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Ich vertraue dieses Manuskript dem Weltall an, nicht in der Hoffnung, Beistand zu erlangen, sondern in dem Bemühen, dadurch die furchtbare Geißel zu bannen, die die Menschheit bedroht. Gott sei uns gnädig!
(»Die Menschheit?«, fragte Phyllis verwundert.
»So steht es hier«, bestätigte Jinn. »Unterbrich mich nicht gleich am Anfang.« Und er las weiter vor.)
Was mich, Ulysse Merou betrifft: Ich habe mit meiner Familie Zuflucht im Raumschiff gefunden. Unsere Ernährung ist auf Jahre hinaus gesichert: Wir züchten an Bord Gemüse, Obst und Geflügel. Es fehlt uns an nichts. Vielleicht finden wir eines Tages einen gastfreundlichen Planeten: eine Hoffnung, die ich kaum zu äußern wage. Hier folgt nun der wahrheitsgetreue Bericht meines Abenteuers.
Es war im Jahre 2500, als ich mit zwei Begleitern das Raumschiff bestieg. Der Zweck des Unternehmens bestand darin, jene Regionen des Alls zu erreichen, die der riesige Stern Beteigeuze beherrscht.
Es war ein ehrgeiziges Unterfangen, das ungeheuerlichste, das man sich auf der Erde jemals vorgenommen hatte. Der Beteigeuze, Stern Alpha des Orion, wie ihn unsere Astronomen nennen, ist ungefähr dreihundert Lichtjahre von unserem Planeten entfernt und aus mehreren Gründen bemerkenswert. Vor allem wegen seiner Größe: Sein Durchmesser beträgt das Drei- bis Vierhundertfache des Durchmessers unserer Sonne. Das heißt, dass dieser Himmelskörper, an die Stelle unserer Sonne versetzt, bis an die Umlaufbahn des Mars reichen würde. Weiter: Er ist ein Stern erster Größe, der hellste im Sternbild des Orion, von der Erde aus trotz der Entfernung mit bloßem Auge sichtbar. Er erstrahlt in rotem und orangefarbenem Feuer. Er ist außerdem ein Stern von wechselnder Helligkeit, was durch die Veränderungen seines Durchmessers bedingt ist. Denn der Beteigeuze ist ein pulsierender Stern.
Warum wurde, nachdem Forschungen ergeben hatten, dass die Planeten unseres Sonnensystems unbewohnt sind, ein derart weit entfernter Himmelskörper als Ziel ausgewählt? Es war Professor Antelle, der diese Entscheidung getroffen hatte. Als Hauptorganisator des Unternehmens, dem er sein gesamtes beträchtliches Vermögen geopfert hatte, und Leiter der Expedition hatte er das Raumschiff selbst entworfen und seinen Bau überwacht. Unterwegs teilte er mir den Grund für seine Wahl mit.
»Mein lieber Ulysse«, sagte er, »es ist nicht schwieriger und dauert kaum länger, den Beteigeuze zu erreichen, als einen bedeutend näheren Stern, den Proxima Centauri zum Beispiel.«
Hier hielt ich es für angebracht, zu protestieren und mit meinen neuerworbenen astronomischen Kenntnissen zu glänzen. »Kaum länger! Der Proxima Centauri ist doch nur etwas über vier Lichtjahre entfernt, der Beteigeuze dagegen …«
»Dreihundert, ich weiß. Dennoch werden wir nicht viel länger als zwei Jahre benötigen, um dort hinzugelangen. Sie nehmen das Gegenteil an, weil Sie an die Katzensprünge zu den Planeten unseres Sonnensystems gewöhnt sind. Bei diesen Reisen ist eine starke Anfangsbeschleunigung zulässig, da sie lediglich einige Minuten anhält. Die zu erreichende Fluggeschwindigkeit ist lächerlich gering und mit der unsrigen nicht zu vergleichen. Und nun ist es an der Zeit, dass ich Ihnen einige Erläuterungen über die Beschaffenheit unseres Raumschiffes gebe. Dank des von mir entwickelten Raketenantriebs vermag sich diese Maschine im Universum mit der höchsten Geschwindigkeit fortzubewegen, die man sich für einen festen Körper vorstellen kann, genauer gesagt, mit Lichtgeschwindigkeit minus Epsilon.«
»Minus Epsilon?«
»Ich will damit sagen, dass es sich dieser bis auf eine infinitesimale Größe annähern kann, auf ein Milliardstel etwa.«
»Gut«, sagte ich, »das leuchtet mir ein.«
»Und noch etwas müssen Sie wissen. Bei dieser Art der Fortbewegung entsteht ein merklicher Unterschied zwischen der Bordzeit und derjenigen der Erde. Er wächst proportional zur Reisegeschwindigkeit. Seit dem Beginn unseres Gesprächs haben wir zum Beispiel nur einige Minuten durchlebt, diese jedoch entsprechen auf unserem Planeten einer Zeitdauer von mehreren Monaten. Theoretisch könnte also der Fall eintreten, dass die Zeit für uns stehen bleibt, ohne dass wir irgendetwas davon bemerken. Was für Sie und für mich nur ein paar Minuten, einige Herzschläge lang dauert, kommt einer irdischen Zeitspanne von mehreren Jahren gleich.«
»Auch das begreife ich. Sonst könnten wir ja nie hoffen, unser Ziel lebend zu erreichen. Aber warum dauert die Reise dann zwei Jahre? Warum nicht nur einige Tage oder ein paar Stunden?«
»Ganz einfach. Um eine Geschwindigkeit zu erreichen, bei der die Zeit sozusagen zum Stillstand kommt, mit einer Beschleunigung, die unser Organismus aushält, benötigen wir ungefähr ein Jahr. Und ein weiteres Jahr benötigen wir, um die Geschwindigkeit wieder zu verringern. Verstehen Sie jetzt? Zwölf Monate Beschleunigung, zwölf Monate Bremswirkung. Dazwischen liegen lediglich einige Stunden, während derer wir die größte Wegstrecke zurücklegen. Damit wird Ihnen wohl auch klar, warum man, um zum Beteigeuze zu gelangen, nicht viel länger braucht als zum Proxima Centauri. Denn dafür wäre ebenfalls ein Jahr zur Beschleunigung und eines zur Bremsung erforderlich, dazu vielleicht einige Minuten anstatt der Stunden dazwischen. Insgesamt ist der Unterschied bedeutungslos. Da ich nicht mehr der Jüngste bin und zweifellos nicht mehr die Kraft haben werde, noch so eine Reise zu unternehmen, habe ich es vorgezogen, gleich einen weit entfernten Punkt anzusteuern, in der Hoffnung, dort eine Welt zu finden, die sich von der unseren völlig unterscheidet.«
Diese Art von Unterhaltung füllte unsere Mußestunden an Bord aus, und mein Respekt vor dem reichhaltigen Wissen des Professors stieg immer mehr. Es gab keinen Bereich der Wissenschaft, den er nicht erforscht hatte, und ich schätzte mich glücklich, bei einem derart verwegenen Unternehmen einen solchen Leiter zu haben. Wie er vorausgesehen hatte, dauerte die Reise nach unserer Zeitrechnung etwa zwei Jahre, während derer auf der Erde dreieinhalb Jahrhunderte verstrichen. Das war das einzig Unangenehme an der Sache: Sollten wir eines Tages zurückkehren, würden wir unseren Planeten um sieben- bis achthundert Jahre gealtert vorfinden. Doch das bekümmerte uns wenig. Ich argwöhnte sogar, dass die Aussicht, den Menschen seiner Generation zu entkommen, für den Professor einen zusätzlichen Anreiz darstellte. Er hatte oft unverblümt geäußert, dass sie ihn langweilten.
(»Die Menschen, immer wieder die Menschen«, warf Phyllis ein.
»Die Menschen«, sagte Jinn. »So steht es da.«)
Während des Fluges hatten wir keine ernsthafte Panne. Wir waren vom Mond aus gestartet, und die Erde und die Planeten blieben schnell hinter uns zurück. Wir sahen die Sonne zur Größe einer Orange, dann einer Aprikose zusammenschrumpfen, sie wurde immer kleiner, bis sie nur noch ein funkelnder, dimensionsloser Punkt war, ein einfacher Stern, den allein der Professor unter all den Milliarden Sternen der Milchstraße zu erkennen vermochte.
Wir lebten also fortan ohne Sonnenschein, doch wir litten nicht darunter, da das Raumschiff mit gleichwertigen Lichtquellen ausgestattet war. Auch Langeweile kannten wir nicht. Der Professor führte lebhafte Gespräche. Ich erfuhr während dieser zwei Jahre mehr als in meinem ganzen vorherigen Leben. Ich lernte sogar alles, was man wissen musste, um das Raumschiff zu bedienen. Das war eigentlich ganz leicht. Es genügte, die elektronischen Apparate mit Anweisungen zu füttern – alles andere, wie die notwendigen Berechnungen und Kursveränderungen, besorgten sie selbst.
Der Garten verschaffte uns manch angenehme Abwechslung. Er nahm an Bord einen wichtigen Platz ein. Professor Antelle, der sich unter anderem auch für Botanik und Landwirtschaft interessierte, wollte nämlich auf der Reise einige seiner Theorien über das Wachstum der Pflanzen im All überprüfen. Ein würfelförmiger Raum von etwa zehn Metern Seitenlänge enthielt die Kulturen, und dank der darin angebrachten Regale war er ganz ausgenützt. Das Erdreich wurde mit chemischen Düngemitteln angereichert, und knapp zwei Monate nach unserem Abflug sahen wir zu unserer Freude alle möglichen Sorten von Gemüse sprießen, das uns in Hülle und Fülle gesunde Nahrung lieferte. Auch das Angenehme hatte man nicht vergessen: Eine Abteilung war Blumen vorbehalten, die der Professor liebevoll hegte und pflegte. Er hatte außerdem etliche Vögel mit auf die Reise genommen, Schmetterlinge und sogar einen Affen, einen kleinen Schimpansen, den wir Hector getauft hatten, und der uns mit seinen lustigen Streichen bestens unterhielt.
Es steht fest, dass der gelehrte Professor Antelle, ohne direkt ein Misanthrop zu sein, wenig Interesse für menschliche Lebewesen aufbrachte. Er hatte oft gesagt, dass er nicht viel von ihnen erwartete, und das erklärt…
(»Misanthrop?«, fragte Phyllis dazwischen. »Menschliche Lebewesen?«
»Wenn du mich dauernd unterbrichst«, meinte Jinn, »werden wir nie zum Ende kommen. Mach es doch wie ich. Bemüh dich, mitzukommen.«
Phyllis gelobte, sich von nun an jeglicher Bemerkung zu enthalten, bis er zu Ende gelesen hatte.)
… das erklärt zweifellos, warum Antelle außer zahlreichen Pflanzensorten und einigen Tieren nur drei Passagiere in das Raumschiff aufgenommen hatte, das mit Leichtigkeit mehreren Familien Platz geboten hätte. Diese Passagiere waren: Er selbst, sein Schüler Arthur Levain, ein junger Physiker mit großer Zukunft, und ich, Ulysse Merou, ein wenig bekannter Journalist. Ich hatte den Professor anlässlich eines Interviews kennengelernt, und er hatte mir vorgeschlagen, mich mitzunehmen, nachdem er erfahren hatte, dass ich keine Angehörigen habe und recht ordentlich Schach spiele. Für einen jungen Journalisten war das eine ungewöhnliche Chance. Selbst wenn meine Reportage erst nach achthundert Jahren veröffentlicht werden sollte, würde sie – vielleicht gerade deswegen – von einmaligem Wert sein. Ich hatte die Einladung mit Begeisterung angenommen.
Die Reise verlief ohne jeden Zwischenfall. Die einzige Unannehmlichkeit während des Jahres der Beschleunigung und dem der Bremsung war das Gefühl der Schwere. Wir mussten uns daran gewöhnen, dass wir unser Körpergewicht als anderthalbmal so schwer empfanden wie auf der Erde. Anfangs war das ein wenig lästig, doch dann nahmen wir keine Notiz mehr davon. Zwischen diesen beiden Perioden herrschte ein Zustand absoluter Schwerelosigkeit mit all den bekannten, kuriosen Begleiterscheinungen dieses Phänomens. Das dauerte jedoch nur einige Stunden, und wir überstanden es gut.
Und eines Tages – im Jahr 2502 – sahen wir dann endlich den Stern Beteigeuze am Himmel, so nah, wie ihn noch niemand je zuvor erblickt hatte.