23
Susannah stürmte in die Nacht hinaus. Nur flüchtig erinnerte sie sich an den Autoschlüssel, den sie Paige gegeben hatte. Deshalb besann sie sich nicht anders. Sie würde halt laufen. Nie wieder würde sie einen Fuß in dieses Haus setzen.
Als sie an einem Gebüsch vorbeihetzte, sah sie ihren BMW nach wie vor in der Zufahrt parken. Paige saß am Steuer und lauerte wie ein Aasgeier, um die Knochen aus der toten Seele ihrer Schwester zu picken. Nein, das würde Susannah nicht ertragen. Kannte diese Frau denn keinen Funken Mitleid?
Hinter ihr flog die Haustür auf. »Suzie!«
Schaudernd hörte sie Sams Stimme – genauso wie an jenem Tag, wo er sie ihrem Vater entrissen hatte. Sie strauchelte, richtete sich auf und stolperte schwankend weiter. Da rief er noch einmal nach ihr, und sie sah, wie sich Paige zur Seite neigte und die Beifahrertür öffnete.
»Suzie!«, schrie er.
Zweifellos ist Paiges Schadeufreude das geringere Übel ... Sie erreichte den Wagen, warf ihr Gepäck auf den Rücksitz und sprang auf den Beifahrersitz. Während Paige hastig schaltete, erreichte Sam den BMW. Durch das Seitenfenster sah Susannah sein verkniffenes Gesicht, bevor sie im Rückwärtsgang die Zufahrt hinabrasten.
Sie kannte seine unbeugsame Willenskraft. Angstvoll wartete sie ab, ob er zu seinem Auto laufen und die Verfolgung aufnehmen würde. Stattdessen stand er reglos im Scheinwerferlicht. Absurde Dankbarkeit stieg in ihr auf. Wenigstens ersparte er ihr weitere verletzende Konfrontationen. Dann erinnerte sie sich jedoch an Mindy und erriet, dass er sie nicht aus Mitleid oder gar schlechtem Gewissen davonfahren ließ, sondern weil er dem Mädchen seinen Wagen geliehen hatte.
Mit quietschenden Reifen schlitterte der BMW auf die Straße, dann raste er zum Highway hinab. Manchmal schien Paige die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Würden sie vielleicht sterben? Susannah fand diese Aussicht gar nicht so schrecklich.
Irgendwann erreichten sie die Autobahn. Susannah schluchzte leise. Nach dem brutalen Schlag brannte ihre Wange heftig. Heiße Tränen füllten ihre Augen. Immer wieder rannen Schauer durch ihren Körper.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, bevor sie endlich hielten. Halb betäubt hob sie den Kopf und sah den Flughafen. Paige ging um die Motorhaube herum und öffnete die Beifahrertür. »Steig aus.«
»Nein, ich kann nicht ... Bitte, Paige ...«
Energisch packte ihre Schwester sie am Arm. »Jetzt wirst du ausnahmsweise tun, was ich sage.«
Erfolglos versuchte Susannah, sie wegzustoßen. Ihren Gliedern fehlte jede Kraft, und Paige zog sie aus dem Wagen.
Trotz der späten Stunde tummelten sich zahlreiche Leute auf dem Flughafengelände. Erschrocken merkte Susannah, was ihre Schwester plante. Vor aller Augen wird sie mich da hineinschleifen ... Und ich kann sie nicht daran hindern ...
Doch sie irrte sich. Ihre Schwester führte sie in einen privaten Warteraum und brachte ihr eine Tasse Kaffee. Sofort rebellierte Susannahs Magen gegen den intensiven Geruch, und sie schob die Tasse beiseite.
Paige durchsuchte Susannahs Gepäck. Schon nach wenigen Sekunden nahm sie den Reisepass heraus, den Susannah stets in einem Seitenfach verwahrte, und steckte ihn in ihre eigene Handtasche. Dann eilte sie zu einem Telefon. Nachdem sie mehrere Gespräche geführt hatte, kehrte sie zurück.
»In einer Stunde startet eine British-Airways-Maschine nach Heathrow. Ich habe Plätze für uns gebucht. Von London aus geht’s nach Athen.«
»Athen?«, wiederholte Susannah tonlos. »Unmöglich, ich kann nicht nach Griechenland fliegen – ich habe einen Job.«
»Den wirst du nach ein paar Wochen Urlaub nicht verlieren. Ich habe ein Haus auf Naxos.« Zum ersten Mal zögerte Paige. »Dort ist es wunderschön, die Sonne heiß, alles weiß und sauber ...« Plötzlich zog sie einen Schmollmund, als wäre es ihr egal, ob Susannah das Angebot annehmen würde oder nicht.
Seufzend berührte Susannah ihre schmerzende Wange. »Glaub mir, ich kann nicht weg. Immerhin bin ich mitverantwortlich für SysVal.« Noch während sie die Worte hervorzwang, konnte sie sich nicht vorstellen, am Montag zu arbeiten – und Sam wiederzusehen.
Paige starrte blicklos vor sich hin und zupfte an einer seidenen, mit Perlen besetzten Blume am Rock ihres Abendkleids. »Da habe ich diese Katzen. Die sind wahnsinnig albern. Wirklich. Kein Stammbaum oder so was. Aber ich will sie dir zeigen.«
Aus ihrer Stimme klang eine seltsame Mischung von Kampflust und Sehnsucht heraus. Unentwegt spielte sie mit den Perlen auf ihrem Rock. Susannah versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah, doch die Seelenqualen benebelten ihr Gehirn. Und plötzlich fand sie es sehr vernünftig, um die halbe Welt zu reisen und Paiges Katzen zu begutachten. Wenigstens musste sie am Montag nicht in die Firma gehen.
Wie von einer Riesenfaust hinabgeschleudert, lagen die felsigen Kykladeninseln auf dem türkisblauen Wasser der Ägäis verstreut. Der Geburtsort antiker Mythen und Legenden, war die Inselgruppe ein Mekka für alle Liebhaber des griechischen Altertums. Angeblich war der Geist des Narkissos auf Mykonos zu neuem Leben erweckt worden, Tyra hielt man für den verlorenen Kontinent Atlantis. Nach Naxos war Ariadne geflohen, nachdem sie Theseus aus dem Labyrinth ihres Vaters, König Minos, gerettet hatte.
Schon mehrmals hatte Susannah griechische Inseln besucht, war aber noch nie auf Naxos gewesen. Während der verbeulte Jeep vom staubigen Rollfeld landeinwärts fuhr, hing eine weiß glühende Sonne am ausgebleichten Himmel. Die beiden Schwestern hatten das Touristenzentrum Chora mit seinen Diskotheken und Coca-Cola-Schildern weit hinter sich gelassen. Nun durchquerten sie das Herz der Insel. Nur vage nahm Susannah die atemberaubenden Kontraste ringsum wahr – die nackte Mondlandschaft felsiger Hügel, deren Silhouetten sich vom leuchtenden Blaugrün des Meeres abhoben. Zwischen terrassenförmigen Weingärten und Olivenhainen hockten gedrungene Windmühlen. Unheilvoll knirschten die Gänge des alten Jeeps auf den steilen gewundenen Bergstraßen. An manchen Stellen waren sie so schmal, dass der Fahrer manchmal warten musste, um einen Esel vorbeizulassen. Seite an Seite hätten das Tier und das Fahrzeug keinen Platz gefunden.
Susannahs Augen brannten wie Schmirgelpapier auf zersplittertem Holz. Vor Erschöpfung schmerzte ihr ganzer Körper. Es schien ihr, als ob die Reise schon eine halbe Ewigkeit dauerte. Sie wusste nicht mehr, welcher Tag heute war. Und sie erinnerte sich nicht, warum sie dieser endlosen Tour zugestimmt hatte.
Schweigend saß Paige neben ihr. Das grelle Licht der späten Nachmittagssonne verwandelte ihr zerzaustes Haar in stumpfes Silber. In ihrem zerknitterten schmutzigen Abendkleid sah sie schön und verlebt aus, wie eine heruntergekommene Kokotte, aus einem Fitzgerald-Roman übrig geblieben. Um alles hatte sie sich gekümmert – Reisepässe und Tickets, die Verzögerung in Heathrow, die komplizierten Arrangements des Weiterflugs von London nach Naxos – um all die Einzelheiten einer langwierigen Reise, lauter Dinge, die ihre Schwester normalerweise so fachkundig erledigte. Und die ganze Zeit hatte Susannah kein einziges Wort mit ihr gesprochen.
Erst am Abend erreichten sie den Bungalow auf der Ostseite der Insel. Im Halbschlaf stolperte Susannah in das Zimmer, das Paige ihr zeigte, hörte das Rauschen des Meeres, roch den sauberen Lavendelduft ihrer Laken und schlief sofort ein. Als sie am nächsten Vormittag erwachte, sickerten Sonnenstrahlen durch geschlossene Jalousien und warfen funkelnde Bindestriche auf weiße Stuckwände. Auf dem Weg ins winzige Bad fühlte sich ihr Körper schwer und wund an. Sie duschte und schlüpfte dann in Shorts aus gestreiftem Leinen und ein hellblaues Top mit Nackenband. Beides hatte sie am Fußende ihres Betts gefunden.
Unsicher betrat sie den rustikalen Hauptraum des Bungalows, eine Wohnküche, wo ihr das blendende Sonnenlicht voll ins Gesicht schien. Ein stechender Schmerz durchdrang ihre Schläfe. Sie ging zum offenen Fenster und stellte fest, wie bedrohlich das weiße Häuschen auf einem kahlen Steilhang stand, der zum Meer hin abfiel. Trotz mehrerer Ferienwochen früher einmal in der Ägäis hatte sie die juwelenfarbenen Wassertiefen vergessen. Wie ein bodenloses Becken voller azurfarbener Tränen breitete sich der Ozean aus.
Wieder zur Küche gewandt, versuchte sie der schlichten Umgebung ein Gefühl inneren Friedens zu entlocken. Auf dem blank gescheuerten Holztisch stand eine Keramikschüssel mit Pfirsichen, auf einem Fensterbrett trank ein Geranientopf den Sonnenschein. Die Fensterrahmen, die Läden und die Tür waren im gleichen Himmelblau gestrichen wie die Ägäis und die dicken Stuckmauern erweckten den Eindruck, sie wären eben erst getüncht worden. War sie in eine Welt geraten, wo nur drei Farben existierten? Das dumpfe Graubraun des kahlen Berghangs, das grelle Weiß des Stucks und sowohl das Blau des Himmels als auch das üppige Azurblau des Meeres, der Fensterläden und der Türe ... Eine rundliche Tigerkatze tappte über den Fliesenboden und rieb sich an ihren Fußknöcheln.
»Darf ich dir Rudy vorstellen?«, fragte Paige und kam durch die Außentür ins Zimmer. »Misha hält gerade auf der Terrasse ein Schläfchen.«
Zu einem ausgebleichten Wickel-Top trug sie abgeschnittene Jeans, so fadenscheinig, dass an einigen Stellen die Haut durchschimmerte. Sie war barfuß und völlig ungeschminkt. Ihr Haar hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengeschlungen. Trotzdem war sie bildschön.
Unglaublich, dachte Susannah. Nun hatte sie sich doch tatsächlich in eine Position gebracht, in der sie von ihrer Schwester abhängig war. Sie musste weg von hier. So bald wie möglich.
»Du siehst beschissen aus«, meinte Paige, nahm ein blauweiß gestreiftes Geschirrtuch von einem Haken neben der steinernen Spüle und benutzte es, um einen duftenden Brotlaib aus dem Backofen zu nehmen. »Geh auf die Terrasse und leiste Misha Gesellschaft. Der Tisch ist gedeckt, das Frühstück fast fertig.«
»Darum hättest du dich nicht bemühen sollen«, erwiderte Susannah kühl. »Ich habe einen Fehler gemacht. Natürlich muss ich sofort zurückfliegen.«
Paige stellte einen beschlagenen Krug mit Fruchtsaft und zwei blaue Glaskelche auf ein Tablett. »Trag das raus. In ein paar Minuten komme ich nach.«
Vorerst war es einfacher zu gehorchen, statt zu streiten. Susannah betrat die Terrasse, die mit glatten braunen Kieseln gepflastert war. Blinzelnd wartete sie, bis sich ihre Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, an den überwältigenden Anblick des Meeres und des Himmels. Die netzartigen Zweige mehrerer Jasminbäume am anderen Ende der Terrasse schützten einen Tisch aus altem Olivenholz, der mit handgewebten Sets, Keramiktellern und schlichtem Besteck gedeckt war, vor der Hitze. Zu beiden Seiten standen hölzerne Stühle, dicke blaue Kissen lagen auf Sitzflächen aus Schilfgeflecht. Blumen quollen aus runden Tontöpfen. Und ein alter steinerner Löwenkopf spendete einem schlafenden Kater ein bisschen Schatten.
Als Susannah das Tablett auf den Tisch stellte, hob der Kater den Kopf. Dann streckte er sich gähnend und schlief wieder ein. Paige servierte das Frühstück – Kaffeetassen, weich gekochte Eier in ihren gefleckten braunen Schalen, eine Majolika-Platte voller Melonenspalten, wie Sonnenstrahlen angeordnet. Nachdem sie sich gesetzt hatte, schnitt sie das Brot, das sie soeben gebacken hatte, in dicke Scheiben und bestrich eine mit Butter.
Die hellgelbe Butter begann zu winzigen bernsteinfarbenen Pfützen zu zerschmelzen, als sie das Brot auf den Teller ihrer Schwester legte.
»Tut mir Leid.« Susannah schüttelte den Kopf. »Aber ich habe wirklich keinen Appetit.«
»Versuch’s wenigstens.«
Susannah erinnerte sich nicht, wann sie zuletzt gegessen hatte – an Bord des Flugzeugs sicher nicht. Und auf der Party auch nicht. Als ihr warmer, frischer Hefegeruch in die Nase stieg, knurrte ihr Magen. Sie ergriff das Brot und biss hinein. Immerhin lenkte sie die schlichte Tätigkeit ihrer Kaumuskeln vorübergehend von dem Seelenschmerz ab, der nicht verebben wollte. Sie nippte an frisch gepresstem Orangensaft und verspeiste eine halbe Melonenspalte. Dann rebellierte ihr Magen. Eine Kaffeetasse zwischen den Händen, starrte sie zum Meer hinab.
Nach der Mahlzeit verstärkte sich die unbehagliche Stimmung zwischen den Schwestern. Früher hätte Susannah die angespannte Atmosphäre mit sinnlosem Geschwätz gelockert. Doch sie sparte sich die Mühe, weil sie nicht mehr an einer besseren Beziehung zu Paige interessiert war. Mittlerweile war die Illusion von geschwisterlicher Liebe ebenso gestorben wie gewisse andere Gefühle.
Paige erzählte, wie sie den Bungalow gekauft hatte und wie er renoviert worden war. Dann holte sie eine San-Francisco-Giants-Baseballkappe für sich selbst und einen Strohhut für ihre Schwester. Sie würden zum Strand hinuntergehen, entschied sie, und Susannah folgte ihr, weil ihr einfach die Kraft fehlte, irgendetwas anderes zu unternehmen.
An der Seite des Hauses fielen die Klippen nicht so steil zum Meer hin ab wie von der Terrasse aus. Trotzdem fand Susannah den Abstieg beschwerlich. Paige wanderte über Felsen und heißen Sand hinweg zum Ufer und tauchte ihre nackten Zehen ins Wasser. »Beim Frühstück warst du ziemlich einsilbig. Wie hat dir mein selbst gebackenes Brot geschmeckt?«
»Ausgezeichnet«, antwortete Susannah höflich. Was habe ich falsch gemacht, klagte eine innere Stimme. Warum ist Sam zu anderen Frauen gegangen?
»Ich koche sehr gern«, erklärte Paige und ließ ihre Füße von einer Welle überspülen.
Nun entstand eine längere Pause, bis Susannah merkte, dass sie irgendetwas sagen müsste. »Wirklich? Offen gestanden, ich hasse es.«
Paige warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Wenn unsere Köchin ihren freien Tag hatte, bist du immer für sie eingesprungen.«
»Wer sollte es denn damals sonst machen?«
»Vielleicht ich.« Paige bückte sich und hob einen kleinen Stein auf.
»Ja – vielleicht«, erwiderte Susannah bitter. »Oder du hättest mich zur Hölle geschickt, wenn ich auf solche Ideen gekommen wäre.«
Zum ersten Mal in ihrem Leben warf sie ihrer Schwester den Fehdehandschuh hin, statt einen Angriff abzuwehren. Aber Paige reagierte nicht darauf. Stattdessen nahm sie die Baseballkappe ab und ließ sie in den Sand fallen.
Susannah schaute zum Bungalow hinauf, der meilenweit entfernt schien. »Jetzt gehe ich wieder hinauf. Ich muss ein bisschen schlafen. Und danach werde ich meine Rückreise organisieren.«
»Noch nicht.« Paige öffnete den Reißverschluss ihrer abgeschnittenen Jeans. »Erst schwimmen wir.«
»Dafür bin ich viel zu müde.«
»Sicher wird’s dir gut tun«, meinte Paige, schlüpfte aus den Jeans und enthüllte ein weißes Spitzenhöschen, das sie mit den Daumen nach unten streifte. Dann löste sie den Knoten des Wickel-Tops. »Das ist mein eigener Nacktbadestrand. Hier kommt niemand her.«
Während sie sich auszog, musterte Susannah ihren Körper. Paiges Busen war größer als ihr eigener, die Taille schmal, der Bauch flach, die Haut nahtlos gebräunt. Sicher würde Sam Gefallen an ihrer Figur finden, denn er mochte üppige Brüste.
»Komm schon!«, rief Paige und tänzelte im Rückwärtsgang den Wellen entgegen. »Oder bist du zu feige?« Mit beiden Händen wirbelte sie kurz darauf das Wasser auf und sandte eine schimmernde Tropfenfontäne zu ihrer Schwester.
Plötzlich wurde Susannah von verzweifelter Sehnsucht erfasst. Sie wollte vergessen, was sie erlitten hatte, jung und sorglos sein, in den Wellen plantschen wie Paige. Wie gern würde sie die Kindheit nachholen, die ihr verwehrt worden war, und einen Ort aufsuchen, wo es keinen Betrug gab. Stattdessen schüttelte sie den Kopf und stieg den Hang zum Bungalow hinauf.
Am Nachmittag fuhr Paige auf einem klapprigen Moped zum Dorf, während Susannah im Schatten der Jasminbäume lag und sich mit bitteren Selbstvorwürfen bestrafte. Hätte sie bloß mehr Mahlzeiten für Sam gekocht und seine Begeisterung für das hässliche Haus geteilt ...
Nicht einmal die griechische Sonne konnte die Kälte aus ihrem Herzen vertreiben. Hatte sie in diesen letzten sechs Jahren denn gar nichts gelernt? Warum nahm sie die Schuld an den ehelichen Problemen automatisch auf sich? Sam hatte sie schon seit langer Zeit missachtet. Und das bewies er nicht nur durch seine Untreue. Alles, was sie tat, bemängelte er. Wann immer sie seinen überzogenen Ansprüchen nicht genügte, kritisierte er sie. Er spottete über ihren Kinderwunsch, ignorierte ihre Versuche, die Ehe zu retten. Wie ein kleiner Junge erwartete er von ihr, die Probleme zu lösen, die er selber heraufbeschwor. Seine schlechte Laune, seine Arroganz, seine kleinen Grausamkeiten hatte sie hingenommen. Aber wenn sie auch noch seine Seitensprünge duldete, würde er sie vollends vereinnahmen.
Sie aßen früh zu Abend und zogen sich bald nach Einbruch der Dunkelheit in ihre Schlafzimmer zurück. Am nächsten Morgen beschloss Susannah, die Rückreise nach Kalifornien zu arrangieren. Doch stattdessen döste sie auf der Terrasse. Ein Tag ging in den nächsten über. Pünktlich kümmerte sich Paige um die Mahlzeiten, und sie bestand darauf, dass Susannah jeden Morgen mit ihr zum Strand hinunterging. Ansonsten ließ sie ihre Schwester in Ruhe. Am Wochenende beschaffte sie ein zweites Moped und forderte sie auf, mit ihr ins Dorf zu fahren und einzukaufen. Susannah protestierte, gab sich aber schließlich geschlagen, weil Paige energisch auf ihrem Willen beharrte.
Unterwegs hielten sie in einem schönen alten Olivenhain, der seit Jahrhunderten Früchte trug. Während sie schweigend zwischen den Bäumen dahinwanderten, atmete Susannah den frischen Duft der Erde, des Wachsens und Werdens ein. Unglücklich strich sie über ihre schlanke Taille, den flachen Bauch, in dem nichts gedieh, und unter ihren Lidern brannten Tränen. Niemals würde sie ein Baby empfangen.
Nach einer Weile blieb sie unter einem knorrigen alten Olivenbaum stehen, starrte in die Ferne, und Paige setzte sich in den Schatten. So still war der Nachmittag. Beinahe glaubte Susannah, sie hätte das Ende der Welt erreicht. Wenn sie die richtige Stelle entdeckte – vielleicht könnte sie in den Abgrund springen.
Nach all den fast wortlosen Tagen brach es aus ihr heraus. »Was er trieb, habe ich nicht einmal geahnt. Natürlich wusste ich, dass es Probleme in unserer Ehe gab. Aber ich glaubte, der Sex wäre okay.«
»Wahrscheinlich war er das auch.«
Susannah wandte sich zu ihrer Schwester. »Wohl kaum, sonst hätte er mich nicht betrogen.«
»Bist du wirklich so naiv? Manche Leute glauben, sie würden das Leben verpassen, wenn sie nicht mit der halben Welt schlafen.« Paiges Gesicht nahm einen harten, verschlossenen Ausdruck an.
»Aber er liebt mich!«, stieß Susannah hervor. »Trotz allem, was er sagt und tut – er liebt mich.«
»Und du?«
»Natürlich liebe ich ihn ebenso!«, rief sie, wütend über die Frage. »Alles habe ich für ihn aufgegeben. Also muss ich ihn lieben!« Als sie die Bedeutung ihrer Worte erkannte, stockte ihr Atem. Was sagte sie da? Liebte sie Sam tatsächlich? Oder war sie nach wie vor in einer alten, abgenutzten Faszination gefangen?
»Was die Liebe betrifft, bin ich keine Expertin«, gestand Paige zögernd. »Jedenfalls nehme ich an – es gibt verschiedene Arten. Gute und schlechte.«
»Wie erkennst du den Unterschied?«
»Nun, die gute Liebe beglückt dich, die schlechte nicht.«
»Dann verband mich eine gute Liebe mit Sam, denn er machte mich glücklich.«
»War das sein Werk? Oder eher deines?«
»Das verstehst du nicht. Daddy wünschte sich eine perfekte Tochter, und Sam erklärte mir, ich müsste stark und frei sein. Ich hörte ihm zu, Paige. Und ich glaubte ihm.«
»Was ist geschehen?«
»Ein Wunder. Ich fand heraus, dass Sams Vision vom Leben genau richtig für mich war. Da passte alles zusammen.«
»Also war er sicher zufrieden.« In Paiges Stimme schwang Zynismus.
»Nein ...« In Susannahs Augen brannten Tränen, und sie blinzelte heftig. »Im Grunde seines Herzens mochte er die alte Susannah Faulconer, und er wollte mich gar nicht ändern.«
»Mir gefällt die neue Susannah.«
Die Stimme klang ungewöhnlich sanft, durchdrang Susannahs Verzweiflung, und als sie Paige anschaute, glaubte sie, ihre Schwester zum ersten Mal zu sehen. Vor dem Sonnenlicht wirkte Paiges Profil weich und engelsgleich. »Habe ich dich in unserer Kindheit sehr unfreundlich behandelt?«
»Nein.« Paige pflückte einen Grashalm. »Ganz im Gegenteil, du warst großartig. Ich wünschte, du wärst ekelhaft zu mir gewesen. Dann hätte ich mein eigenes grässliches Benehmen rechtfertigen können.«
In Susannahs Brust breitete sich eine Wärme aus, die sie an das selbst gebackene Brot ihrer Schwester erinnerte. Und die bedrückende Kälte, die nicht weichen wollte, taute ein wenig auf.
»Seit deiner geplatzten Hochzeit dachte ich, Daddy würde mich lieben, wenn du nicht mehr da wärst«, fuhr Paige fort. »Doch dazu rang er sich nicht durch. Nicht wirklich. Du hast ihm alles bedeutet. Und nachdem du weggegangen warst, ließ er mich die ganze Zeit spüren, ich könnte dir niemals das Wasser reichen. Ironischerweise gelang mir vieles viel besser als dir – ich kochte abwechslungsreicher, das Haus war gemütlicher. Aber das bemerkte er gar nicht. Umso schärfer wies er mich auf meine Fehler hin.«
Wie schmerzlich musste sie gelitten haben ... Susannahs Herz krampfte sich zusammen. »So, wie du hier für mich sorgst, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass du irgendwas falsch gemacht hast.«
Das Kompliment schien Paige nicht zu beeindrucken. »Schau dir mal meine Finanzen und meine Buchführung an. Ich bin total desorganisiert. Alles, was mit FBT-Geschäften zusammenhängt, hasse ich aus tiefster Seele. Daddy hätte mir die Firma niemals vererben dürfen. Keine Ahnung, was ich ohne Cal getan hätte ...«
Unangenehm berührt, senkte Susannah den Kopf.
»Er war mein guter Freund«, versicherte Paige ernsthaft. »Und du hast ihn wirklich gedemütigt.«
»Das weiß ich. Und es interessiert die selbstsüchtige Seite meines Wesens kein bisschen. Ist das nicht schrecklich? Ich bin so froh, weil mir eine Ehe mit Cal erspart blieb. Selbst wenn ich mich mein Leben lang schuldig fühlen würde. Das nehme ich gern in Kauf.«
»Obwohl dich deine Trennung von Cal in Sam Gambles Ehebett geführt hat?«
Susannah betrachtete die gefleckten Schatten im Gras. Eigentlich hatte sich nichts an ihrer Situation geändert – aber der Schmerz schien ein wenig nachzulassen. »Dass Sam in mein Leben trat, werde ich niemals bedauern. Auf seltsame Weise hat er mich erschaffen, so wie den Blaze. Letzten Endes war das Bild, das er sich von mir machte, nicht das richtige für ihn – nur für mich.«
»Kehrst du zu ihm zurück?«
Jetzt verstärkte sich das Leid erneut. Susannah war eine Kämpferin. Und sie nahm ihr Ehegelübde nicht auf die leichte Schulter. In der tiefen Stille des Olivenwäldchens glaubte sie, ihre eigene Stimme zu hören, so deutlich wie am Hochzeitstag. Ich verspreche dir, mein Bestes für dich zu tun, Sam, was immer das sein mag ... Während die Worte in ihr widerhallten, erkannte sie, dass sie genau das getan hatte. Noch etwas wurde ihr klar – es war an der Zeit, für sich selbst zu kämpfen. »Nein«, flüsterte sie, »ich gehe nicht zurück.«
»Sehr gut«, sagte Paige leise. An diesem Abend backte sie einen Käsekuchen mit frischem Majoran und streute Pinienkerne über grüne Bohnen. Susannah genoss die köstliche Mahlzeit, die ihre Schwester zubereitet hatte, und begann, Frieden mit sich selbst zu schließen. Zwischen den Olivenbäumen war etwas Wichtiges geschehen. Vielleicht würde sie endlich beenden, was mit ihrer Flucht aus Falcon Hill angefangen hatte, und zu ihrem wahren Ich finden.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, führte Paige sie wieder zum Strand hinab und zog sich aus. »Diesmal gehst du ins Wasser. Keine Ausreden mehr!«
Susannah begann zu protestieren, dann verstummte sie. Wie lange wollte sie noch in ihrem Selbstmitleid schwelgen? Sie öffnete das Nackenband ihres Tops und schlüpfte aus der restlichen Kleidung.
»Meine Titten sind viel größer als deine«, hänselte Paige ihre Schwester, die in die Brandung watete.
»Und ich habe längere Beine«, konterte Susannah.
»Giraffenbeine.«
»Besser als Entenbeine.«
In der sonnenwarmen, sanften Brandung ging Susannah in die Knie, bis die Wellen ihre Schultern überspülten. Das Meer wirkte unendlich beruhigend. Zumindest für eine kleine Weile war sie wunschlos glücklich.
»Bei dieser Hitze darfst du nicht allzu lange im Wasser bleiben«, mahnte Paige und ließ sich auf dem Rücken treiben. »Du bist ein armseliges Bleichgesicht. Von anderen Körperteilen ganz zu schweigen.« Schäumend glitt eine Welle unter ihr hindurch. »Was essen wir heute Abend?«
Auch Susannah drehte sich auf den Rücken. »Wir haben eben erst gefrühstückt.«
»So was plane ich gern im Voraus. Wie wär’s mit Lamm? So ein Tomaten- und Gurkensalat, mit zerbröckeltem Feta. Gefüllte Auberginen ... Komm zurück, die Strömung trägt dich zu weit hinaus!«
Widerspruchslos gehorchte Susannah. An diesem Abend bereiteten sie das Essen gemeinsam vor. Paige öffnete eine Flasche Skeponi, einen regionalen Wein, und füllte zwei Gläser. Daran nippten sie beide, während sie arbeiteten. »Schneid die Gurke dünner, Susannah. Was du mir da zumutest sieht wie ein Eishockey-Puck aus.«
»Also wirklich, das macht mir keinen Spaß«, murrte Susannah, nachdem sie eine weitere Gurkenscheibe produziert hatte, die ihrer Schwester missfiel. »Warum kochst du nicht allein, und ich bringe inzwischen dein Scheckbuch in Ordnung?«
Lachend stimmte Paige zu. »Okay.«
Fünf Minuten später beschäftigten sich beide Schwestern mit demselben Enthusiasmus. Paige höhlte ein Aubergine aus und füllte sie mit Pinienkernen, Kräutern und Rosinen. Und Susannah machte sich mit ihrem Taschenrechner über das »Scheckbuch aus der Hölle« her, wie sie es nannte.
Als sie sich an den Tisch setzen wollten, knatterte ein Moped in die Zufahrt. Und Paige versteifte sich. Wenige Sekunden, nachdem das Geräusch verstummt war, klopfte es. Sichtlich widerstrebend öffnete Paige die Tür, und Susannah sah einen attraktiven jungen Griechen mit dichtem Kraushaar. Ihre Schwester trat hastig hinaus. Aber durch das offene Fenster drang ein Teil des Gesprächs herein.
»... heute im Dorf. Warum warst du nicht da?«
»Ich habe Besuch, Aristo. Wärst du bloß nicht hergekommen ...«
Die Diskussion dauerte noch ein paar Minuten, dann kehrte Paige in den Bungalow zurück, die Miene wieder hart und verschlossen. »Einer meiner zahllosen Liebhaber«, erklärte sie mit verkniffenen Lippen und trug die Servierplatten zum alten Küchentisch.
»Willst du drüber reden?«, fragte Susannah vorsichtig und holte die Weinflasche, um die Gläser noch einmal zu füllen.
»Was gibt’s da zu erzählen?«, fauchte Paige. »Im Gegensatz zu dir war ich niemals die reine Unschuld.«
Also war es wieder einmal Paige, die zuerst in die Offensive ging. Susannah stellte ihr Glas ab. »Wie lauten die neuen Grundregeln zwischen uns?«
»Keine Ahnung, was du meinst ...«
»Wärst du nicht gewesen, würde ich vermutlich zusammengekrümmt in irgendeiner Ecke liegen. Du hast so gut für mich gesorgt wie kein anderer Mensch in meinem ganzen Leben. Aber heißt das, wir kommen nur miteinander aus, wenn ich dich brauche? Nicht, wenn du mich brauchst?«
Paige spielte mit einer runzligen Olive in ihrem Salat. »Nun ja – ich kümmere mich sehr gern um andere Leute. Dazu hatte ich keine Chance ...«
»Jetzt hast du sie. Und ich will nicht drauf verzichten.« Beinahe brach Susannahs Stimme. »O Paige, ich fühle mich elend und am Boden zerstört. Und du hast mir Zuflucht gewährt. In einem solchen Ausmaß war ich nie zuvor auf Hilfe angewiesen. Wenn ich mir vorstelle, wie dringend ich dich jetzt brauche – das macht mir fast Angst.«
In Paiges Augen glänzten Tränen. »Und ich wollte immer so sein wie du.«
Susannah versuchte zu lächeln, doch das gelang ihr nicht ganz. »Und ich wollte so sein wie du – eine Rebellin, die der Welt den Stinkefinger zeigt.«
»Tolle Rebellin!«, spottete Paige. »So, wie ich jetzt lebe – das will ich nicht. Ich hab’s satt, dauernd um die Welt zu reisen und mit Männern zu schlafen, die ich verabscheue.«
»Warum tust du’s dann?«
»Das weiß ich nicht. Immer wieder hoffe ich, beim Sex wäre ich jemandem nahe. Leider funktioniert das nicht, und deshalb hasse ich mich selbst.«
Und dann erzählte ihre Schwester von dem Jungen, der sie vergewaltigt hatte, als sie sechzehn gewesen war. Sie sprach von Aristo, Luigi und Fabio, von der vielköpfigen Liebhaberschar, die sich an jedem ihrer Reiseziele wie ein Haufen verfaultes Obst um sie drängte. Auch den Filmemacher erwähnte sie, den sie zu lieben geglaubt hatte, die Abtreibung, die sie nicht vergessen konnte.
Danach schwiegen sie. Voller Wehmut dachte Susannah an die Rollen, die ihnen das Schicksal seit der Kindheit zugeteilt hatte. Paige die rebellische, sie selbst die gehorsame, konventionelle Tochter ... Und die ganze Zeit hätten sich die Ereignisse andersrum abspielen müssen. Irgendwie glichen sie zwei Schwestern, die ein höheres Wesen bei einer kosmischen Casting-Show vertauscht hatte.
Abrupt beendete Paige das Schweigen. »Ich bin halb verhungert.«
Inzwischen war das Essen kalt geworden. Trotzdem fielen sie darüber her, plötzlich leichten Herzens, inspiriert von dem engen Band, das zwischen ihnen entstanden war.
»Weißt du, was ich wirklich will?« Paige benutzte ihre Finger, um einen klebrigen Auberginenwürfel in den Mund zu stopfen. »Die ganze Welt möchte ich bemuttern, eine unheilige Version von Mutter Teresa.«
Obwohl Susannah geglaubt hatte, sie würde nie wieder lächeln, brach sie in schallendes Gelächter aus. Sie tranken noch mehr Wein, Paige erzählte ordinäre Witze, und sie spülten gemeinsam das Geschirr.
Dann stellte Paige eine kleine Lampe in die Mitte des Küchentischs und schenkte Susannah ihren alten trotzigen Blick. »Ich habe im Dorf was für uns gekauft. Wenn du wieder lachst, rede ich mein Leben lang kein Wort mehr mit dir.«
»Okay. Ich werde nicht lachen.«
»Versprichst du’s?«
»Klar.«
Immer noch zaudernd, nahm Paige ein billiges Malbuch und eine nagelneue Packung Crayola-Stifte aus einer Schublade.
Susannah schrie vor Lachen. »Was, du willst mit mir Bilder ausmalen?«
»Hast du ein Problem damit?« Schmollend schob Paige die Unterlippe vor.
»O nein, ich finde, das ist eine wunderbare Idee.« Ohne zu überlegen, was sie tat, nahm sie ihre Schwester in die Arme und presste sie so fest an sich, dass Paige hellauf quietschte.
Seite an Seite saßen die Faulconer-Schwestern am Tisch und beugten sich über das Malbuch. Susannah bearbeitete die linke Seite, Paige die rechte. Fantasievoll kolorierte Paige ihre karikierte Kuh in Rosa- und Rottönen, dann setzte sie ihr einen komischen überdimensionalen Hut auf. Ihr künstlerisches Auge missachtete großzügig die schwarzen Linien der Zeichnung, obwohl sich ihre häusliche Seele so inbrünstig nach starken, strengen Grenzen sehnte.
Umso gewissenhafter füllte Susannah die einzelnen Körperteile ihres weiblichen Schweins mit Farbe aus. In Malbüchern sind solche Richtlinien okay, stellte sie fest. Im wirklichen Leben nicht.
»Sei nicht so schlampig, Susannah«, mahnte Paige. »Dieser blaue Stift ist schon völlig stumpf. Wenn die Spitzen nicht ganz scharf sind, werde ich sauer.«
Weil Susannah das Leben lieber über die Grenzen der Konvention hinaustrieb und Wachsmalstifte nicht so wichtig fand, gab sie ihrer Schwester die scharf gespitzten und benutzte die Stummel selber.
Mit diesem Arrangement waren beide glücklich.