56. KAPITEL
Oh Shit! Tut das weh!
Zander blinzelte und benötigte einen schier endlos langen Moment, um zu begreifen, dass es tatsächlich Julia war, die da in der Tür stand, völlig durchnässt, mit Dreck überzogen und unbewaffnet, aber scheinbar völlig gelassen, die Hände tief in den Taschen ihrer Jogginghose vergraben, als ginge es hier um ein entspanntes Familientreffen.
Was sich in Jägers Augen abspielte, hätte Zander in diesem Moment nicht sagen können, Elisas Augen blickten auf jeden Fall weder ärgerlich noch aufgewühlt. Ganz im Gegenteil. Sie wirkten friedvoll, ja beinahe zärtlich. „Aber Sie sind ja ganz durchnässt, Frau Wagner.“
„Der Weg hierher war leider nicht immer ganz trocken.“
„Nun sind Sie aber hier. Und da Sie nun schon einmal hier sind, beschlossen Sie, Ihrem alten Freund das Leben zu retten? Ist es so?“
Julia nickte.
Ein winziges Zucken umspielte Elisas Kinn. Ihr Gesicht folgte der Bewegung, bis ein fast unsichtbares Lächeln ihre Lippen umspielte. „Nun, ich gebe zu, das berührt mich. Das berührt mich wirklich sehr.“ Sie wandte sich an Jäger. „Ist das nicht berührend, Herr Jäger?“
„Ja“, sagte er. „Sehr berührend. Sie sollten Angst haben, Frau Wagner. Große Angst.“
Zander konnte nicht glauben, wie gelassen Julia blieb. Sie sollte tatsächlich große Angst haben. Dies jedoch schien nicht der Fall zu sein. Immer noch die Hände entspannt in den Hosentaschen, sagte sie in Elisas Richtung: „Wovor sollte ich wohl noch Angst haben, was meinen Sie? Ich habe herausgefunden, dass mein Vater ermordet wurde, vielleicht sogar von meiner eigenen Mutter. Mein alter Kumpel Sandmann ist tot, weil ich nicht in der Lage war, ihn zu beschützen. Ich habe Killer am Hals, die nur darauf warten, mir eine Kugel in den Kopf zu jagen. Außerdem bin ich nass bis auf die Knochen, und ich kann nicht rauchen, weil meine Zigaretten den Sturz ins Wasser nicht überlebt haben. Nein, ich habe keine Angst. Ich bin wütend. Das ist das Einzige, was ich noch fühle: reine, selbstzerstörerische Wut. Sie sehen, wie aberwitzig das Ganze ist.“
Daraufhin wurde es so still, dass Zander glaubte, die Wände leise vibrieren zu hören. Und währenddessen vergingen die Sekunden. Unendliche Sekunden, in denen Jägers Augen immer noch nicht zu erkennen waren, dafür aber Elisas, die Julia nicht losließen, während diese nicht einmal blinzelte.
„Also, was ist jetzt?“, fragte sie. „Erschießen Sie mich oder nicht?“
Einen Moment hielt der menschliche Blick in Elisas Augen noch an, dann hob sie die Waffe an, und ein Riss ging durchs Universum, so als hätte irgendeine Macht im Himmel mit einem enormen Donnerschlag Zander das Stichwort gegeben. Er schrie: „Nein!“
Elisa wandte den Kopf und blickte zu ihm hin. „Beruhigen Sie sich, Herr Kommissar. Es ist alles in Ordnung. Frau Wagner und ich haben gerade ein Übereinkommen getroffen.“
„Genau“, sagte Julia. „Wir können noch stundenlang hier stehen, wir können es aber auch gleich hinter uns bringen.“
„Sie haben es gehört.“ Elisa lächelte. „Sie will es so.“
„Nein!“, rief Zander noch einmal.
„Elisa weiß, dass Sie Ihren Mann bald wiedersehen wird“, sagte Julia in seine Richtung. „Und ich bewundere ihren Mut. Wirklich.“
Daraufhin wurde es erneut still. Julia schwieg. Zander schwieg. Jäger schwieg. Die ganze verdammte Welt schien mit einem Mal zu schweigen. So lange, bis Elisa einen kleinen Schritt nach vorne machte und hoffnungsvoll sagte: „Nicht wahr? Sie verstehen mich.“
Julia nickte. „Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es wohl wäre, wenn mein toter Vater auf einmal wieder leibhaftig vor mir stünde. Ob er wohl immer noch so aussähe wie damals. Oder ob er sich verändert hätte.“
„Ich bin mir sicher, er war ein sehr stattlicher und gut aussehender Mann. Und Sie haben Ihr hübsches Aussehen von ihm.“
Julia lächelte. „Auf jeden Fall war er etwas ganz Besonderes.“
Elisa machte einen weiteren kleinen Schritt auf sie zu. „Sie lieben ihn sehr.“
„Ja, das tue ich. Weshalb ich ihn ebenso wenig loslassen kann, wie Sie Ihren Mann loslassen können. Und deshalb, Elisa, nehmen Sie von mir, was immer Sie brauchen, um ihn zurückzuholen, aber bitte tun Sie Zander nichts. Er ist ein guter Mann, er hat eine Zukunft verdient, ein gutes Leben. Nehmen Sie mich, aber lassen Sie ihn gehen.“
Später hätte Zander nicht mehr zu hundert Prozent sagen können, was genau als Nächstes geschah, weil es so unglaublich schnell ging, dass sein Gehirn eine ganze Weile brauchte, um zu verarbeiten, was seine Augen sahen. Doch diese eine Szene in jenem Raum, in jener Nacht, tief unter der Erde, würde er niemals vergessen: Elisa, wie sie einen weiteren, einen letzten Schritt auf Julia zumachte, dann direkt vor ihr stehen blieb und sagte: „Sie werden nicht umsonst sterben, Frau Wagner.“
„Ich weiß.“
Bitte, Julia, tu mir das nicht an!
Und dann, noch während Zander es dachte, sah er, wie sich Julias Stirn mit unglaublicher Geschwindigkeit auf Elisa zubewegte und deren Nasenrücken traf.
Ein lautes Knacken durchdrang die Stille, Elisa taumelte mit weit aufgerissenen Augen rückwärts und fiel zu Boden, wo sie mit gebrochener Nase und vor Schmerz schreiend liegen blieb, während Julia in die Knie sank, sich mit beiden Händen die Stirn hielt und zischte: „Oh Shit! Tut das weh!“
Zander blinzelte, Jäger blinzelte, als ihnen beiden gleichzeitig klar wurde, dass Elisa vor lauter Schreck und Überraschung die Waffe hatte fallen lassen. In der nächsten Sekunde hechteten sie gleichzeitig darauf zu. Jäger war zweifellos dünner und wendiger, und er bekam die Pistole auch tatsächlich zuerst zu fassen, allerdings hatte Zander einen ganz anderen Vorteil: Er warf sich mit seinen gesamten hundertzwanzig Kilo auf den schmächtigen Jäger und begrub ihn mitsamt Pistole unter seinem mächtigen Körper. „Ich kann stundenlang so auf Ihnen liegen bleiben“, zischte er. „Ich kann mich aber auch noch ein bisschen hin und her bewegen und Ihnen so ganz langsam einen Knochen nach dem anderen brechen.“
„Oh mein Gott“, keuchte Jäger in Ermangelung jeglichen Sauerstoffs. „Gehen Sie runter von mir! Ich krieg keine Luft!“
„Sehr gut“, sagte Zander zufrieden. „Dann stelle ich hiermit fest, dass Sie festgenommen sind. Und weiß Gott, ich habe mir noch keine Festnahme so redlich verdient wie diese.“