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Im Gegensatz zum restlichen Haus wirkte Sams schlichtes Schlafzimmer mit den schmucklosen, weiß gestrichenen Wänden fast klösterlich. Eine antike Truhe, von keinerlei Krimskrams verunstaltet, stand neben einem einfachen Bücherregal, das eine erstklassige Stereoanlage enthielt.

Rastlos warf sich Susannah im Doppelbett umher, das Haar noch feucht von der Dusche, die sie vor ein paar Stunden mit Sam geteilt hatte. Ihre Welt war völlig aus den Fugen geraten. Der Aufruhr ihrer Gefühle machte ihr geradezu Angst. Und ihr logischer Verstand – der ihr in der Schule hervorragende Mathematik- und Physikzensuren eingetragen hatte – raubte ihr die Nachtruhe. In einem fort zählte er die Krisen auf, die sie meistern musste.

Sie besaß keine Kleider und kein Geld. Am nächsten Morgen würden ihre Bankkonten gesperrt sein. Sie liebte ihren Vater – wie sollte sie ihm begreiflich machen, was sie getan hatte. Würde er ihr jemals verzeihen? Sie wandte sich zu dem Mann, für den sie alles aufgegeben hatte. Sogar im Schlaf sah er wie ein Getriebener aus, die Stirn gerunzelt, die Lippen zusammengepresst. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm nicht erlaubt, sie zu verführen. Vorher hätten sie sich besser kennen lernen müssen.

Aber nicht einmal der logische Teil ihres Gehirns konnte sie veranlassen, zu bereuen, was zwischen ihnen geschehen war. In Sams Armen hatte sie ihr Glück gefunden. So sollte ein Liebesakt sein – genauso wie in all ihren Träumen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte ein Mann ihre Leidenschaft gewürdigt. Bei ihm konnte sie ihre Sexualität genießen, statt sich dafür zu schämen, und das war ein unbeschreiblich kostbares Geschenk.

Er bewegte sich an ihrer Seite und griff nach ihr – lustvoll, unersättlich, wie die aufregenden Liebhaber, die sie sich so oft vorgestellt hatte.

In diesem Moment wusste sie, dass sie ihn liebte. Nicht nur körperliches Verlangen hatte sie bewogen, ihrer Familie den Rücken zu kehren und diesem Mann zu folgen. Schon bei der ersten Begegnung hatte sich irgendetwas in ihrem Herzen verändert. Seit damals fühlte sie sich zu ihm hingezogen wie eine halb verdorrte Pflanze, die den Sommerregen trinken wollte. Sie brauchte seine Wildheit, seine Jugend, seinen mitreißenden Optimismus – und sein furchtloses Wesen.

Sie streichelte den großen Ohrring, der sein Kinn berührte, und wenige Minuten später liebten sie sich erneut.

 

Als Susannah erwachte, lag sie allein im Bett. Über dem Fußende hingen eins von Sams T-Shirts und ein Denim-Wickelrock aus Jeansstoff, den er vermutlich aus dem Kleiderschrank seiner Mutter entwendet hatte. Bevor sie in das T-Shirt schlüpfte, hielt sie es an die Nase. Aber es duftete lediglich nach einem Waschmittel, nicht nach seiner Haut.

Sie zog sich an und eilte in die Küche, wo sie ihn nicht antraf. Durch das Fenster konnte sie in die Garage schauen, weil die Seitentür offen stand, und dort entdeckte sie ihn bei der Werkbank.

Am liebsten wäre sie hinübergelaufen, um ihn nur kurz zu berühren. Stattdessen griff sie zum Küchentelefon. Mit einem bebenden Finger wählte sie die Nummer von Falcon Hill. Die Leitung war besetzt. Dankbar für die Galgenfrist, legte sie auf. Dann überlegte sie, dass sie Cal anrufen und sich irgendwie entschuldigen müsste. Doch sie würde wohl kaum die richtigen Worte finden, und so ließ sie es erst mal sein.

Nachdem sie ein kleines Glas Orangensaft getrunken hatte, beschloss sie, in die Garage zu gehen, und überquerte den Hinterhof. In der Ferne hörte sie Kirchenglocken läuten, die den Sonntagsgottesdienst ankündigten. Da bog ein verbeulter Plymouth Duster in die Zufahrt, und sie blieb abwartend stehen. Das Auto hielt, und Yank Yankowski stieg aus. Knochendürr und schlaksig, wie ein bebrillter Storch, stakste er auf sie zu. Jetzt erschien ihr sein Haar noch grauenhafter als in ihrer Erinnerung. Das war kein rasanter Marine-Corps-Bürstenschnitt, sondern eher ein Stil ä la David und Ricky Nelson, für ewig in den fünfziger Jahren gefangen. Konzentriert furchte er die Stirn.

Während er näher kam, sah sie seine Augen hinter den Brillengläsern – hellbraun und blicklos. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewusst, dass jemand so geistesabwesend dreinschauen konnte.

»Hallo.« Höflich streckte sie ihre Hand aus. »Ich glaube, wir wurden uns noch nicht vorgestellt – Susannah Faulconer.«

Er ging wortlos an ihr vorbei.

Verwirrt starrte sie ihm nach, während er die Garage betrat. Einer seiner Socken war dunkelblau, der andere weiß. War das ein seltsamer Typ!

Etwas später folgte sie ihm in die Garage, in der er mit seinem Freund in Fachsimpelei versunken war. Sie wartete, bis Sam sich umdrehte und sie bemerken würde. Als das schließlich geschah, suchte sie in seinem Gesicht nach irgendwelchen Anzeichen, die verraten würden, dass die letzte Nacht ihn verändert hätte. Er sah jedoch genauso aus wie zuvor. Als er sie aber ansprach, gewann sie zumindest den vagen Eindruck, er würde sich an die Ereignisse erinnern.

»Yank hat ein großartiges neues Computerspiel erfunden, Suzie. Komm her, probier’s aus.«

Um in seine Nähe zu gelangen, brauchte sie keine zweite Aufforderung. Wenig später schoss sie auf Ziele, die blitzschnell über den Bildschirm glitten, und die Männer riefen ihr Anweisungen zu. Von Sam fasziniert, nahm sie Yanks Anwesenheit kaum wahr. Seine Kommentare wirkten unpersönlich und bezogen sich ausschließlich auf das Spiel. Obwohl er mit ihr redete, hatte sie das Gefühl, er würde sie nicht wahrnehmen. Für ihn war sie momentan nur ein körperloses Paar Hände, das seine geniale Maschine betätigte.

»Andersrum!«, befahl er. »Nach links!«

»Da!«, jubelte sie. »Ich hab eins!«

»Passen Sie auf, sonst werden Sie getroffen!«

Es machte ihr tatsächlich Spaß. Doch das war auch schon alles. Ein paar Stunden cleveres Amüsement – mehr nicht. Warum Sam sich dermaßen für das belanglose kleine Gerät begeisterte, verstand sie echt nicht.

»Jetzt bin ich dran«, entschied er.

Susannah schob ihn beiseite. »In einer Minute. Lass mich noch einmal spielen.«

Nach einer Weile verscheuchte Yank alle beide, um die Leiterplatte nach Störfaktoren abzusuchen. Während er arbeitete, brachte Sam ihr einige elektrotechnische Grundbegriffe bei. Er zählte die Komponenten des Ein-Platinen-Computers auf – integrierte Schaltkreise, mehrfarbige Widerstände, röhrenförmige Kondensatoren, ein Energietransistor mit Kühlplatte. Dann erläuterte er die Minimierung und beschrieb eine Zukunft, in der man die winzigen Mikrochips der Gegenwart groß und unhandlich finden würde. Einiges hatte sie bereits gewusst, das meiste nicht. Es war eine hochinteressante Welt, der Sam mit seiner Begabung für bildhafte Formulierungen eine besondere Magie verlieh.

Als Yank die Hilfe seines Partners anforderte, schaute sie ihnen eine Zeit lang zu. Schließlich ging sie widerstrebend ins Haus zurück und rief noch einmal in Falcon Hill an. Da die Leitung nach wie vor besetzt war, nahm sie an, dass der Hörer neben dem Apparat lag. Sie dachte an die Kämpfe zwischen ihrem Vater und Paige. Schweren Herzens versuchte sie sich vorzustellen, wie es wäre, ohne seine Liebe zu leben. In manchen Familien wurde die Liebe bedingungslos verschenkt – in ihrer nicht.

Sie wählte Cals Nummer, bekam aber nur das Freizeichen zu hören. Seufzend setzte sie sich hin, schrieb ihm einen Brief und bat ihn um Verzeihung – wenn ihr Verhalten auch unverzeihlich war.

Es war schon dunkel, als Sam hereinkam und ankündigte, dass er sie heute Abend in ein chinesisches Restaurant einladen würde. Sie wollte erwidern, zuerst müsste sie sich umkleiden. Dann fiel ihr ein, dass sie nichts zum Umziehen hatte, und sie zuckte innerlich resigniert mit den Schultern.

Sie verließen das Haus durch die Hintertür und sahen, wie gerade ein dunkelblauer Pinto hinter Yanks Duster parkte. »O Scheiße«, murmelte Sam.

»Stimmt was nicht?«, fragte Susannah erschrocken. War Angela Gamble verfrüht heimgekehrt? Was sollte sie seiner Mutter sagen?

Statt zu antworten, stürmte er mit langen Schritten zur Garage – wie ein Mann, der eine tödliche Mission zu erfüllen hatte. Verdutzt eilte sie hinterher.

Zu ihrer Erleichterung war die Frau, die neben der Werkbank stand, etwa in ihrem eigenen Alter – sicher nicht alt genug, um Sams Mutter zu sein, obwohl sie in ihrer Polyesterbluse und dem marineblauen Rock, kombiniert mit einer schlechten Dauerwelle, älter aussah. Sie hatte eine birnenförmige Figur – schmale Schultern, kleiner Busen, breite Hüften. Aber sie besaß eine wundervolle Haut, hell und makellos, bis auf den schwachen Schatten eines Schnurrbarts auf der Oberlippe. Einen so geringfügigen Schönheitsfehler würde eine stilbewusste Frau einmal pro Monat mit einem Enthaarungsmittel beseitigen.

»... alle wichtigen Nährstoffe, Yank. Ich habe dir meinen Drei-Bohnen-Salat hingestellt. Hast du ihn gegessen? Nein! Keinen Bissen! Kidney-Bohnen sind eine großartige Proteinquelle. Aber du stopfst ständig nur Schokoladenkekse in dich hinein. Also, ich sage dir was, Mister. Von jetzt an backe ich keine Schokoladenkekse mehr, solange du nicht anfängst, richtig zu essen ...«

»Lass ihn in Ruhe, Roberta.«

In ihre Lektion vertieft, die sie Yank erteilte, hatte die Frau ihr Publikum nicht bemerkt. Als Sams Stimme erklang, zuckte sie zusammen, und Susannah beobachtete, wie sich ihr Gesicht vor Angst verzerrte. »O Sam, ich wollte nicht – es ist nur ...«

Langsam wanderte er zu ihr. In seinen tief sitzenden Jeans, mit dem o-beinigen Harley-Gang, wirkte er zweifellos bedrohlich. Susannah verstand, dass Roberta zurückwich.

Nun steckte er auch noch einen Daumen in eine Gürtelschlaufe an seinem Hosenbund. Bei diesem Anblick verspürte Susannah ein primitives sexuelles Prickeln, auf Kosten der bedauernswerten Roberta. »Offenbar habe ich mich bei unserem letzten Gespräch vor ein paar Tagen nicht deutlich genug ausgedrückt«, begann er.

»Moment mal, Sam, ich – ich schaue nur für eine Minute vorbei ...«

»Hau ab. Ich will dich hier nicht sehen. Ständig nörgelst du an ihm rum, und das missfällt mir.«

Roberta versuchte sich zusammenzureißen. »Hör mal, ich kann herkommen, wann immer ich will. Yank freut sich drüber. Nicht wahr, Yank?«

Schweigend ergriff Yank ein Stück Lötzinn und beugte sich über die Platine. Sam lehnte sich an die Werkbank. »Wie gesagt, halt dich von hier fern. Wenn Yank mit dir schlafen will, ist das seine Sache. Aber sobald er arbeitet, darfst du ihn nicht nerven.«

Roberta starrte ihn an. Offenbar bemühte sie sich, genug Mut für einen Streit aufzubringen – was ihr ebenso offensichtlich misslang. Jetzt sah Susannah ihr Kinn zittern. Sie hasste peinliche Szenen. Deshalb beschloss sie, die Wogen zu glätten. »Hallo, ich bin Susannah.« Instinktiv verheimlichte sie den wohl bekannten Namen Faulconer.

Dankbar für die Einmischung, beeilte sich Roberta, den Gruß zu erwidern. »Hi, ich bin Roberta Pestacola. Wie Pepsi Cola, nur mit einem ›Pesta‹ vorn.«

»Sind Sie Italienerin?«

»Ja, ich stamme aus einer rein italienischen Familie. Nicht nur mütterlicherseits, so wie Sam.«

Bis zu diesem Augenblick hatte Susannah nicht gewusst, dass mediterranes Blut in Sams Adern floss.

»Ich bin Yanks Freundin«, fuhr Roberta fort. »Wir sind so gut wie verlobt.« Dann erzählte sie Susannah, sie sei Ernährungsberaterin in einem Krankenhaus. In ihrer Freizeit würde sie gern töpfern.

Als sie verstummte, schien sie zu erwarten, Susannah würde sie über ihre Beziehung zu Sam informieren.

»Faszinierend«, meinte Susannah.

Nun trat Sam vor und ergriff Robertas Arm. »Ich bringe dich zu deinem Auto. In der Klinik warten sie sicher schon sehnsüchtig auf einen ernährungswissenschaftlichen Vortrag.«

Blitzschnell klammerte sich Roberta an die Werkbank. Nicht so sehr, weil sie unbedingt hier bleiben möchte, vermutete Susannah. Wahrscheinlich will sie nicht mit Sam allein sein ... Wieder einmal erwachte ihr Mitleid. »Kommen Sie, Roberta, ich begleite Sie.«

Davon wollte Sam nichts wissen. »Nein, Suzie, du hältst dich da raus. Roberta und ich müssen dringend unter vier Augen reden.«

Da durchbrach eine sanfte Stimme die angespannte Atmosphäre. »He, Roberta – würdest du die Lampe anknipsen?« Yank hob den Kopf und blinzelte ein paar Mal, als wäre er soeben aus einem langen Schlaf erwacht. »Dreh sie hierher, damit ich sehen kann, was ich mache.«

Mit wahrem Feuereifer riss sich Roberta von Sam los und schaltete das Licht ein. Sam musterte seinen Freund angewidert, dann wandte er sich wieder zu Roberta. »Verschone mich mit deinem Gezeter. Das meine ich ernst. Wir haben eine Bestellung für ein paar Leiterplatten gekriegt. Jetzt muss Yank die letzten Programmfehler ausmerzen. Wenn ich zurückkomme, bist du nicht mehr da – verstanden?« Dicht gefolgt von Susannah, verließ er die Garage. »Heiliger Himmel, das ist der schlimmste Fall von sexueller Verzweiflung, den ich je im Leben gesehen habe.«

Meinte er Yank oder Roberta? Susannah war sich nicht sicher, weil sie keinen von beiden besonders erotisch fand.

»Für Yank ist es praktisch unmöglich, eine Frau in sein Bett zu locken«, fügte Sam hinzu. »Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mann frustriert genug ist, um es mit der grässlichen Roberta zu treiben. Ich wette, vorher desinfiziert sie ihn von Kopf bis Fuß.«

Nachdem Susannahs intime Beziehung zu Sam eben erst begonnen hatte, brachte er sie mit diesem Kommentar in Verlegenheit. »Yank scheint sich nicht besonders für Sex zu interessieren.«

»Doch, sogar sehr. Er hat sich ein ziemlich scharfes Computerprogramm ausgedacht. Trotzdem versteht er von Maschinen weitaus mehr als von Frauen.« Sam schwang ein Bein über die Harley und grinste herausfordernd. »Während ich auf beiden Fachgebieten fantastisch bin.«

Sie aßen in einem schäbigen chinesischen Lokal, wo Sam ein ganzes Cashew-Huhn verschlang und drei Viertel von Susannahs Portion. Danach knabberten sie Glückskekse, und er betastete sie dabei unter dem Tisch. Das erregte sie so sehr, dass sie ihn hastig bitten musste, damit aufzuhören. Auf dem Heimweg steuerte er die Harley auf einen verlassenen Spielplatz. Als sie abgestiegen waren, reichte er ihr seine Hand. »Das ist für lange Zeit unser letzter Ferientag. Also machen wir das Beste draus.« Er führte sie zu einem Klettergerüst aus Traktorreifen, und sie setzte sich darauf. Von dem Scheinwerfer der Harley beleuchtet, warfen die anderen Geräte verzerrte Schatten. Es war kalt, und sie schloss den Reißverschluss der Windjacke, die Sam ihr geliehen hatte. Als sie zum Himmel hinaufschaute, suchte sie vergeblich nach Sternen. Entweder wurden sie von Wolken oder vom Smog verhüllt – sie wusste es nicht.

Sam sah etwas ganz anderes im nächtlichen Firmament. »Glaub mir, Suzie, wir werden die Energien des Universums entfesseln. Du und ich. Nicht nur für die großen Bonzen in ihren Elfenbeintürmen, sondern für alle Menschen. Auf dieser Welt wird jeder die Macht der Götter gewinnen.«

Unwillkürlich erschauerte sie. »Ob ich diese Macht haben will, weiß ich gar nicht.«

»Weil du dich immer noch vor deiner eigenen Courage fürchtest.« In sanftem Ton fragte er: »Weißt du, was Yanks Computer dir geben wird?« Er schaute sie so durchdringend an, als wollte er ihr Innerstes ergründen. »Mut – den wird dir dieses Meisterwerk einimpfen.«

Sie lachte unsicher. »So wie dem feigen Löwen im ›Zauberer von Oz‹?«

»Genauso.«

»Wie soll mir eine Maschine Mut machen? Daran zweifle ich.«

»Unsere schafft das. Wenn du’s willst. Aber du musst es dir wirklich wünschen, Suzie.« An einen der Traktorreifen gelehnt, erklärte er: »Die Bestellung von vierzig Leiterplatten bedeutet nicht nur, dass wir im Geschäft sind. Es ist eine Chance, uns zu beweisen. Nur wenige Leute bekommen eine solche Chance. Wir müssen noch mehr Aufträge an Land ziehen und die Werbetrommel rühren. Die gleichen Fehler wie MITS mit dem Altair werden wir nicht machen. Wir bieten keine Bausätze an. Alls, was wir verkaufen, ist vollständig zusammengesetzt und von erstklassiger Qualität.«

In wachsender Bestürzung hörte sie ihm zu. Was für unrealistische Pläne! Es war schön und gut, über die Macht der Götter zu reden. Aber in Wirklichkeit gab es nur eine Maschine, von der er nicht wusste, ob sich genug Käufer dafür finden würden. Und sie wurde in der Garage einer Frau hergestellt, die Leichen frisierte. Wie konnte er seine ganze Zukunft darauf aufbauen? Und wie konnte sie ihre Zukunft aufs Spiel setzen?

»Das Material ist teuer«, bemerkte sie sachlich. »Was wird die Produktion von vierzig Computern kosten?«

»Wenn wir uns an Discountläden und Sonderpreise halten, etwa zwölftausend. Und dann müssen wir Holzkisten anfertigen lassen. Irgendwas Schlichtes, aber Stabiles. Übrigens, ich kenne jemanden, der an einer gedruckten Schaltung arbeitet. Dadurch wird die ganze Konstruktion erleichtert. Hast du so was schon mal gesehen?«

»Mag sein ...«

»Eine Fiberglas-Platte, mit einer dünnen Kupferschicht abgedeckt. Und das Kupfer wird weggeschabt, bis nur noch schmale Linien auf dem Fiberglas übrig bleiben. Wie winzige Drähte.«

»Ja, Kupfer leitet elektrischen Strom. Das weiß sogar ich.«

»Stimmt. Und Fiberglas nicht. Also brauchst du nur die richtigen Bauteile und ein einfaches, formschönes Design – und schon hast du einen Ein-Platinen-Computer. Ich schätze, ein solches Gerät wird uns an die dreihundert Dollar kosten. Pinky zahlt uns fünf und verkauft’s für sieben. Den Profit stecken wir in weitere Geräte, und bald können wir einen selbständigen Computer produzieren – mit Terminal und Monitor und allem Drum und Dran. Eines Tages werden wir FBT die Tour vermasseln.«

»Hast du zwölftausend Dollar?«

»Bis vor kurzem hatten Yank und ich ungefähr zweitausend. Mit einem Teil davon musste ich die gedruckten Schaltkreise anzahlen. Und ein Bekannter hat mir achthundertfünfzig für meine Stereoanlage angeboten. Das wär’s.«

Mit knapp dreitausend Dollar wollte er FBT übertrumpfen? Weil sie ihn liebte, verbarg sie ihre Bestürzung. »Hast du’s bei den Banken versucht?«

»Da hängen nur Trottel rum. Die haben keine Visionen. Lauter Fossile. Monumentale Dinosaurier.«

Offensichtlich hatte er schon mehrere Banken abgeklappert.

Susannah zog eine Sandale aus und ließ den Sand herausrieseln, der sich unter ihren Zehen gesammelt hatte. »Was wirst du tun?«

Prüfend schaute er sie an. »Heißt es nicht eher – was werden wir tun? Du gehörst dazu. Oder willst du nach Hause zurücklaufen? Zu Daddy und Calvin?«

Die Bernsteinflecken in seinen Augen spiegelten das Scheinwerferlicht wider. Plötzlich fröstelte sie. »Sei nicht unfair.«

»Fair oder unfair – das interessiert mich einen Scheißdreck. Ich will es wissen. Bist du drinnen oder draußen?«

»Ich will bei dir sein, Sam.«

»Danach habe ich nicht gefragt.«

Er trieb sie in die Enge, und sie hatte Angst. Ungeschickt rutschte sie vom Traktorreifen herunter und schaute an ihm vorbei zum dunklen Ende des Spielplatzes. »Ich habe kein Geld. Falls du damit rechnest, muss ich dir sagen, dass ich dir nicht helfen kann. Mein Vater hat alles unter Kontrolle.«

»Glaubst du, ich will Geld von dir?«, erwiderte er ärgerlich. »Deshalb habe ich dich nicht zu mir geholt. Verdammt, dachtest du wirklich, das wäre der Grund gewesen?«

»Nein, natürlich nicht.« Sekundenlang hatte sie genau das vermutet. »Gar nichts besitze ich, Sam – keine Kleider, kein Geld, kein Dach über dem Kopf.«

»Großer Gott, ich habe dich nicht um eine beschissene Mitgift gebeten! Wir besorgen dir was zum Anziehen, und du wohnst bei mir. Bist du drin oder draußen, Suzie?«

So sicher war er seiner Sache – niemals zweifelte er an seinem Erfolg ... Das Dunkel am Ende des Platzes schien sich mit bedrohlichen Schatten zu füllen. »Das sagte ich doch – ich will bei dir sein.«

»Ohne in das Projekt einzusteigen, kannst du nicht bei mir bleiben.«

Was sollte sie antworten? Sie war praktisch veranlagt und daran gewöhnt, logisch zu denken. Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie etwas Unlogisches getan – nämlich, sich in Sam Gamble zu verlieben. »So einfach ist das nicht.«

Als sie sich abwandte und davongehen wollte, trat er ihr sofort in den Weg. »Verdammt, ich muss es wissen.«

»Kommandier mich nicht herum!«

»Gib mir endlich eine Antwort! Hör auf, diese künstlichen Barrieren zwischen uns zu errichten! Bist du couragiert genug, um das alles mit mir durchzuziehen? Um dich zu beweisen?«

»Um meinen Mut geht es nicht«, stieß sie unglücklich hervor, bevor er sie unterbrechen konnte. »Ich muss realistisch denken – und mich irgendwie ernähren.«

»Darauf kommt es nicht an – dein Lebensunterhalt ist völlig unwichtig. Du brauchst weder Geld noch Kleider. So was solltest du nicht zum Vorwand nehmen. Nur deine Seele zählt. Die Seele ist das Einzige, was einen Menschen ausmacht. Verstehst du’s nicht? Wenn deine Seele wachsen und gedeihen soll, statt im Mausoleum von Falcon Hill zu verkümmern, musst du etwas wagen – und der Welt den Stinkefinger zeigen!«

Wie dieser Mann reden konnte ... Zitternd verschränkte sie die Arme vor der Brust, um sich vor der Nacht und der Kälte zu schützen – vor der Bedrohung am Ende des Spielplatzes.

Aus Sams Augen schienen Funken zu sprühen. »Hör mir zu, Suzie. Wir stehen auf der Schwelle einer neuen Gesellschaft  – einer ganz neuen Lebensart. Spürst du’s nicht? Die Traditionen funktionieren nicht mehr. Die Menschen wünschen sich Informationen, Kontrolle, Macht. Wenn du dir Yanks Apparat anschaust, siehst du eine Ansammlung elektronischer Teile. Aber was du wirklich erkennen müsstest, ist eine Welle – eine kleine Welle, da draußen im Meer, weit weg von der Küste. Diese winzige Welle nimmt eben erst Gestalt an. Allmählich fließt sie zum Land. Und je näher sie herankommt, desto schneller bewegt sie sich, sie schwillt an, und plötzlich erblickst du einen Wasserwall, der zum Himmel emporragt. An der Spitze glänzt eine Krone aus weißem Schaum. Rauschend rast sie auf dich zu und wird immer größer, bis sie herabzustürzen droht. Du hörst ein gewaltiges Tosen – so laut, dass du dir die Ohren zuhalten musst. Angstvoll trittst du zurück, denn du willst nicht von der Welle überrollt werden. Immer weiter weichst du zurück – und dann merkst du’s. Ganz egal, wie schnell du davonläufst, diese gnadenlose Woge wird über deinem Kopf zusammenschlagen, über den Köpfen aller Menschen auf der Welt. Denn sie heißt Zukunft, Baby. Und Yanks Maschine wird unsere Zukunft prägen. Sobald die Welle das Ufer überspült, wird keiner von uns jemals wieder so sein wie früher.«

Die Kraft seiner Worte erfüllte sie genauso wie der Liebesakt in der letzten Nacht. Ihren ganzen Körper füllte er aus und beherrschte ihn. Die Worte umfingen sie, rissen sie mit, erschwerten ihr das Atmen. Aber trotz aller Eloquenz verstand Sam nicht, was es wirklich bedeutete, ein Wagnis einzugehen. Er hatte nichts zu verlieren, lebte in einem hässlichen kleinen Haus mit einem Elvis-Presley-Gemälde an der Wand, besaß eine Stereoanlage und eine Harley-Davidson. Wenn er zu jedem Wagnis bereit war, riskierte er nichts. Aber sie setzte alles aufs Spiel.

Er berührte sie sanft, nahm ihr Gesicht in beide Hände und strich mit seinen Daumen über ihre Wangen.

Die Welle trieb sie an die Küste, und sie empfand das hilflose Gefühl aller Frauen im Lauf der Jahrhunderte, die das Wesen der Liebe erkannt hatten – wenn man einen Mann liebte, musste man auch seine Visionen lieben, Meere und Kontinente überqueren, die eigene Familie verlassen, die Sicherheit opfern, um neue Welten zu ergründen. »Darüber – muss ich nachdenken. Morgen, wenn du arbeitest.«

»Morgen arbeite ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich gekündigt habe. Ich bin drin, Suzie. Mit Haut und Haaren.«

»Was – du hast deinen Job aufgegeben?«, fragte sie mit schwacher Stimme.

»Letzte Woche. Und wie ist’s mit dir? Bist du drin oder draußen?«

»Das – weiß ich nicht.«

»Sag’s endlich.«

»Ich brauche Zeit.«

»Die hast du nicht.«

»Tu mir das nicht an, Sam. Bitte, hör auf, mich so zu bedrängen.«

»Ich will es wissen, Suzie. Jetzt. Entscheide dich. Bist du drin oder draußen?«

Sie hatte das Gefühl, sie wäre Äonen älter als er – nicht nur ein Jahr – und um ein Jahrtausend reicher an Erfahrung. Während sie sich an zahllose Tischgespräche in Falcon Hill erinnerte, sah sie Hürden, die Sam verborgen blieben, lauter Schwierigkeiten, die seine visionären Augen nicht einmal erahnten. Was sie Zeit ihres Lebens gelernt hatte, drängte sie, ihm zu erklären, sie könnte ihm nicht helfen. Und dann würde sie nach Hause zurücklaufen und ihren Vater um Verzeihung bitten.

Aber sie liebte Sam – und sie liebte den neuen Funken, den er mit seiner unbändigen Energie in ihr entzündet hatte. Diesen Funken wollte sie heller leuchten sehen – und so blieb ihr nichts anderes übrig, als diesem rastlosen jungen Mann, in den sie sich unklugerweise verliebt hatte, bis ans Ende der Welt zu folgen. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, fast unhörbar. »Okay, ich bin drin.«