopfte sie wieder in ihre Tasche. »Glaubst du das? Diese verklemmte Kuh bildet sich tatsächlich ein, ich hätte Angst vor ihr.«
»Nun, sie ist sehr erfolgreich«, erwiderte er gelassen, obwohl das letzte Wort wie pures Gift in seinem Mund schmeckte. »Wahrscheinlich die prominenteste Geschäftsfrau in den Staaten.«
»Und ich habe FBT und Daddys Millionen gekriegt. Die werde ich ihr heute Abend unter die Nase reiben – jeden einzelnen Cent!«
Sobald Paige die überfüllte Eingangshalle von SysVal betrat, fiel ihr das vergrößerte Blaze-Logo ins Auge, das den Großteil der hinteren Wand einnahm. Wütend starrte sie darauf. So viel hatte ihre Schwester in sechs Jahren erreicht. Vor lauter Neid wurde ihr fast schwindlig. Ihr Blick irrte durch die Menge. Als sie Susannah nicht sah, zwang sie sich zu relaxen. Hätte sie Cal die Einladung bloß nicht gezeigt – dann könnte sie jetzt unbemerkt verschwinden. Aber es war zu spät.
Zur Linken stand eine Bar. Während Paige darauf zuging, registrierte sie, welche Kleidung die SysVal-Gäste bevorzugten – Jeans und alte Sneakers. Hier war das weiße, mit Perlen bestickte Satinkleid – auf dem FBT-Empfang ein Glanzlicht – eindeutig fehl am Platz. Doch das störte sie nicht. Sie hatte ihre Kleidung noch nie dem Stil aller anderen Leute anpassen müssen, um sich wohl zu fühlen.
Weil die meisten Gäste Bier tranken, fiel es dem Barkeeper schwer, den Champagner aufzuspüren, den Paige verlangte. Während sie wartete, überlegte sie, ob sie in einem Hotel absteigen sollte, statt nach Falcon Hill zurückzukehren. In diesen Mauern hing immer noch der schwache, süßliche Geruch des Todes, und die Möbel verschwanden unter Schonbezügen. Außerdem barg Falcon Hill zu viele Erinnerungen an jenes Jahr, in dem sie so verzweifelt versucht hatte, für häusliches Flair zu sorgen. Wie eine personifizierte Frauenzeitschrift hatte sie Kuchen gebacken und einen Kräutergraten gepflanzt. Sogar die Kleider ihrer Schwester hatte sie getragen. Doch die Mühe war sinnlos gewesen, der Vater hatte sie nicht ins Herz geschlossen.
Sie blinzelte heftig und wünschte, sie wäre nicht hierher gekommen. Warum hatte sie nach all den Jahren dem Impuls nachgegeben, ihre Schwester wiederzusehen? Hätte sie sich nach der schrecklichen Szene in ihrem Malibu-Strandhaus vor drei Tagen nicht entwurzelt und einsam gefühlt – vielleicht wäre Susannahs Einladung im Papierkorb gelandet, wo sie hingehörte. Warum war sie so sicher gewesen, sie hätte den Richtigen gefunden? Sechs Monate lang war sie mit einem Dokumentarfilmer zusammen gewesen. Natürlich hätte sie merken müssen, dass ihn ihre Finanzierung seines neuen Films viel mehr interessierte als ewige Liebe. Trotzdem hatte sie alle Warnzeichen beharrlich ignoriert. O Gott, wie dumm ich bin ... In Gedanken hatte sie sogar schon die Hochzeit vorbereitet.
Endlich reichte ihr der Barkeeper ein Glas Champagner. Während sie daran nippte, beschloss sie, ihre Pläne zu verwerfen und am nächsten Morgen abzureisen, um ihre neue Villa in Sardinien aufzusuchen. Dort würde sie einige Zeit mit Luigi oder Fabio oder einem der anderen abgetakelten italienischen Aristokraten verbringen, die jeden Abend in der Pianobar des Hotel Cervo Bellini mit ihr tranken und sie dann in ihre Villa begleiteten, wo sie ihr Bett teilten. In den letzten drei Jahren hatte sie fünf Häuser gekauft, und jedes Mal ihre ganze Energie in Renovierungen und luxuriöse Ausstattungen investiert – stets überzeugt, in diesem Haus würde sie endlich ihr Glück finden. Doch das Glück war die einzige Ware, die sich mit Daddys Millionen nicht kaufen ließ.
Trotz des Gedränges in der SysVal-Halle fand sie einen Platz vor einem Fenster, wo sie halbwegs ungestört stehen und die anderen Gäste beobachten konnte. Aber die Männer nahmen bereits Notiz von ihr, was sie vorausgesehen hatte. Allzu lange dauerte es niemals. Sie wandte sich zum Fenster, das zum Parkplatz hinausging. In der Glasscheibe spiegelte sich ein Mann, der seine Freunde verließ und zu ihr kam. Wild zerzaustes Haar, eine Brille mit Drahtgestell, ein ausgeprägter Adamsapfel, der vehement im Hals auf und ab hüpfte ... Großartig, dachte sie müde, genau das brauche ich jetzt.
Er stützte eine Hand neben ihrem Kopf gegen das Fenster, ein cooler Typ, der einen verschwitzten Abdruck auf dem Glas hinterließ. »So schöne Augen vergesse ich nie. Und Ihre sind hinreißend. Ich heiße Kurt. Haben wir uns nicht schon mal getroffen?«
»Das bezweifle ich, Kurt. Normalerweise rede ich nicht mit Weichspülern.«
Tapfer versuchte er zu lächeln, als hätte sie gescherzt. Aber als ihre Miene kühl blieb, senkten sich seine Mundwinkel. »Äh – soll ich Ihnen einen Drink holen?«
Sie hob ihr volles Champagnerglas, worauf er sich noch überflüssiger und dümmer vorkam.
»Äh – wie wär’s mit einem kleinen Imbiss? Da – äh – gibt’s echt gute Fleischbällchen.«
»Nein, danke. Aber Sie können was für mich tun.«
Sofort verzogen sich seine Gesichtsmuskeln zu einem eifrigen Grinsen, das sie an einen Welpen erinnerte. »Ja.«
»Sie dürfen Leine ziehen, Kurt. Wäre das okay?«
Errötend murmelte er etwas Unverständliches vor sich hin und verschwand mit eingezogenem Schwanz.
Paige biss in ihre Unterlippe, bis es schmerzte. Diesen harmlosen Kerl hätte sie etwas sanfter abwimmeln müssen. Wann war sie so grausam geworden? Geradezu unverzeihlich...
»Was für eine grandiose Darbietung«, erklang eine tiefe Männerstimme hinter ihrem Rücken, und sie drehte sich um.
Attraktive Gesichter vergaß sie niemals, und sie brauchte nicht lange, um Mitchell Blaine zu erkennen. Obwohl sie sich nur verschwommen an die Trauerfeier für ihren Vater erinnerte, wusste sie noch, dass der Mann an Susannahs Seite gestanden hatte. Großflächiges Gesicht. Attraktiv. Und korrekt. O Gott, war er korrekt ... Sicher lagen in irgendeiner seiner Schubladen zahllose, perfekt geordnete Anstecknadeln von der Sonntagsschule.
»Freut mich, wenn’s Ihnen Spaß gemacht hat«, erwiderte sie.
»Ganz und gar nicht. Er ist ein netter Junge.«
Leck mich doch – alle sollen mich lecken ... Eigentlich gar keine schlechte Idee. Paige leerte ihr Glas. »Wollen Sie von hier verschwinden und mit mir ins Bett hüpfen?«
»Nicht unbedingt. Ich bevorzuge Frauen in meinem Bett. Keine Kinder.« In seinen kalten, hellblauen Augen lag nicht einmal die Spur eines Lächelns.
»Bastard!«, stieß sie wütend hervor. »So redet niemand mit mir. Wissen Sie, wer ich bin?« Die Worte hallten in ihren Ohren wider – bockig und affektiert. Doch sie wollte auf einmal dringend alles ausradieren, um etwas anderes zu sagen, etwas, das sie in einen netten, warmherzigen Menschen verwandeln würde.
»Vermutlich Paige Faulconer. Ich habe gehört, Sie wären eingeladen.«
»Und das hat nichts für Sie zu bedeuten?«, fragte sie, ohne die Pose des arroganten Miststücks aufzugeben.
»Nur dass die Klatschgeschichten zutreffen.«
»Welche Klatschgesichten?«
»Nun, Sie sind ein verwöhntes, ungezogenes kleines Mädchen, und man hätte Sie schon vor langer Zeit übers Knie legen sollen.«
»Klingt ja richtig pervers ... Wollen Sie’s versuchen?« Sie fuhr mit ihrer Zunge über ihre Lippen und schenkte ihm ein gekünsteltes Lächeln.
»Darauf verzichte ich lieber. Ich habe schon zwei Kinder. Noch eins brauche ich nicht.«
Nicht einmal ein Wimpernschlag ließ erkennen, wie gedemütigt sie sich fühlte. Stattdessen troff ihre Antwort vor herablassendem Hohn. »Also sind Sie verheiratet. Welch ein Pech für mich ...«
»Warum? Für Sie dürfte das wohl kaum einen Unterschied machen.«
Langsam ließ sie ihren Blick über seinen Körper wandern, dann konzentrierte sie sich auf den korrekten grauen Flanell zwischen seinen Beinen. »Mit verheirateten Männer tu ich’s nicht.«
Zu ihrer Verblüffung lachte er, ein abgehackter Laut, der wie ein scharfes Gebell klang. »Aber ich wette, Sie tun’s mit allen anderen, nicht wahr?«
Seine Belustigung schürte ihren Zorn. Wie konnte er es wagen, sich über sie lustig zu machen? Niemand durfte das. Niemand ... Aber bevor ihr ein passender, bissiger Konter einfiel, berührte er ihr Kinn mit einem Zeigefinger und sagte leise: »Immer mit der Ruhe, Schätzchen, das Leben ist schön.«
»Mitch?« Als er sich zu der Frau wandte, die hinter ihm stehen blieb, nahm sein markantes Gesicht so weiche, liebevolle Züge an, dass Paige ganz übel wurde. Auch sie drehte sich um. All die alten Emotionen stiegen wieder in ihr hoch und weckten bittere Reue. Hätte sie sich bloß nicht von ihrer Einsamkeit beeinflussen lassen ... Dann wäre sie nicht hierher gekommen.
Seit Daddys Tod hatte sie Susannah nur selten gesehen – nicht oft genug, um sich an die Veränderungen zu gewöhnen, die mit ihr vorgegangen waren. Jetzt reichte ihr Haar, früher schulterlang, nur bis zum Kinn, und ihre Haltung wirkte entspannter. Sie sah flott und lässig aus. Von der spießigen »guten Fee« war nichts mehr übrig. An ihren Ohren baumelten massive goldene Ringe, zu einer schicken beigen Hose trug sie eine pflaumenfarbene Bluse, ein Kettengürtel betonte die Taille. Aber sobald sie Paige sah, erschien in ihren Augen derselbe Ausdruck wie eh und je – nervös, vorsichtig, übertrieben verständnisvoll.
»Paige! Niemand hat mir gesagt, dass du da bist! Oh, ich freue mich ja so, dass du kommen konntest! Hast du meinen Partner Mitchell Blaine schon kennen gelernt?«
»Ja«, antwortete Mitch.
Paiges Lippen kräuselten sich zu einem katzenhaften Lächeln. »Soeben habe ich ihm vorgeschlagen, mit mir zu schlafen. Das lehnt er ab. Ist er schwul?«
Sofort verkniff sich Susannahs Miene, genau wie früher, wenn sich ihre Schwester und ihr Vater im selben Raum aufhielten. »Bitte, Paige ...«
»Nein, ich bin nicht schwul«, erklärte Mitch, »nur wählerisch.« Seine Lippen streiften Susannahs Wange. Dann legte er einen Arm um ihre Schultern, drückte sie kurz an sich und schlenderte davon.
»Es wäre mir lieber gewesen, du hättest dich besser benommen«, seufzte Susannah. »Immerhin ist Mitch ein guter Freund. Wahrscheinlich der beste, den ich jemals hatte.«
»Wenn ich deine Freunde nicht beleidigen darf, hättest du mir diese poplige kleine Einladung nicht schicken dürfen.«
»Nun, du hast sie doch angenommen, oder?«
Paige nahm einem männlichen Gast, der gerade vorbeiging, ein Glas Wein aus der Hand. Zur Belohnung schenkte sie ihm ein sexy Lächeln. Wieder zu ihrer Schwester gewandt, spottete sie: »Noch nie im Leben habe ich so viele Spinner auf einem Fleck gesehen.«
»Talentierte Spinner. Heute Abend sind einige der brillantesten Typen aus dem ganzen Valley bei uns versammelt.«
»Und du passt anscheinend genau dazu.«
Susannah lächelte – die geduldige, heilige Susannah. »Offensichtlich hast du dich nicht verändert, Paige. Immer noch hartgesotten und unerbittlich.«
»Darauf kannst du wetten, Schwesterchen.«
»Eigentlich wollte ich dich mit Sam bekannt machen. Aber ich glaube, er ist schon gegangen.«
Sechs Jahre lang hatte Paige eine Begegnung mit Sam Gamble vermieden, und dabei wollte sie’s auch jetzt belassen. Außerdem hatte sie ihn bei ihrer Ankunft beobachtet. Er war gerade aus der SysVal-Halle gegangen, umringt von kriecherischen Bewunderern, so wie Cal beim FBT-Empfang. Wenn Gamble auch vorgegeben hatte, die Aufmerksamkeit seiner Fans gar nicht wahrzunehmen – sie durchschaute ihn. Männer wie ihr Schwager wussten stets genau, was sie taten. Und deshalb langweilten sie Paige. »Als ich hereinkam, habe ich ihn gesehen.«
»Er ist etwas ganz Besonderes«, sagte Susannah. »Schwierig, aber einzigartig.«
In der Nähe begann jemand schallend zu lachen, aus dem Lautsprecher tönte die »Brady Bunch«-Titelmelodie. Hastig leerte Paige ihr Weinglas. »Tut mir Leid, Susannah, ich kann nicht länger bleiben. Jetzt muss ich nach Falcon Hill fahren und all das Geld zählen, das Daddy mir vererbt hat.«
Susannah zuckte nur unwesentlich zusammen. »Lass dich zuerst herumführen.«
»Nimm’s mir nicht übel«, flötete Paige, »aber ich finde Besichtigungstouren durch Bürogebäude kein bisschen amüsant.«
Als sie zur Tür ging, wich Susannah nicht von ihrer Seite. »Okay, verschwinden wir von hier«, schlug sie vor und folgte ihr nach draußen. »Fahren wir zu mir.«
»Vergiss es.«
»Hast du Angst, ich könnte dich auffressen?«
Abrupt blieb Paige mitten auf dem Gehsteig stehen. »Natürlich nicht.«
»Dann beweise es.« Susannah packte ihren Arm und zog sie zu einem funkelnagelneuen BMW, der an der Bordkante parkte. »Steig ein, ich zeige dir mein Haus.«
»Das will ich nicht sehen«, zischte Paige und riss sich los. »Mit dir möchte ich nie wieder was zu tun haben.«
Susannah trat neben das Auto. In ihren Ohrringen spiegelten sich die Lampen des Parkplatzes, und das Licht zauberte goldene Funken in ihr kastanienrotes Haar. Ihr neues attraktives Aussehen stach eine weitere Wunde in Paiges Herz.
»Also fürchtest du dich tatsächlich vor mir?«, fragte Susannah leise.
»Was soll das?« Paige lachte hohl. »Die Erwachsenenversion einer Mutprobe? So was war immer mein Spiel, nicht deins.«
Susannah öffnete die Tür an der Fahrerseite. »Jedenfalls ist’s ein interessantes Spiel. Wenn du nicht zu feige bist – steig ein.«
Auf diese kindische Herausforderung musste Paige nicht eingehen. Das wusste sie. Aber sie hasste das selbstgefällige Lächeln ihrer Schwester. Und die Nacht erstreckte sich vor ihr wie hundert Jahre. Alles war angenehmer, als allein nach Falcon Hill zu fahren. Gleichmütig zuckte sie die Achseln und sank auf den Beifahrersitz. »Warum nicht? Im Moment habe ich ohnehin nichts Besseres vor.«
Während Susannah den BMW vom Parkplatz steuerte, verbarg sie ihre Erleichterung. Da Sam ihr immer größere Schwierigkeiten bereitete, fand sie eine Aussöhnung mit ihrer Schwester umso wichtiger. Paige war ihre einzige Blutsverwandte. Inzwischen müssten sie beide erwachsen genug sein, um eine neue Beziehung aufzubauen.
Auf der Fahrt vom Industriegebiet zum Highway machte sie belanglose Konversation. Paige antwortete einsilbig oder gar nicht. Susannahs Hoffnung begann zu schwinden. Offenbar wuchs die Feindseligkeit ihrer Schwester, statt endlich abzuebben.
Sie verließen den Highway und fuhren in die Berge hinauf. Nach ein paar Meilen bog Susannah in die Zufahrt ihres Hauses, das von einer dichten Hecke gegen die Straße abgeschirmt wurde. In bedrohlichen spitzen Winkeln zeichnete sich die Silhouette des Dachs vor dem Nachthimmel ab. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie sehr ihr der schroffe Stil ihres Heims missfiel. Ein kalter Tempel, der High Technology geweiht, entworfen von einem Mann, der stets von dem Gedanken besessen gewesen war, nur das Allerbeste zu akzeptieren ...
»Gemütlich«, bemerkte Paige sarkastisch.
»Ein Entwurf von Sam.«
»Hat dein großer böser Ehemann dich nach deiner Meinung gefragt?«
Susannah ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Für mich sind Häuser nicht so wichtig.«
Als Paige aus dem Auto stieg, raschelte ihr Abendkleid. Statt die bronzene Doppeltür des vorderen Eingangs anzusteuern, wählte sie den beleuchteten Weg, der zur Rückfront des Hauses führte. Susannah folgte ihr in wachsendem Unbehagen. Auf dem Satinkleid ihrer Schwester glitzerten die Perlen wie Eissplitter. Alles an ihr strahlte Hass aus, vom steifen Nacken bis zum harten Rhythmus ihrer klappernden Schuhe.
Hinter dem Haus wartete die atemberaubende Aussicht ins Valley. Paige stelzte die Granitstufen zur Veranda hinauf und starrte auf die Lichter hinab. »Sicher bist du stolz auf dich, nicht wahr, Susannah?«
In ihrer Stimme schwang ein bösartiger Unterton mit, der Susannah beinahe bewog, sich abzuwenden. Paige hierher zu bringen, war eine sehr schlechte Idee gewesen. Wieso hatte sie jemals geglaubt, sie könnten sich vertragen? »Dafür habe ich hart gearbeitet«, erwiderte sie ausdruckslos.
»Daran zweifle ich nicht. Und wie oft hast du diese Arbeit in horizontaler Lage erledigt?«
Dieser infame Hohn verschlug Susannah die Sprache.
»Jetzt kannst du tage- und nächtelang dein neues Geld zählen und Daddy in seinem Grab auslachen.«
Da vergaß Susannah ihren Entschluss, die schwesterliche Beziehung zu erneuern. Heiße Wut stieg in ihr auf. »Sag so was nicht. Es stimmt nicht. Das weißt du.«
»Doch«, widersprach Paige. »Du hast es ihm gezeigt, nicht wahr? Dein Pech, dass er nicht mehr lebt. Sonst würdest du ihm deinen Erfolg ins Gesicht schleudern.«
»Seinetwegen habe ich das alles nicht getan. Nur für mich selbst.«
»Was für ein verdammtes hochgestochenes Biest du bist – so selbstgefällig und selbstgerecht«, sagte Paige seelenruhig. Aber ihre Worte trafen Susannah wie Giftpfeile.
»Hör auf, Paige.« Mit bebenden Fingern umklammerte sie den Autoschlüssel. »Du benimmst dich wie ein Kind. Ich habe genug von diesem Unsinn.«
Aber Paige wollte nicht aufhören. Ungehemmt quoll das Giftdepot aus ihrer Seele an die Oberfläche. »Immer warst du perfekt. Immer in Ordnung. So viel besser als alle anderen Menschen.«
»Das reicht! Jahrelang habe ich versucht, eine vernünftige Beziehung mit dir einzugehen. Darum werde ich mich nicht mehr bemühen. Du bist verwöhnt und egoistisch. Und du interessierst dich für niemanden, nur für dich selbst.«
»Wie kannst du das behaupten?«, schrie Paige. »Gar nichts weißt du von mir. Du wolltest mich gar nicht verstehen. Dafür hattest du keine Zeit, weil du viel zu sehr damit beschäftigt warst, meinen Vater zu vereinnahmen.«
»Verschwinde!« Susannah warf ihr den Wagenschlüssel zu. »Nimm mein Auto und geh mir aus den Augen!« Abrupt kehrte sie ihrer Schwester den Rücken und eilte zur Tür am anderen Ende der Veranda.
Paige war noch nicht mit ihr fertig. Von jahrelang angestauten Selbstzweifeln getrieben, rannte sie ihr nach, um sie mit neuen Hasstiraden zu überschütten. Susannah ertrug es nicht länger. Sie öffnete die Tür.
»Ahnst du eigentlich, wie ich dich immer verabscheut habe?«, kreischte Paige und stürmte hinter ihr ins Haus. »Ich bin seine richtige Tochter! Nicht du. Leider konnte ich mit deinem Perfektionismus nicht mithalten. In meinem Leben gab es keinen einzigen Tag, an dem ich nicht wünschte, ich wäre nie geboren worden. Begreifst du das?«
Susannah durchquerte die hintere Eingangshalle und stieg die Treppe hinauf. Während sie ins Wohnzimmer lief, blieb Paige hartnäckig an ihrer Seite.
»Warum musstest du damals zu uns ziehen?«, stieß sie hervor. »Wieso musstest du so viel besser sein als ich?«
Entgeistert schnappte Susannah nach Luft, und dann stöhnte sie leise.
Auf der weißen Wildledercouch in der Mitte des Raums zerrte Mindy Bradshaw ihren Rock über die nackten Schenkel hinab, und Sam fummelte ungeschickt am Reißverschluss seiner Hose herum.
Immer noch stöhnend, spürte Susannah, wie sie die Hände ballte und wieder öffnete. Die Welt reduzierte sich auf die Szene, die vor ihr ablief, und der grässliche Jammerlaut stieg unablässig aus ihrer Kehle. Dann begannen sich Lippen zu bewegen, ein Wort zu formen, das blechern klang – wie eine computerisierte Roboterstimme.
»Verzeihung«, sagte sie.
Was für eine idiotische, groteske Entschuldigung ... Blindlings taumelte sie aus dem Zimmer. Weil die Wände an ihr vorbeiglitten, wusste sie, dass sich ihre Beine bewegten. Sie wankte zu einer anderen Ebene hinauf, dann zu einer weiteren, vorbei am massiven Kaminsims aus rostfreiem Stahl. Alle paar Schritte rang sich das grausige Stöhnen aus ihrem Hals. Sie versuchte es zu unterdrücken, biss die Zähne zusammen. Doch es ließ sich nicht bekämpfen.
Jemand berührte ihren Ellbogen. Sekundenlang dachte sie, es wäre Sam, und versuchte, ihn abzuschütteln. Da wurde ihr Arm etwas fester umklammert, und ihr Blick streifte Paige, die ihr gefolgt war.
An ihre Schwester zu denken – das fiel ihr leichter, als das abstoßende Grauen zu registrieren, das sie soeben gesehen hatte. Beinahe erschien ihr der geringere Schmerz von Paiges Hass wie ein sicherer Hafen, verglichen mit Sams abscheulichem Betrug.
Mühsam rang sie nach Luft. Sam und Mindy. Sam hatte Sex mit Mindy. Ihr Mann. Der Mann, den sie so lange – völlig verblendet – geliebt hatte ...
Irgendwann nahm sie ihre Umgebung wahr. Sie stand in der Küche. Aus ihrem Hals strömten stechende Qualen hinab, schienen ihr Herz zu erdrücken und ihre Brüste mit bitterer Milch zu füllen.
»Verschwinden wir von hier«, schlug Paige zögernd vor.
»Geh weg«, würgte Susannah hervor, bevor ein Schluchzen ihre Stimme erstickte.
Paiges eiskalte Finger krallten sich in ihren Arm. Energisch lenkten sie Susannah von dem verzweifelten Bedürfnis ab, Luft zu holen. »Komm, ich bringe dich irgendwohin.«
Mitleid? Von einem Menschen, der sie abgrundtief hasste? Das ertrug Susannah nicht. »Lass mich einfach nur allein, ich will dich nie wieder sehen.«
Da glitt Paiges Hand von Susannahs Arm – so schnell, als hätte sie sich verbrannt. In ihrer Faust steckte der Autoschlüssel, den die Schwester ihr zugeworfen hatte. »Wie du meinst. Morgen früh schicke ich dir das Auto zurück.«
Susannah stand am Küchenfenster und starrte ins Dunkel hinaus. Wie in Zeitlupe verstrichen die Sekunden. Paiges schneeweißes Kleid schwebte vorbei. Kurz danach erklangen Schritte hinter ihr.
Unverwandt betrachtete sie die Schwärze jenseits des Fensters. Da draußen war es so dunkel wie im Schrank ihrer Großmutter. So unheilvoll wie eine Hütte am Wüstenrand...
»Wieder das alte strafende Schweigen, Suzie? Typisch für dich. Keine Ahnung, warum ich überrascht bin ...«
Ihr Atem erstickte in einem Schluchzen. Also ging er sofort in die Offensive. Warum hatte sie nicht vorausgesehen, dass er sich so verhalten würde? Das Leid schwelte wie glühende Asche, und sie fürchtete, sie würde es nicht verkraften. Doch sie riss sich zusammen, so gut sie es vermochte.
Langsam wandte sie den Kopf zu ihrem Mann. Glattes schwarzes Haar fiel über seine Stirn und stand bei einem Ohr ein wenig ab. So wie immer, wenn sie beim Liebesakt mit ihren Fingern hindurchfuhr. Diesmal waren es Mindys Finger gewesen, die das geliebte Haar zerzaust hatten.
»Ich habe Mindy weggeschickt«, verkündete er, als würde das alles in Ordnung bringen.
An Susannahs Lippen rannen Tränen herab. Sie schmeckte das Salz und dachte, wie hart sie für ihre Ehe gekämpft hatte, für das Baby, das sie sich so sehnlich wünschte. »War Mindy die Erste?«, fragte sie gegen ihren Willen. Aber sobald sie ihre eigene Stimme hörte, wusste sie, dass sie eine Antwort brauchte.
Sam zuckte die Achseln. Beinahe glaubte sie zu sehen, wie er seine Streitkräfte für den Kampf zusammentrommelte – und wie er ihn genießen würde. Das konnte er am besten – blindlings ein unüberwindliches Hindernis angreifen und darauf einzuschlagen, bis es nachgab. Zitternd schluckte sie ein neues Schluchzen hinunter.
»Warum stellst du so eine blöde Frage, Suzie? Wie viele – das spielt keine Rolle. Untreue. Treue. Nur Wörter. Mit uns beiden hat das nichts zu tun.« Erbost, von rastloser Energie elektrisiert, begann er in der Küche auf und ab zu gehen. Sein Körper vibrierte vor innerer Anspannung, während er die schwarzen Granitinseln umrundete. »Niemals haben wir versucht, unsere Ehe den Konventionen anzupassen. Deshalb hat sie so gut funktioniert. Weil wir schlauer sind. Was wir wollen, wissen wir ganz genau ...«
Er redete und redete und redete.
»... über die Tradition sind wir beide erhaben. Gemeinsam erreichen wir alles, das macht uns stark. Was heute Nacht geschehen ist, spielt keine Rolle, Suzie. Vielleicht hätte ich’s nicht tun sollen. Aber es ist unwichtig. Verstehst du das? Einfach nur belangloser Mist! Völlig uninteressant, verdammt noch mal!«
Ihre Hände umschlossen eine Keramikschüssel, die vor ihr auf der Theke stand, schwangen sie empor, und das Gefäß zersprang zu ihren Füßen in tausend Scherben. Und dann stellte sie die Fragen, die so leidvoll auf ihrer Seele brannten. »Ich will wissen, ob sie die Erste war? Gab es noch andere? Wie viele?«
Angesichts ihrer Verzweiflung geriet sein Kampfgeist ins Wanken. Zum ersten Mal wirkte er bestürzt.
»Wie viele?«, schrie sie.
Sam war ein Idealist, ein Mann, der sich der Wahrheit verschrieben hatte, und er blieb seinem Ehrenkodex treu. »Ein paar Mal – auf Reisen«, murmelte er. »Ein Mädchen, mit dem ich eine Zeit lang zusammen war. Was bedeutet das schon? Begreifst du’s nicht? Mit uns hat’s nichts zu tun.«
»Doch!«, protestierte sie schrill, ergriff eine weitere Schüssel und schleuderte sie quer durch die Küche. »Wir sind ein Ehepaar. Und wenn man verheiratet ist, fickt man nicht mit anderen Leuten.« Fast genüsslich bestrafte sie ihn mit diesem obszönen Wort, denn sie wusste, er würde es hassen.
»Hör auf!« Das Gesicht verzerrt, stürmte er zu ihr. »Erspar mir das!«
Gepeinigt rang sie nach Atem, als er ihre Schultern packte. Und dann, ohne jede Vorwarnung, schlug er mit dem Handrücken auf ihre Wange.
Aus dem Gleichgewicht geraten, prallte sie gegen eine Granitkante. Keuchend vor Schmerz, berührte sie ihr Gesicht. Ihre Nase lief, und sie tastete danach. Als sie die Finger sinken ließ, sah sie einen Blutfleck.
Den entdeckte auch Sam. Als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, weiteten sich seine Augen. Unsicher trat er einen Schritt vor. »Suzie, ich ...«
Beim Anblick ihres Blutes fröstelte sie. Halb benommen wich sie zurück.
Wie ein weinerliches Kind verzog er das Gesicht. »Ich wollte dich nicht verletzen. O Gott, wieso hast du mir das zugemutet? Wie konntest du mich dazu bringen, so etwas zu tun?«
Mit schwankenden Schritten ging sie an ihm vorbei, verließ die Küche und betrat die Halle. Hinter einem polierten Granitblock, der einem Grabstein glich, verbarg sich ein Schrank. Sie nahm die kleine Reisetasche heraus, die sie für Notfälle gepackt hatte. In ihrer Wange pochte es schmerzhaft, und ihre Hände zitterten, als sie den Riemen um ihre Schulter schlang. Trotzdem war sie von kalter Ruhe erfüllt.
»Tu das nicht!« In dem gellenden Ruf, der hinter ihr erklang, schwang Panik mit. »Verlass mich nicht! Wenn du jetzt gehst, komm bloß nicht zurück! Das meine ich ernst. Hörst du mich?«
Über ihr Gesicht rollten neue Tränen. Sie drehte sich um, und als sie sprach, glich ihre Stimme einer rostigen alten Säge. »Du hast einen Fehler gemacht, Sam. Erkennst du das nicht? Ich habe mich in deine Vision von mir verwandelt. Und die Frau, die du erschaffen hast, lässt sich nichts mehr von dir gefallen.«