50. KAPITEL

Feuer!

1:52 Uhr

Es war nicht leicht, Karl Waffenschmied zu sein.

Immer diese Konturen vor den Augen.

Konturen, die immer mehr Form annahmen, hin und her zu wippen begannen. Daraus wurden dann Striche. Figuren. Menschen. Dann Worte. Wortfetzen. Dann vermischte sich alles zu einem einzigen Brei, ohne Anfang, ohne Ende.

Nein, es war wirklich nicht leicht, Karl Waffenschmied zu sein.

„Waffenschmied“, sagte er leise. Das war sein Name. Und wenn sie ihn nicht gerade Säufer oder Schnorrer nannten, dann nannten ihn auch alle so.

Okay, vielleicht war er ein Säufer und vielleicht auch ein Schnorrer – aber er war trotzdem kein Verlierer. Er hatte nur einfach nie den passenden Job gefunden. Er hatte eben kein Glück. Was konnte er dafür?

Die Konturen formten sich weiter, wurden zu einem farbigen Bild. Er sah Erika, seine Frau. Er hatte sie nie schlagen wollen. Das war der Teufel in ihm gewesen. Der Teufel Alkohol. Warum verstand sie das nicht?

Sie hatte ihn am frühen Abend angerufen, um ihm zu sagen, dass sie die Scheidung eingereicht hatte.

„Ich werde mich von dir scheiden lassen, Karl.“

Nach über zwanzig Jahren Ehe.

Okay, er hatte sie nicht immer anständig behandelt, aber das war doch der Teufel in ihm gewesen.

Jemand hatte ihm diesen Teufel eingepflanzt, dessen war Waffenschmied sich sicher.

Aber wer?

Die Antwort rückte näher. Bis er sie fast greifen konnte. Die Verschwörung. Die verdammte Verschwörung! Alles hing zusammen. Malwik, der Oberdoc, Silvia Sattler, sein steter Schatten, die Pfleger. Alle hingen sie mit drin.

Das wusste Waffenschmied schon lange. Und weil er das schon lange wusste, hatten sie es jetzt auch auf ihn abgesehen.

Er war nicht verrückt. Denn wenn er verrückt wäre, dann würde er sich ja schließlich nicht fragen, ob er verrückt war. Nicht wahr?

Und jetzt hatten sie ihm Erika genommen. Um ihn endgültig fertigzumachen. Konnte nicht anders sein.

Aber wer würde ihm das glauben? Das eben war das Problem, wenn man Karl Waffenschmied hieß. Vielleicht hingen all die Polizisten dort draußen ja mit drin.

Nein, er hatte keine Lust, auch nur noch eine einzige weitere Nacht in dieser Klinik zu verbringen. Um sich auch noch killen zu lassen. Und damit blieb nur eine einzige Möglichkeit, um hinauszuschreien, was er wusste.

Manchmal musste man eben sehr laut schreien, um gehört zu werden.

Susanne bewegte sich nach links zum Bett, ließ sich daraufsinken. Erhob sich wieder, ging zum Schrank. Dann zum Fenster, blickte hinaus. Schließlich lief sie nur noch hin und her. Am Ende stand sie beim Nachtschränkchen. Natürlich erreichte nichts von dem, was sie jetzt noch sagte, noch irgendwie Julias Ohren. Nichts würde das jemals wieder zusammenflicken können.

Was hatte sie auch erwartet? Dass sie ihr einfach so verzeihen würde? Dass sie sie in den Arm nehmen und sagen würde: „Alles halb so wild, Susanne. Okay, du hast mich verraten und verkauft, hast mir erbarmungslose Killer auf den Hals gehetzt, aber hey … alles halb so wild.“

Susannes Blick fiel auf den schlechten Krimi, der immer noch auf ihrem Nachttisch lag. Sie griff danach und schleuderte das Buch in die Luft, sodass es wirbelnd der Decke entgegenflog. Kurz vor dem Erreichen seines Ziels erlag es der Schwerkraft, fiel wie ein Stein herunter und knallte aufgeschlagen auf den Fußboden.

Nein. Alles noch viel schlimmer.

„Es ist mir völlig gleichgültig, ob du vor mir stehst, sitzt oder kniest, Susanne, es interessiert mich nicht.“

Das war es, was Julia zu ihr gesagt hatte, kaum dass sie sich ihr nach dem Gespräch mit Tech auf ein Neues in den Weg gestellt hatte.

„Bitte, benutz deinen Verstand!“ Susannes Stimme war eindringlich gewesen. Mit aller Macht hatte sie versucht, Julias Blick festzuhalten, es war ihr nicht gelungen. „Ich wollte das so nicht!“

„Weißt du, das Traurige ist, dass ich dir das sogar glaube“, war Julias Antwort darauf gewesen. „Vielleicht würde es mir viel weniger ausmachen, wenn ich nicht wüsste, dass du im Grunde ganz anders bist. Wenn ich nicht wüsste, dass hier vor mir ein mitfühlender, aufrichtiger und anständiger Mensch steht. Das ist es, was mich so unglaublich wütend macht. Aber wie auch immer, jetzt ist es zu spät.“

Susanne hatte gespürt, wie ihr schon wieder die Tränen in die Augen schossen. „Zu spät wofür?“

Ausgerechnet in diesem Moment hatte Tech dazwischengefunkt: „Frau Grimm, in Ihr Zimmer! Sofort!“ Und sie, Susanne, hatte weder die mörderische Wut noch all die Hilflosigkeit, die sie in diesem Augenblick durchströmte, noch länger zurückhalten können. „Ach, lecken Sie mich doch am Arsch!“ hatte sie in seine Richtung gebrüllt.

„Was haben Sie gerade gesagt?“

„Ich sagte, lecken Sie mich am Arsch!“ Damit hatte Susanne sich wieder an Julia gewandt und die Frage noch einmal wiederholt: „Zu spät wofür?“

„Für dich. Für mich“, hatte Julia geantwortet. „Aber vor allem für dich. Diese Leute haben dich jetzt in den Fängen, Susanne. Sie kennen deinen Namen, und sie werden dich überall finden. Was willst du jetzt machen?“

Das war es. Damit hatte Julia Susanne mit einer einzigen Bewegung zur Seite geschoben und war in ihrem Zimmer verschwunden.

Susanne selbst war von zwei Beamten ergriffen und in ihr eigenes Zimmer gebracht worden. Und da stand sie nun, wieder in der Mitte des Raumes. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie immer noch Viktors Puppe in der Hand hielt. Sie hatte sie die ganze Zeit nicht losgelassen.

In der nächsten Sekunde verlor Susanne endgültig die Nerven. Sie zersplitterte innerlich, nichts hielt sie mehr zusammen. Sie schrie laut auf und warf mit aller Wut die Puppe an die Wand.

Er hatte seine Hauptverdächtige, dessen war Tech sich sicher. Genau genommen traute er Susanne nicht so weit, wie er spucken konnte. Die alles entscheidende Frage war nur: Wie konnte er ihr die einzelnen Morde nachweisen? Julia Wagner hatte es ihm deutlich gesagt: Seine Beweisführung stand auf mehr als wackligen Beinen. Genau genommen hatte sie nicht einmal Beine.

Julia Wagner. Tech mochte sie nicht, und er war sich sicher, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Warum mochte er sie eigentlich nicht? fragte er sich. Weil sie all seine Theorien so mühelos widerlegte? Sie auseinanderpflückte wie einen vertrockneten Blumenstrauß? Nein, das war es nicht. Jedenfalls nicht nur.

Auch wenn er es selbst unter Folter nicht zugegeben hätte, Tech beneidete Julia. Nicht um das, weswegen sie am Ende hier gelandet war. Aber um das, was sie zuvor bei der Polizei geleistet hatte. Was sie konnte. Was ihr zu eigen war.

Er erinnerte sich noch gut an die interne Stellenausschreibung, auf die er sich vor drei Monaten beworben hatte. Vor allem aber erinnerte er sich noch sehr gut an die Worte seines Chefs: „Wolfgang Lange ist Geschichte, Herr Tech. Nun suchen wir nach einer kompetenten Person für einen leitenden Kommissarposten in unserer Abteilung für Kapitalverbrechen. Wir suchen jemanden mit logischer Kombinationsgabe, unbeugsamer Entschlossenheit, juristischer Fingerfertigkeit und von schierer Pfiffigkeit. Die geeignete Person dafür hatte ich jahrelang im Auge. Nur leider … sind die Dinge am Ende anders gelaufen, als wir alle uns das erträumt hätten.“

Tech hatte damals nicht genau gewusst, was gemeint war. Inzwischen wusste er es. Er war ja schließlich nicht ganz blöd. Ralf Jockel hatte all die Jahre darauf gehofft, dass Julia Wagner eines Tages von Mainz nach Hannover und damit in seine Einheit zurückkehren würde. Sie wäre seine Wunschkandidatin gewesen. Aber dann hatte sich Schlag auf Schlag alles verändert, hatte sozusagen eine ganz eigene Dynamik entwickelt: Zuerst hatte sie von heute auf morgen den Dienst quittiert. Dann wäre sie ausgerechnet von Wolfgang Lange um ein Haar erschossen worden. Und schließlich hatte sich das saubere Image ihres Herrn Vaters in Staub aufgelöst. Diese Wolken hatte nun wirklich niemand am Horizont heraufziehen sehen können. Aber damit war Julia selbstverständlich raus.

Trotzdem bekam Tech die Stelle nicht. Stattdessen bekam er Charlotte Gärtner vor die Nase gesetzt. Die war ihm auch auf die Nerven gegangen, wie sie permanent an ihm vorbeigestapft war, als gäbe es nur sie alleine. Als wäre er überhaupt nicht wichtig. Aber nun war ja auch sie raus. Weil sie es vermasselt hatte. Und plötzlich hatte Jockel den erstaunten Tech mit offenen Armen empfangen und ihm den Fall übertragen. Weil er immer noch da war. Er war jetzt im Spiel. Er konnte alles erreichen. Er war geschmeidiger als Julia Wagner und Charlotte Gärtner zusammen. Und tüchtiger. Und effizienter. Er war einfach besser. Er war die Spinne im Netz.

Trotzdem rumorte es in ihm. Ein innerer Hochdruck. Gerne hätte er einen Kaffee getrunken, aber er trank nie Kaffee. Kaffee brachte seinen Magen zum Rebellieren. Er drehte sich um, kniff ein paar Sekunden die Augen zusammen, starrte auf das Zimmer von Susanne Grimm. Er hatte extra einen Kollegen davor postiert, damit sie nicht abhandenkam. Gleich würde er sie noch einmal verhören. Alleine. Ohne die Wagner in der Nähe. Er schnaubte und trat auf den Kollegen zu, der vor dem Zimmer postiert war.

„Ist sie noch drin?“ Besser man fragte nach.

„Jedenfalls ist sie nicht an mir vorbeispaziert“, gab der Beamte zurück. „Allerdings scheint sie ziemlich wütend zu sein. Gerade hat sie irgendwas gegen die Wand geworfen.“

Tech zuckte mit den Schultern. „Lassen wir sie noch ein bisschen schmoren, dann bring ich sie zu einem Geständnis. Und danach wird es ihr sicher besser gehen.“

In diesem Moment schrie jemand: „FEUER!“

Alarmiert wandte Tech sich um, und tatsächlich drangen aus einem der Zimmer dichte Rauchwolken. Und dann brach das völlige Chaos aus.

Aus dem Tagebuch von Annegret Lepelja, 1881:

Dies sind nicht mehr die Hände, die einst so zärtlich waren. Hände, die so liebevoll streichelten. Dies sind rote, fleischige Klauen.

Jetzt erst begreife ich.

Ich sehe ein.

Doch immerhin habe ich es bald erreicht. Ich werde ihn wiedersehen. Seine Gestalt. Zwei Hände, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf. Er wird auferstehen. In seiner ganzen Gestalt. Nur ich konnte ihm erneutes Leben schenken. Nur ich konnte ihn wieder zu einem Ganzen formen.

Ich erwarte nicht, dass die anderen verstehen.

Wie könnten sie? Sie wissen nicht, was ich weiß. Sie fühlen nicht, was ich fühle.

Jetzt sehe ich sie. Sie kommen mit Feuer. Sie ducken sich und schleichen sich an. Ich sehe sie dennoch.

Dieses war das fünfte Kind.

Todesruhe
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