2
Im nächsten Jahr fühlte sie sich glücklicher denn je. Joel adoptierte sie, und so war sie seine richtige Tochter. Nicht mehr Susannah Lydiard, sondern Susannah Faulconer. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie zur Schule. Der Lehrer lobte sie und nannte sie seine klügste Schülerin. Jetzt machte sie nicht mehr ins Bett, und sie lächelte viel öfter und weinte nicht mehr so viel. Alle außer ihrer Mutter schienen sie zu mögen.
Obwohl Susannah sich eifrig bemühte, das Wohlwollen ihrer Mutter zu erobern – es gelang ihr nicht. Sie war immer sauber und gepflegt, hielt ihre Sachen in Ordnung, und sie tat alles, was ihr aufgetragen wurde. Trotzdem schimpfte Kay unentwegt mit ihr.
»Schleich dich nicht von hinten an mich heran!«, schrie sie fast jeden Tag. »Schon hundert Mal habe ich’s dir gesagt! Das ist mir unheimlich!«
Und so gewöhnte sich Susannah in der Nähe ihrer Mutter ein leises Räuspern an, um ihre Anwesenheit zu bekunden.
Ihre jüngere Tochter mochte Kay viel lieber. Nicht, dass die ältere ihr das verübeln konnte. Paige war so süß und zauberhaft, dass sich Susannah bereitwillig von ihr versklaven ließ. Sie brachte ihr Spielsachen, vertrieb ihr die Langeweile und beruhigte das kleine Mädchen, wenn es einen Wutanfall bekam. Wann immer sie Tränen über das runde, rosige Gesichtchen rollen sah, fand sie diesen Anblick unerträglich.
»Du verwöhnst sie«, klagte Kay eines Nachmittags, als sie von der Klatschkolumne einer Zeitung aufschaute und ihre Zigarette in einem Aschenbecher ausdrückte. »Gib ihr nicht alles, was sie verlangt!«
Widerstrebend entwand Susannah ihre neue Barbie-Puppe dem zerstörerischen Griff der kleinen Hände. Paiges blaue Augen verdunkelten sich, und sie begann protestierend zu schluchzen. Immer lauter heulte sie und ignorierte alle Ablenkungsversuche ihrer Halbschwester.
Schließlich wurde die Zeitung ungeduldig zusammengefaltet. »Heiliger Himmel!«, kreischte Kay. »Lass sie mit deiner Barbie spielen! Wenn sie die Puppe zerbricht, kaufe ich dir eine andere.«
Nur der Vater war immun gegen Paiges Charme. Nach mehreren ähnlichen Zwischenfällen erklärte er Susannah in strengem Ton: »Paige muss lernen, dass sie nicht alles haben kann, was sie will. Allmählich solltest du sie erziehen. Dazu ist deine Mutter weiß Gott nicht fähig.«
Susannah versprach, ihr Bestes zu tun. Am nächsten Tag ging sie einfach aus dem Zimmer, als ihr Schwesterchen vor Zorn tobte, obwohl ihr das fast das Herz brach.
Am Ende des ersten Schuljahrs begannen ihre seelischen Wunden zu vernarben. Ironischerweise wirkte Kays negative Kritik genauso heilsam wie Joels Zuneigung. Ihrer Mutter verdankte sie immerhin die Erkenntnis, dass sie nicht in einen Schrank gesperrt wurde, wenn sie ihre Manieren vergaß. Während dieses Sommers verwandelte sich ihre Welt in einen sicheren Ort. Langsam ließ ihr beflissener Eifer nach, und sie fing an, sich wie ein normales Kind zu benehmen.
Falcon Hill ragte am Ende einer langen Allee empor, gegen die Straße von einem schmiedeeisernen Doppeltor abgeschirmt.
Wenn sich die Erwachsenen am späten Nachmittag auf der Terrasse hinter dem Haus versammelten und Martinis tranken, wanderte Susannah die Zufahrt hinab, spielte mit einer Puppe oder kletterte am schmiedeeisernen Gitter des Tors hinauf, um ihr Blickfeld zu erweitern. Nach den jahrelang aufgezwungenen Spaziergängen ständig um denselben Häuserblock herum genoss sie ihre neue Freiheit in vollen Zügen.
An einem Juninachmittag übte sie am unteren Ende der Zufahrt Seilhüpfen, als der Mann mit den Luftballons auftauchte. Obwohl sie schon sieben Jahre alt war, hatte sie das Seilspringen erst vor kurzem erlernt, und diese Kunst erforderte ihre ganze Konzentration. Deshalb bemerkte sie ihn zunächst nicht. Rhythmisch trommelten die Sohlen ihrer Sandalen auf den Asphalt, während sie flüsternd ihre Sprünge zählte. Ihr feines kastanienrotes Haar, von zwei Spangen in der Gestalt winziger Cockerspaniels aus der Stirn gehalten, flatterte jedes Mal, wenn das Seil den Boden streifte, von den Schultern hoch.
Als sie schließlich aufschaute und den Mann mit den bunten Ballons entdeckte, fand sie seine Anwesenheit in der ruhigen Wohngegend nicht ungewöhnlich. Auf Paiges Geburtstagsparty hatte ein Zauberer die Kinder unterhalten. Und ein Osterhase hatte höchstpersönlich Geschenkkörbe ins Haus gebracht. In einem Märchenland wie Kalifornien konnten alle möglichen wunderbaren Dinge geschehen.
Sie ließ das Seil fallen, stieg auf die untersten Schnörkel des schmiedeeisernen Tors und beobachtete, wie der Mann näher kam.
»Kostenlose Luftballons!«, rief er. Zu seiner Arbeitskleidung, einer grauen Hose und einem Hemd in derselben Farbe, trug er staubige schwarze Schuhe. Aber die lustige Clownsmaske mit der roten Nase und dem orangegelben Kraushaar passte nicht zu einem Arbeiter. »Kostenlose Ballons! Die platzen nie. Immer fliegen sie dahin und dorthin. Die besten Ballons von der Welt!«
Ballons, die nicht platzten? Erstaunt riss Susannah die Augen auf. Sie hasste den Knall berstender Luftballons. Sieher wäre es erfreulich, einen zu besitzen, der sie nicht erschreckte.
Sie streckte ihre kleine Hand durch die Gitterstäbe und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Schenken Sie mir einen von ihren kostenlosen Ballons, Sir?«
Anscheinend hörte er ihre Frage nicht. »Kostenlose Ballons! Die platzen nie. Immer fliegen sie umher. Keiner meiner Luftballons kostet was!«
»Entschuldigen Sie, Sir«, bat sie höflich. »Geben Sie mir einen Ballon?«
Aber er wandte sich noch immer nicht zu ihr. Vielleicht sieht er mich nicht durch die Clownsmaske, dachte sie.
»Keiner meiner Luftballons kostet was!«, wiederholte er. »Komm mit mir!«
Sollte sie ihm folgen? Darüber hatte niemand mit ihr gesprochen. Trotzdem glaubte sie nicht, dass sie das Grundstück verlassen durfte. Sehnsüchtig musterte sie das Bündel der farbenfrohen Ballons, die an ihren Schnüren tanzten. Von der Schönheit dieses Anblicks wurde ihr fast schwindlig.
»Alle Ballons umsonst! Komm mit mir!«
Der Singsang schien in ihrem Blut widerzuhallen. Wenn sie zu ihren Eltern rannte, die auf der Terrasse saßen, und um Erlaubnis bat, würde der Mann weitergehen. Sicher wäre es albern, diese einmalige Chance zu verpassen und auf einen Ballon zu verzichten – vor allem, weil ihr Vater ihr die Freude gönnen würde. Ganz oft betonte er, sie sollte ihren Spaß haben und sich nicht so viele Sorgen machen.
»Alle Ballons umsonst! Komm mit mir!«
Da nahm sie den Schlüssel aus einem Versteck in der Blechbüchse am Boden einer steinernen Urne. Während sie ihn ins Schloss steckte, verstrichen kostbare Sekunden. »Warten Sie!«, rief sie, voller Angst, der Mann würde verschwinden. Die Unterlippe zwischen den Zähnen, konzentrierte sie sich auf die schwierige Aufgabe, den Schlüssel herumzudrehen. Endlich schaffte sie es. Mit aller Kraft zog sie den schweren Torflügel weit genug auf, so dass sie durch den Spalt schlüpfen konnte. Zufrieden mit sich, stürmte sie an der hohen Hecke vorbei, die das Anwesen umgab. »Bitte, warten Sie auf mich!«, flehte sie.
An diesem Junitag war es sehr warm. Der Saum des hellgelben Sommerkleids klatschte gegen ihre Beine, ihr langes Haar wehte hinter ihr her. In der Ferne wippten die Ballons, bunte Punkte vor dem Sommerhimmel. Fröhlich lachte sie über das schöne Bild. Wie wundervoll, ein Kind zu sein und ungehindert eine schmale Straße entlangzulaufen ... Wenn sie auch zu jung war, um dies alles in Worte zu fassen – die Last der Vergangenheit bedrückte sie nicht mehr, und sie fühlte sich glücklich, sicher und unbeschwert.
Plötzlich sprang ein fremder Mann aus einer Platanengruppe und packte Susannah. Eisige Angst schnürte ihr die Kehle zu. Nur mühsam würgte sie einen Schreckensschrei hervor, als sich harte Finger in ihre Arme gruben. Er hatte eine große, fleischige Nase, und er roch abscheulich. Verzweifelt versuchte sie, nach ihrem Vater zu rufen. Aber ehe sie Atem holen konnte, erschien jemand anderer an ihrer Seite – der Ballonmann – und hielt ihr den Mund zu. Kurz bevor er eine Decke über ihren Kopf warf, schleuderte er seine Clownsmaske beiseite, und sie sah sein Gesicht – schmal, listig und bösartig wie der Fuchskopf.
Hastig hoben sie ihre Gefangene auf die Ladefläche eines Lieferwagens. Einer trat nach ihrer Schulter und befahl ihr, still zu sein. Beim Aufprall der schweren Decke hatte sich eine Cockerspaniel-Spange gelöst und ein Büschel ihrer feinen Haare ausgerissen. Um nicht zu schreien, biss sie auf ihre Lippen. Unter der Decke war es heiß und stickig, und in ihrer verkrampften Lage stand Susannah Höllenqualen aus. Aber sie verlor nicht wegen der Schmerzen, sondern vor lauter Angst die Besinnung.
Stunden später wurde sie von der holprigen Fahrt des Lieferwagens geweckt. Sie schmeckte Blut im Mund und ahnte, sie würde sterben. Trotzdem gab sie keinen Laut von sich. Das Vehikel hielt ruckartig, und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Instinktiv schützte sie alle lebenswichtigen Organe, indem sie sich zusammenkrümmte. Wie sterbende Tiere quietschten die Türangeln der Heckklappe, als sie geöffnet wurde. Die Decke wurde weggezogen, und Susannah schloss die Augen – zu jung, um einem gefürchteten Schicksal tapfer entgegenzublicken. Die Männer schleiften sie von der Ladefläche, kalte Nachtluft wehte ihr ins Gesicht. Zögernd hob sie die Lider und starrte hoffnungslos auf eine flache Wüstenlandschaft. Hier war es fast so finster wie im Schrank ihrer Großmutter. Nur wenige bleiche Sterne und die trübe Innenbeleuchtung des Lieferwagens erhellten das Dunkel.
Der Mann mit dem Fuchsgesicht hielt sie fest. Während er sie zu einer Holzhütte zerrte, erwachte ihr Überlebenswille, und sie versuchte, sich zu befreien.
Wiederholt schrie sie. Doch die Wüstenleere verschluckte die Kinderstimme, als wäre der Hilferuf das Flüstern verwehter Sandkörner. Der Kerl mit der fleischigen Nase öffnete das Vorhängeschloss an der Hüttentür, und der andere stieß Susannah über die Schwelle. Drinnen roch es nach Staub und Rost und Öl. Keiner der beiden sprach. Nur ihr eigenes Wimmern durchbrach die Stille. Wie einem Hund schlangen sie ihr eine schwere Kette um den Hals und befestigten das andere Ende an der Wand. Kurz bevor sie allein gelassen wurde, warf der Fuchsmann die Ballons in die Hütte. Er hatte gelogen. Am zweiten Tag ihrer Gefangenschaft zerplatzten sie alle in der heißen Luft.
Landesweit veröffentlichten sämtliche Zeitungen Reportagen über die Entführung der kleinen Susannah Faulconer. Die Polizei fand eine Lösegeldforderung im Postkasten, die eine Million Dollar betrug. Entnervt flüchtete Kay mit Paige in ihr Schlafzimmer und wagte sich nicht in die Nähe der Fenster, obwohl die Vorhänge zugezogen waren. Joel verlor beinahe den Verstand in seiner Sorge um die ernsthafte kleine Adoptivtochter, die er so lieb gewonnen hatte.
Während er rastlos die Räume von Falcon Hill durchquerte, fragte er sich, wie so etwas Schreckliches geschehen konnte. Er war ein einflussreicher Mann. Was hatte er falsch gemacht? Susannah bedeutete ihm mehr als sonst jemand auf der Welt. Aber offensichtlich reichte seine Macht nicht aus, und er war nicht wachsam genug gewesen, um sie zu schützen.
Am dritten Tag nach dem Kidnapping erhielten die Polizeibeamten einen anonymen Hinweis, der sie zu einer Hütte am Rand der Mojave-Wüste führte. Darin fanden sie Susannah, an die Wand gekettet. Zusammengesunken kauerte sie in ihrem schmutzigen gelben Sommerkleid am Boden, zu schwach, um den Kopf zu heben oder zu erkennen, dass keine Feinde, sondern Freunde zu ihr kamen. Schürfwunden übersäten ihre Arme und Beine. Um ihre staubigen Finger hatte sie die Schnüre zerplatzter Ballons geschlungen.
Weil ihr Körper völlig ausgetrocknet war, befürchteten die Ärzte einen bleibenden Gehirnschaden. »Sie ist eine Kämpfernatur«, betonte Joel in einem fort, als würde allein schon die Wiederholung dieser Worte seinem Liebling helfen, möglichst bald zu genesen. »Ja, sie wird es schaffen, denn sie kann kämpfen.« Stundenlang saß er neben Susannahs Bett, hielt ihre Hand und versuchte ihr Kraft zu geben.
Die Kidnapper wurden von einem ehemaligen Zellengenossen verpfiffen. Eine knappe Woche nach Susannahs Rettung gingen sie der Polizei bei einer Straßensperre ins Netz. Der Ballonmann zückte eine Waffe und starb, von der Kugel eines Beamten getroffen. Wenig später erhängte sich sein Komplize in der Untersuchungshaft mit den verknoteten Streifen eines zerrissenen Bettlakens.
Zu Joels Freude und Kays Erleichterung erholte sich Susannah allmählich. Ihre Seele heilte nicht so schnell. In ihrem jungen Leben hatte sie zu viel erduldet, zu schreckliche Kämpfe ausgefochten. Bevor sie wieder sprechen konnte, verstrichen mehrere Wochen. Und dann dauerte es einen ganzen Monat, bis Joel ihr ein Lächeln entlockte. Wäre sie aus dem Penthouse ihrer Großmutter gekidnappt worden, hätte sie vielleicht keinen so nachhaltigen Schock erlitten. Aber nachdem sie sich endlich sicher genug gefühlt hatte, um die traumatische Vergangenheit zu überwinden, würde die Entführung unauslöschliche Spuren in ihrem Innern hinterlassen.
Zehn Jahre lang wurde sie jeden Morgen in einer kugelsicheren Limousine von Falcon Hill zu einer der exklusivsten Mädchenschulen von San Francisco gefahren. Sie wuchs zu einem großen, etwas ungelenken Teenager heran, und ihre Mitschülerinnen respektierten sie, weil sie ihnen häufig aus der Klemme half und niemals schlecht über sie sprach. Doch sie war zu reserviert, um Freundschaften zu schließen, und so ernst, dass sie die Mädchen manchmal unangenehm an ihre Mütter erinnerte.
Mit ihrer ruhigen Kompetenz und der Fähigkeit, stets ihre Fassung zu bewahren, irritierte sie Kay. Aber da Susannah ihr viele Pflichten abnahm, entwickelte sie eine gewisse distanzierte Zuneigung zu ihrer älteren Tochter. Trotzdem verstand sie nicht, warum Joel das Adoptivkind seinem eigenen Fleisch und Blut vorzog. Je öfter er Paige tadelte, desto rebellischer benahm sie sich – zum Leidwesen ihrer Mutter. Hätte Susannah nicht als Schutzschild fungiert, wäre ihre schöne jüngere Halbschwester unentwegt dem väterlichen Zorn ausgeliefert gewesen.
Nach ihrem siebzehnten Geburtstag wurde Susannah für Joel so unentbehrlich wie einer seiner Vizepräsidenten. Sie kümmerte sich um seine gesellschaftlichen Termine, beaufsichtigte das Hauspersonal und war eine hervorragende Gastgeberin. Niemals beging sie den Fehler, jemanden mit dem falschen Namen zu begrüßen, was ihrer Mutter ständig passierte. Seit Susannah den Haushalt führte, blieben ihrem Adoptivvater die Katastrophen erspart, die seine Frau andauernd heraufbeschworen hatte.
Im gleichen Maß wie sein Imperium wuchs auch seine Arroganz. Nicht einmal Susannah entging seiner kalten Missbilligung, wenn ihn irgendetwas ärgerte. Das spornte sie zu noch intensiveren Bemühungen an. Zu ihrer Freude erfüllte sie ihn mit Stolz, weil sie die erfolgreichste Debütantin war, die San Francisco seit Jahren gesehen hatte, zumindest in den Augen der Klatschtanten, die alle wichtigen gesellschaftlichen Ereignisse arrangierten. Also würden die alten Traditionen doch nicht dahinschwinden, stellten sie übereinstimmend fest, wenn eine junge Frau wie Susannah Faulconer die Fackel von Sitte und Anstand hochhielt.
Sie liebte Mathematik, und ihre ausgezeichneten Zeugnisse hätten ihr ein Studium an einer der besten amerikanischen Universitäten ermöglicht. Stattdessen besuchte sie ein College in der Nähe von Falcon Hill, damit sie ihrem Vater auch weiterhin den Haushalt führen konnte. Von Anfang an ließen ihre akademischen Leistungen zu wünschen übrig, weil sie zu viele Vorlesungen und Seminare versäumte, um mit Joel Geschäftsreisen zu unternehmen. Außerdem gab es zu Hause immer mehr zu tun. Aber sie schuldete ihrem Adoptivvater einfach alles, und seine liebevolle Anerkennung entschädigte sie für den Entschluss, ihre vagen Träume von einem unabhängigen Leben zu vergessen.
Mit zwanzig verliebte sie sich in einen zweiunddreißigjährigen Investmentanalysten, und sie begannen, Heiratspläne zu schmieden. In den frühen siebziger Jahren erfüllte der Gedanke der freien Liebe die Luft wie Sauerstoff. Aber der Mann wurde von ihrem Vater so eingeschüchtert, dass er sich mit keuschen Küssen begnügte. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und erklärte, sie habe nichts gegen eine intimere Beziehung einzuwenden. Da entgegnete er, dafür würde er sie zu sehr respektieren. Wenn sie miteinander schliefen, würde sie sich danach selber hassen. Wie sie einige Monate später herausfand, vergnügte er sich mit einer von Paiges Freundinnen, und so gab sie ihm den Laufpass. Sie versuchte zu akzeptieren, dass sie zu den Frauen gehörte, die sich eher Respekt verschafften, als Leidenschaft erregten. Aber sie schwelgte jede Nacht in sexuellen Fantasien. Dabei träumte sie keineswegs von sanfter Musik und romantischem Kerzenschein. In diesen lustvollen Szenarien spielten dunkelhäutige Wüstenscheichs und hübsche weiße Sklavenhändler die Hauptrollen.
Dann erkrankte Kay an Lungenkrebs, und nichts anderes war mehr wichtig. Susannah gab das Studium auf, um ihre Mutter zu pflegen und die ständig wachsenden Ansprüche ihres Vaters zu befriedigen.
1972 starb Kay. Susannah war einundzwanzig. Während sie den Sarg ihrer Mutter in der Erde verschwinden sah, empfand sie tiefe Trauer – und die schreckliche Ahnung, mit Kays Tod würde gleichzeitig ihre eigene Jugend zu Ende gehen.
An einem sonnigen Apriltag 1976, zwei Monate vor ihrer geplanten Hochzeit mit Calvin Theroux, traf sie ihre Schwester Paige in einem kleinen, etwas vergammelten Restaurant. Das Lokal lag an einem Fischerpier, abseits von den Touristenschwärmen, die San Francisco zu jeder Jahreszeit überfielen. An diesem Tag war Susannah sehr beschäftigt. Aber sie wirkte weder gehetzt noch erschöpft. Ihr grünes Kostüm erweckte den Anschein, sie hätte es erst vor wenigen Minuten angezogen statt um sieben Uhr morgens. Schlichte goldene Clips schmückten ihre Ohren. Das kastanienrote Haar hatte sie zu einem Nackenknoten geschlungen. Für eine Fünfundzwanzigjährige war diese Frisur etwas zu streng.
Obwohl sich Paige um zehn Minuten verspätete, blieb Susannah gelassen. Sie betrachtete den Russian Hill in der Ferne und ging in Gedanken ihr Tagesprogramm durch.
Aus diesen Überlegungen wurde sie von Paiges Stimme gerissen. »Ich habe wahnsinnig viel zu tun. Deshalb darf unser Lunch nicht lange dauern.«
Susannah musterte ihre Schwester und bezwang ihren Ärger. Da sie Paiges Temperament kannte, wollte sie keinen Wutausbruch riskieren, bevor sie miteinander gesprochen hatten. Wehmütig erinnerte sie sich an die Kindheit, als sie Spielsachen und Schokoladekirschen in Paiges Zimmer geschmuggelt hatte, wenn das kleine Mädchen mit Stubenarrest bestraft worden war. Aber eines Tages hatte Paige ihrem Vater davon erzählt – und prompt auf weitere Liebesdienste verzichten müssen.
Warum ihre Schwester damals gepetzt hatte, verstand Susannah noch immer nicht. Nun musterte sie das Mädchen, das seinen Rucksack auf den Boden warf und sich an den Tisch setzte. Sogar in abgetragenen Jeans und einem fadenscheinigen mexikanischen Baumwolltop sah Paige zauberhaft aus. Sie besaß eine zierliche Nase, volle Lippen, von Kay geerbt, Joels blaue Augen und lange, üppige blonde Locken, die dauernd so aussahen, als hätte sie ein junger Mann soeben in wilder Liebeslust zerzaust.
Zweiundzwanzig Jahre alt, war sie das genaue Gegenteil ihrer altmodischen Schwester – tough und cool, mit dem Slang eines Hafenarbeiters und einem scheinbar grenzenlosen Selbstbewusstsein. Susannah ignorierte die vertrauten Neidgefühle, die Paige stets in ihr weckte, und zeigte auf die Speisekarte. »Probier die Meeresschnecken, die schmecken wirklich wundervoll. Oder vielleicht magst du Avocados, mit Krabben gefüllt?«
»Nein, ich nehme einen Hamburger«, erwiderte Paige desinteressiert.
Susannah bestellte Mahi-Mahi, ein Fischgericht, das sie auf ihren häufigen Reisen mit Joel nach Hawaii schätzen gelernt hatte. Als der Kellner davonging, schnitt sie das Thema an, das bei diesem Lunch erörtert werden sollte. »Hast du über unser letztes Telefongespräch nachgedacht? Heute Abend findet Vaters Geburtstagsparty statt. Er wird achtundfünfzig Jahre alt. Sicher würde er sich freuen, wenn du kommst.«
»Hat King Joel das gesagt?«
»Das musste er nicht betonen, ich weiß es«, log Susannah, eifrig bestrebt, die Entfremdung zwischen ihrem Vater und seiner jüngeren Tochter zu beenden. Im Augenblick wohnte ihre Schwester mit einem Möchtegernrocksänger namens Conti Dove in einem schäbigen Einzimmerapartment.
Ungeduldig strich Paige ihr Haar aus dem Gesicht. »Hast du’s niemals satt, die gute Fee zu spielen? Verpiss dich, okay?«
Susannahs Miene verriet nicht, wie sehr sie die vulgären Wörter hasste, die da aus dem schönen Mund ihrer Schwester platzten. Andererseits dachte sie, wie aufregend es doch wäre, könnte sie nur ein einziges Mal mit jemandem so reden. Wie musste es sein, wenn man sich solche Freiheiten erlaubte – wenn das Leben wie die leere Leinwand eines Malers vor einem lag und ohne irgendwelche Forderungen auf kühne Pinselstriche wartete?
»Immerhin ist er dein Vater«, gab sie zu bedenken. »Und ihr seid lange genug verkracht.«
»Genau zweiundzwanzig Jahre.«
»Das meine ich nicht, sondern den Zeitpunkt, zu dem du so überstürzt von zu Hause ausgezogen bist.«
»Moment mal, ich bin keineswegs ausgezogen. Seine Hoheit hat mich rausgeschmissen. Nicht, dass ich deshalb unglücklich gewesen wäre! Also erspar dir deinen teilnahmsvollen Blick. Diesem Mausoleum zu entfliehen war das Beste, was mir passieren konnte!«
Paige nahm eine Zigarette aus der Packung, die sie auf den Tisch geworfen hatte, und zündete sie mit einem billigen Plastikfeuerzeug an. Ostentativ schaute Susannah weg. Zigaretten hatten ihre Mutter umgebracht. Und sie ertrug es nicht, wenn sie ihre Schwester rauchen sah.
»Schlag doch Wurzeln in Falcon Hill, wenn du’s unbedingt willst. Spiel die Queen in Daddy Kings Schloss, bediene ihn von vorn und hinten, gib Geburtstagspartys für ihn und lass dich ruhig mit der Scheiße bewerfen, die er so großzügig austeilt. Aber das ist nicht meine Welt.«
Allerdings nicht, dachte Susannah. Innerhalb von achtzehn Monaten hatte Paige ihr College-Studium geschmissen und eine Abtreibung vornehmen lassen. Schließlich hatte Joel die Geduld verloren und ihr erklärt, sie sei daheim nicht mehr willkommen, bis sie sich wie ein verantwortungsbewusster erwachsener Mensch benehmen würde.
Der Kellner servierte das Essen – Mahi-Mahi vom Grill für Susannah, einen Hamburger mit Pommes frites für Paige, die heißhungrig hineinbiss. Während sie kaute, weigerte sie sich, die Hollandaise auf dem Fisch zu betrachten und sich vorzustellen, wie köstlich das alles schmecken würde. Seit ihr der Vater die Tür gewiesen hatte, aß sie nichts Exotischeres als Anchovis-Pizza. Der soeben verschluckte Hamburgerbissen lag ihr schwer im Magen. Der rebellierte allerdings jedes Mal, wenn sie an ihr bisheriges Leben dachte. Wütend und verbittert war sie im Schatten einer perfekten älteren Schwester aufgewachsen – einer Außenseiterin, die sie aus dem Herzen ihres Vaters verdrängt hatte. Damals war sie zu klein und unbedarft gewesen, um auf ihre angestammten Rechte zu pochen.
Mit schmalen Augen beobachtete sie, wie anmutig Susannah ihre Gabel zum Mund führte. Allmählich glich ihre Schwester den Porträts aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sie im Kunstunterricht studiert hatte, bevor sie aus dem College geflüchtet war – lauter dünne, saft- und kraftlose Frauen, die ihr Leben auf Chaiselongues verbrachten, nachdem sie Kinder mit blauen Lippen geboren hatten. Welch ein täuschendes Bild, sagte sich Paige grimmig. Denn Susannah verfügte offenbar über unerschöpfliche Energien, die sie hauptsächlich nutzte, um gute Werke zu vollbringen. Zum Beispiel wollte sie ihre jüngere Schwester vor der lasterhaften Rock-’n’-Roll-Szene und sexuellen Ausschweifungen retten.
Nur mühsam widerstand Paige der Versuchung, über den Tisch hinwegzugreifen, das stets makellos frisierte kastanienrote Haar zu zerwühlen und das teuere Kostüm zu zerreißen. Wenn Susannah nur ein einziges Mal schreien oder fluchen würde, wäre sie zu ertragen. Aber sie verlor niemals die Beherrschung. Ununterbrochen ruhig und gelassen, Daddys ideale Tochter, drückte sie sich stets gewählt aus, beging keine Fehler, und jetzt krönte sie ihre Leistungen, indem sie genau den richtigen Mann heiraten würde – Mr. Calvin Theroux, diesen aufgeblasenen Lahmarsch.
Sicher war sie noch Jungfrau. Daran zweifelte Paige keine Sekunde lang. Und das mit fünfundzwanzig Jahren! Welch ein Witz! Sie malte sich aus, wie die Braut und der Bräutigam in der Hochzeitsnacht unter die Bettdecke kriechen würden. Mit seinem salbungsvollen Lächeln würde Cal Theroux das Nachthemd seiner Angetrauten bis zu den Oberschenkeln hochschieben. »Verzeih mir, Darling, es wird nur ein paar Sekunden dauern.«
Und Susannah würde ihre Lesebrille und die neueste Ausgabe von Town and Country vom Nachttisch nehmen und mit ihrer sanften, kultivierten Stimme antworten: »Natürlich, mein Lieber. Klopf einfach auf meine Schulter, wenn du fertig bist.«
Susannah bemerkte das zynische Lächeln ihrer Schwester. Aber sie beschloss, es zu ignorieren. »Um acht fängt Vaters Party an. Wir erwarten alle seine alten Freunde. Natürlich werden sie es seltsam finden, wenn du nicht erscheinst.«
»Verdammt, lass mich doch in Ruhe!«, fauchte Paige.
»Bitte ...«
»Hör mal, du bist nicht meine Mutter. Also führ dich nicht so auf.«
Susannah zögerte. »Gewiss, du vermisst sie, und ich wollte nicht an dir herumnörgeln ...«
»Glaub mir, Daddy wird’s gar nicht merken, dass ich durch Abwesenheit glänze.« Paige warf ihren halb gegessenen Hamburger auf den Teller. »Jetzt muss ich gehen. Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.« Sie zog ihren Rucksack unter dem Tisch hervor, sprang auf und durchquerte das Restaurant. Mir ihren langen blonden Locken und den hautengen Jeans erweckte sie lebhaftes Interesse bei den zumeist männlichen Gästen. Bevor sie zur Tür hinausstürmte, schenkte sie ihnen ein rasches, verführerisches Lächeln.
Bedrückt schaute Susanah ihr nach und wünschte zum tausendsten Mal, sie würden einander verstehen und lieben wie normale Schwestern. Wie wundervoll wäre es, jemanden zu haben, dem man sich anvertrauen und mit dem man herumalbern könnte ...
Aber Susannah war niemals albern. Ihr Alltag erforderte ernsthaftes Verantwortungsgefühl. Während sie die Rechnung beglich, entsann sie sich, wie oft sie Paige und ihre Freundinnen kichern gehört hatte. Wieder einmal beneidete sie ihre rebellische Schwester.
»Hoffentlich waren Sie zufrieden, Miss Faulconer?«
»Oh, das Essen war ausgezeichnet. Wie immer, Paul. Danke.« Susannah steckte ihre Kreditkarte in die Geldbörse und stand auf. Mit gemessenen Schritten, anmutig und haltungsbewusst, ging sie zur Tür. Welch ein Unterschied zu dem kleinen Mädchen, das einst von tanzenden Luftballons verzaubert worden war und die verschlossene Tür seines Lebens geöffnet hatte, um – für ein paar kostbare Sekunden – frei und ungehindert eine Straße entlangzulaufen ...