45. KAPITEL
Kein Erbarmen, zweiter Teil
„Frau Doktor!“
Hannelore Strickner blieb stehen und wandte sich zu Julia um.
Ein paar Sekunden sahen sie sich an. Dann sagte Julia: „Sind Sie religiös?“
„Nicht besonders. Warum fragen Sie?“
Julia hob die Schultern in die Höhe. „Ach, ich habe mich gerade eben ein bisschen mit Zander und Frau Gärtner über die Bibel unterhalten. Und wo ich jetzt gerade so schön warm zitiert bin, fällt mir eben, in dieser Sekunde, noch ein weiterer, ganz bestimmter Vers ein: ‚Als nun Judas, der ihn verraten hatte, sah, dass Jesus zum Tode verurteilt war, da reute ihn seine Tat. Er brachte den Hohepriestern und den Ältesten die dreißig Silberlinge zurück …‘ Und so weiter. Keine Ahnung, aus was für einem Evangelium. So sehr interessiert es mich dann auch wieder nicht.“
„Matthäusevangelium.“ Hannelore Strickners Blick war aufmerksam. „Worauf wollen Sie hinaus?“
„Ach, auf tausend Dinge.“ Julias Gesicht blieb unbewegt. „Anfangen würde ich aber gerne mit meinem Vater. Ich weiß, das hat Sie damals auch schwer getroffen. Der Unfall, bei dem meine Eltern starben.“
„Das hat es tatsächlich.“ Die Ärztin wartete weiter ab.
„Haben Sie eigentlich keine Sekunde die Möglichkeit eines Verbrechens in Erwägung gezogen?“, fragte Julia.
Keine Antwort. Zeit verging.
„Haben Sie?“
„Sie wissen so gut wie ich, dass in einem derart spektakulären Fall immer untersucht wird, ob es sich um ein Verbrechen handeln könnte, Frau Wagner. Beweise dafür wurden allerdings nicht gefunden.“
„Das wundert mich, dass Sie das sagen, wo Sie doch an der Autopsie dieses spektakulären Falles, wie Sie es selbst nennen, gar nicht teilgenommen haben. Und das als eine der besten und anerkanntesten Gerichtsmedizinerinnen Niedersachsens, die Sie damals schon waren. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie die Untersuchung der Leiche meines Vaters freiwillig an einen völlig unbekannten Arzt abgegeben haben. Gab es einen bestimmten Grund dafür?“
Keine Antwort.
„Nur damit wir uns richtig verstehen“, fügte Julia hinzu. „Ich rede von einem Arzt, der damals mit ziemlicher Sicherheit bestochen wurde. Es gab nämlich zwei Autopsieberichte. Einen offiziellen und einen, der es nie in die Ermittlungsakte schaffte.“
Zufrieden stellte sie fest, dass die Strickner für den Bruchteil einer Sekunde zuckte, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. „Was wollen Sie, Frau Wagner?“
„Ich will die Wahrheit wissen.“
„Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.“
„Ich rede von Ricin, Frau Doktor. Mein Vater wurde damit vergiftet.“
Die Strickner blinzelte, und Julia spürte, wie immer mehr Wut in ihr hochkochte. Bislang waren es eher Verzweiflung und Erschöpfung gewesen, die sie erfüllten. Verzweiflung, weil ihr bisheriges Leben auf einer einzigen Lüge aufgebaut war. Erschöpfung, weil sie dieses neue Wissen völlig überforderte. Fragen über Fragen schossen in ihrem Kopf herum wie Billardkugeln: Wer spielte was für ein Spiel? Wer war Freund, und wer war Feind? Wer hatte was gewusst und trotzdem nichts gesagt? Oder getan? Nun aber wandelten sich Verzweiflung und Erschöpfung endlich um in Zorn.
Die Strickner indessen schluckte hart.
„Mein Vater wurde ermordet, und anstatt Sie kümmerte sich ein völlig unbekannter Arzt um die Obduktion“, sprach Julia weiter. „Ein Arzt, der von irgendwem geschmiert wurde. Denn wenn es nicht so gewesen wäre, dann wäre das wahre Obduktionsergebnis ja wohl an die Öffentlichkeit gelangt. Das geschah aber nicht. Stattdessen gab es einen manipulierten Obduktionsbericht, in dem von einem Tod durch Genickbruch und inneren Verletzungen die Rede ist. Verursacht durch den Autounfall.“
Mit Zufriedenheit stellte sie fest, dass es der Ärztin nicht möglich war, ihr in die Augen zu sehen.
„Ich konnte Ihren Vater damals nicht obduzieren. Es war mir nicht möglich. Und von dem Gift … weiß ich nichts.“
Julia blickte sie so geringschätzig an, wie es geringschätziger kaum ging. „Frau Doktor, mein Vater und Sie haben sich damals ziemlich gut gekannt. Sie haben mehr als einmal eng zusammengearbeitet. Sie haben ihn geschätzt, so wie er Sie geschätzt hat. Und genau deshalb konnte es Ihnen überhaupt nicht egal sein, wer nach seinem Tod die Autopsie an ihm durchführte. Nicht Ihnen.“ Sie hob die Hände in die Höhe. „Warum lügen Sie mich an? Wir reden hier von meinem Vater. Habe ich es nicht verdient, zu erfahren, was damals wirklich passiert ist?“
„Es tut mir leid, Frau Wagner.“ Damit presste die Strickner die Lippen zusammen und wollte an ihr vorbeigehen, doch Julia griff nach ihrem Arm und hielt ihn fest. Was eine Premiere war. Niemand fasste Hannelore Strickner einfach so an, es sei denn, sie forderte ihn explizit dazu auf, was – man muss es nicht extra erwähnen – noch nie der Fall gewesen war.
„Bitte, lassen Sie es“, sagte die Ärztin eindringlich. „Lassen Sie die Toten ruhen. Glauben Sie mir, Sie werden damit nicht zurechtkommen. Sie sind sich überhaupt nicht im Klaren darüber, was für eine Kette von möglichen Ereignissen Sie in Gang setzen.“ Damit zog sie ihren Arm zurück und wollte die Station nun endgültig verlassen, doch so schnell gab Julia nicht auf. Sie stellte sich ihr in den Weg.
Und so standen sie sich in einer Art Duell der Blicke gegenüber, bei dem Julia nicht als Erste die Augen abwandte. „Haben Sie deshalb im April schon nur so ungern mit mir gesprochen?“, fragte sie. „Sie erinnern sich? An jenem Tag, an dem ich Sie in Ihrem Büro aufsuchte. Jener Tag, an dem mir zum ersten Mal dämmerte, dass mit der Legende um meinen Vater etwas nicht stimmt.“
Keine Antwort.
„Sie haben immer gewusst, dass diese ganze verdammte Geschichte irgendwann einmal ans Licht kommen würde“, redete Julia weiter. „Aber Sie haben es verdrängt, sich rausgehalten, weit genug von allem entfernt, um die nötige Distanz zu schaffen, aber ich sage Ihnen jetzt etwas: Sie sind trotzdem noch viel zu dicht dran.“
„Frau Wagner, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, sollten Sie nicht aufhören, werden Sie schon sehr bald überhaupt nichts mehr im Griff haben.“
Julia bildete sich ein, ein leichtes Beben in der Stimme der Ärztin zu hören. Aber das war jetzt auch egal. Da hatte sich eine schreckliche Lüge durch ihr ganzes Leben gezogen, wie ein langer dunkler Fluss, der nun alles mit sich riss. Und diese Frau hatte geschwiegen und tat es immer noch. In diesem Fall war auch Schweigen eine Lüge.
Das würde Julia ihr nicht verzeihen.
Da war es ihr auch völlig egal, dass die Strickner sie vermutlich nur schützen wollte. Jedenfalls nahm sie das an, und das sagte sie ihr auch, woraufhin die Ärztin antwortete: „Da draußen sind Leute, die bereit sind, alles zu tun, um sich selbst zu schützen. Deshalb sollten Sie froh sein über alles, was Sie nicht wissen. Und glauben Sie mir, das sage ich Ihnen nur, weil ich Sie tatsächlich immer sehr mochte.“
„Das ist lustig, dass Sie das sagen. Wo doch ich es bin, die die Konsequenzen dieser ganzen Scheiße zu tragen hat.“
„Frau Wagner, es tut mir wirklich leid.“
Das war es nun wirklich. Die Strickner trat um Julia herum und verließ eiligen Schrittes die Station.
Die Augen des Menschen, so sagt man, sind etwas ganz und gar Individuelles. Sie spiegeln alle Freude wider, ebenso wie alle Tragik, die sie während eines Lebens ansehen müssen. In den Augen, so heißt es weiter, liegen Lüge und Wahrheit.
Für einen kurzen Moment war Susanne eingeschlafen und hatte dabei in Julias Augen geblickt, jetzt schlug sie die eigenen auf, schaute auf die Uhr. 23:52 Uhr. Julia war noch nicht zurück.
Die Luft im Zimmer war stickig und schwer.
Susanne drehte sich auf die Seite und entdeckte im Halbdunkeln einen Schatten an der Wand, der dort nicht hingehörte. Und sie bemerkte einen ganz bestimmten Geruch in der Luft, der nicht ihrer war. Ihr blieb fast das Herz stehen. Kein Laut, kein einziger Laut. Der Schatten bewegte sich, wurde größer, aber kein einziger Laut. Nichts als Stille.
Sie konnte nichts anderes tun, als ihn einfach nur weiter anzustarren. Obwohl sie es kaum sehen konnte, spürte sie, dass sein Blick sie maß und bewertete. So lange, bis er leise sagte: „Die Papiere.“
Kein Erbarmen.
Alles in Susannes Kopf schien ausgelöscht. In Gedanken war sie längst alle Möglichkeiten durchgegangen und wusste, dass sie keine Wahl hatte. Deshalb gab sie ihm den Umschlag.
Und nun stand sie da, vielleicht zwei Meter von ihm entfernt.
Kein Erbarmen.
Das Ganze war mehr als nur eine Nummer zu groß für sie, das immerhin verstand sie jetzt. Sie hatte keine Vergleichsmöglichkeiten und wusste nicht, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten sollte. Sie wusste nur, dass sie Angst hatte. Angst vor diesem Mann, den sie kaum sehen, fast nur erahnen konnte. Angst, weil etwas von ihm ausging, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Etwas Brutales. Dieser Mensch war roh.
Er griff nach dem Umschlag, öffnete ihn und hielt die Papiere in Richtung des hellen Mondlichtes. Das alles passierte in beinahe atemloser Stille. Schließlich hefteten sich seine Augen wieder auf Susanne. „Das haben Sie sehr gut gemacht.“
Susanne zitterte wie Espenlaub. Trotzdem musste es aus ihr raus. Sie musste es einfach fragen: „Was hat sie Ihnen getan?“
Er strich sich mit dem Finger übers Kinn, und eigentlich war sie sicher, dass er nicht darauf antworten würde. Doch dann öffnete er den Mund, genau in dem Moment, in dem die Tür aufging.
Was dann geschah, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und geschah doch viel zu langsam. Den Bruchteil einer Sekunde, in dem Julia in der Tür stand und im Halbdunkeln den Mann mit dem blassen, kalkweißen Gesicht gemeinsam mit Susanne am Fenster stehen sah; den Bruchteil einer Sekunde, in dem sie den braunen Umschlag erkannte, den er in der Hand hielt, den Umschlag mit ihren Papieren. Das alles zu realisieren und in sich aufzunehmen brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde. Und geschah doch, wie gesagt, viel zu langsam. Denn dann ging auch schon alles ganz schnell. Bereits in der nächsten Sekunde schlug er ohne Vorwarnung zu.
Susanne spürte, wie etwas in ihr splitterte. Sie rief noch: „Julia!“ Oder jedenfalls glaubte sie, dass sie das tat, allerdings hörte sie dabei ihre eigene Stimme nicht. Es war, als würde sie nur in ihrem Kopf schreien, während sie mit schreckgeweiteten Augen beobachtete, wie der Mann Julia packte und ihr mit einer Hand den Mund zuhielt. Hilflos sah sie weiter mit an, wie Julia sich wehrte, dann aber abrupt in der Bewegung innehielt, als ihr offenbar klar wurde, dass ihr eine Pistole in den Rücken gedrückt wurde.
Bemerkenswert defensiv verließ Charlotte an Zanders Seite die Psychiatrie, eine deutlich kleinlautere Version ihres normalen Selbst.
Es war nicht das erste Mal, dass sie in Schuld und Unzulänglichkeitsgefühlen badete, aber es war noch nie so schlimm gewesen wie in diesem Augenblick. Ihr Ego lag völlig am Boden. Und gerade als sie glaubte, dieses innere Fegefeuer kaum noch länger zu ertragen, wollte Zander unnötigerweise von ihr wissen: „Alles in Ordnung?“
„Klar. Alles bestens. Sie müssen übrigens nicht mit mir gehen.“
„Ach, Sie wissen doch, ich bin wie eine Klette.“
„Sollten Sie nicht besser auf Frau Wagner aufpassen?“
„Ich glaube, dass Sie mich im Moment dringender brauchen.“ Hätte Zander nur geahnt, wie sehr er sich irrte. „Außerdem bin ich gleich wieder zurück.“ Auch hier irrte er sich, aber das konnte er nicht wissen.
Einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her.
„Sie geben jetzt aber nicht auf, oder?“, sagte Zander dann.
„Was soll ich wohl sonst machen? Falls es Ihnen entgangen ist, mein Chef hat mich soeben abgeschossen wie eine Tontaube. Der Fall wurde mir entzogen.“
Zander schwieg, und Charlotte fügte hinzu: „Zuerst ein Pädophiler. Jetzt ein nicht unbekannter Musiker, dessen Tod noch mehr Staub aufwirbeln wird. Die Presse wird sich die Finger danach lecken.“ Sie brach ab. „Was mir allerdings am meisten wehtut, ist die Tatsache, dass der Fall ausgerechnet an Tech übertragen wurde.“
Zander schnaubte trocken. „Völlig inkompetent, der Mann. Überhaupt nicht in der Lage, selbstständig zu denken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, da läuft was ganz anderes im Hintergrund …“
Inzwischen hatten sie den roten BMW Z4 erreicht. Charlotte schloss auf, setzte sich hinters Steuer und starrte dumpf aus der Frontscheibe.
Erst nach ein paar Sekunden sagte sie: „Ich würde ja sagen, Tech wird es in den Sand setzen. Da ich das aber bereits selbst getan habe, verkneife ich mir diesen Kommentar.“ Ihr Handy klingelte, sie ignorierte es.
„Ihr Handy“, sagte Zander nach ein paar Sekunden endlosen Läutens.
Charlotte hob nur die Schultern. Das Einzige, was ihr zu schaffen machte, war, dass es viel zu laut klingelte.
„Gehen Sie ran“, forderte Zander. „Vielleicht ist es wichtig.“
„Was ist? Haben Sie schon wieder ein Bauchgefühl?“
„Auf jeden Fall habe ich das sichere Gefühl, dass hier noch nichts zu Ende ist. Also gehen Sie ran.“
Widerwillig griff Charlotte nach dem Handy und meldete sich. „Gärtner.“
„Jan Jäger.“
Sofort saß Charlotte kerzengerade. „Herr Jäger, wo stecken Sie? Sie wissen, dass Sie gesucht werden.“
„Ja, das weiß ich. Aber dafür habe ich gerade keine Zeit. Ich möchte mich mit Ihnen treffen, Frau Kommissarin. Alleine. Ich denke, ich habe interessante Informationen für Sie.“
„Was für Informationen?“
„Nicht am Telefon. Ich warte beim Grab von Annegret Lepelja auf Sie.“