32. KAPITEL
Schon wieder der Gärtner
Und der Mörder war schon wieder der Gärtner. Verärgert klappte Susanne das Buch zu, legte es auf den Nachttisch und schimpfte innerlich auf diese vermaledeiten Krimiautoren, die sich für etwas ganz Besonderes hielten, für den Nabel der Kreativität, und am Ende doch nicht mehr zustande brachten als einen Mörder, der schon wieder der Gärtner war.
Vielleicht empfand Susanne das Ende des Romans aber auch nur deshalb so unerträglich, weil ihr bewusst wurde, dass sie nicht einmal wusste, wer außerhalb der Klinik für den Garten zuständig war.
Sie löschte das Licht, klopfte sich das Kissen zurecht, drehte sich auf den Rücken und starrte in die Dunkelheit.
Nein, nicht lesen war auch keine Lösung. Sofort hatte sie wieder Britta Stark vor Augen, sah, wie sie ihr im Aufenthaltsraum gegenübergesessen und ganz subtil auf sie eingeredet hatte. Wie eine Videoschleife – und die Botschaft in Susannes Kopf war klar, deutlich und düster: Mein bisher zumindest selbstbestimmtes Leben befindet sich ab heute im Auflösungszustand. Die Anwältin hatte die Kontrolle übernommen. Weil Susanne sich bereit erklärt hatte, ihr zu folgen. In die Freiheit. Wohin sie Julia damit trieb, davon hatte sie nicht die leiseste Ahnung. Doch wohin auch immer das sein mochte, sie allein würde die Verantwortung dafür tragen. Niemand sonst.
„Jeder Mensch hat seine Seele schon mindestens zehnmal verkauft. Entscheidend ist allein der Preis, den man dabei heraushandelt.“
Hatte Britta Stark es so gesagt? So oder so ähnlich auf jeden Fall.
Im nächsten Moment tat es im Zimmer links von Susanne einen heftigen Schlag. Erschrocken fuhr sie in die Höhe.
Offenbar hatte Julia gerade etwas an die Wand geworfen.
Dann ein verzweifelter Schrei.
„Lasst mich doch einfach alle in Ruhe!“
Julia saß auf dem Boden, inmitten von jeder Menge Papieren, Scherben und einem gefühlten See aus Tränen.
„Ich hab einen Schlag und einen Schrei gehört.“
„Du sollst wieder gehen.“
„Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“ Susanne schloss die Tür hinter sich, suchte sich eine Stelle in Julias Nähe, an der keine Scherben lagen, und ließ sich dort im Schneidersitz nieder. „Ich hab mich noch nie einfach umgedreht, wenn es einem anderen Menschen schlecht ging.“
„Ich will alleine sein.“
„Das kann schon sein. Aber offen gestanden glaube ich nicht, dass du gerade allein sein solltest. Denn wenn Effinowicz mitbekommt, wie es dir geht und dass du hier völlig aufgelöst inmitten von Scherben sitzt, dann wird er sich gezwungen sehen, dich ruhigzustellen. Und offen gestanden würde ich dich nur ungern an dein Bett fixiert sehen wollen.“
Keine Reaktion von Julia, und Susanne sah sich um. Ihr Blick streifte über die Papierseiten auf dem Boden und fiel dann auf einen Bilderrahmen, der kein Glas mehr besaß. Dann auf das Foto, das sich darin befand. Auf die hübsche Frau, den lachenden Mann und auf das Mädchen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt, dessen Mund halb geöffnet war. Daddys kleiner Liebling, dachte Susanne. „Bist du das?“, fragte sie unnötigerweise.
Keine Antwort von Julia, aber immerhin auch kein Schniefen und kein Schluchzen mehr.
Susanne atmete langsam ein, dann wieder aus. „Hör zu, ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass ich heute Nacht noch hier sitzen würde. Eigentlich hatte ich mich gerade mit einem fürchterlich schlechten Buch abgefunden. Jetzt bin ich aber nun mal da und hab keinen Plan, wie ich mit der Situation umgehen soll. Ich komme nicht weiter, solange du nicht mit mir sprichst. Also werde ich dir einfach weiter Fragen stellen und überlasse es dir, sie zu beantworten, okay?“
Keine Antwort.
„Hast du Angst?“
Julia blickte weiter mit versteinerter Miene vor sich hin.
„Ich habe Angst“, redete Susanne weiter. „Jeden Tag. Willst du wissen, wovor? Na ja, vor dem Leben. Obwohl es mir eigentlich nie schlecht ging. Mein Vater hat eine Menge Geld für mich hingelegt, mit der einzigen Erwartung, dass ich mich im Leben ordentlich benehme. Ausgerechnet darin war ich nicht sehr gut.“
Julias Mimik blieb auch weiterhin versteinert.
Entmutigt starrte Susanne an die Decke. „Ich versuche, dich zu verstehen, Julia. Hilf mir dabei.“
„Geh wieder. Das ist das Einzige, was du für mich tun kannst. Und das Beste, was du für dich selbst tun kannst.“
„Solltest du diese Entscheidung nicht mir überlassen?“
„Du kannst diese Entscheidung nicht treffen.“
Susanne versuchte Julias Blick auf sich zu ziehen, doch es gelang ihr nicht, also zog sie stattdessen ein Zigarettenpäckchen hervor. „Möchtest du?“
Julia schüttelte zuerst den Kopf, dann nickte sie und nahm die angebotene Zigarette entgegen. Ihre Hand zitterte.
„Wünschst du dir nicht insgeheim jemanden, mit dem du reden kannst?“, fragte Susanne, während sie ihr Feuer gab. Und als daraufhin wieder nichts von Julia kam, sank allmählich ihre Laune in Richtung Nullpunkt. „Wollen wir eine Münze werfen? Kommt Kopf, antwortest du mir, kommt Zahl, darfst du weiter schweigen.“
„Vielleicht“, sagte Julia, ganz ohne Münze.
Susanne sah auf. Immerhin. „Hängt es mit deinem ehemaligen Beruf zusammen? Mit der Polizei?“
Nichts.
„Ehrlich gesagt kann ich mir das gar nicht so richtig vorstellen. Ich meine, dass du Polizistin warst.“
Keine Antwort.
„Wenn du willst, erzähle ich dir, warum es mich hierher verschlagen hat. Ins Irrenhaus, meine ich.“
Julia zog an ihrer Zigarette, nickte weder noch schüttelte sie den Kopf, also redete Susanne weiter: „Ich hatte ein paar Tage zuvor angefangen, in einer Kneipe zu arbeiten. Jemand meinte, das wär ein cooler Job. Gute Musik, keine schlechte Bezahlung. Außerdem durfte ich einmal in der Woche mit meiner Band auftreten. In meinem eigentlichen Job als Lehrerin habe ich nichts gefunden …“
„Du bist Lehrerin?“ Für einen Moment funkelte so etwas wie Aufmerksamkeit in Julias Augen.
Überrascht über das plötzliche, wenn auch nur leichte Interesse, wandte Susanne ihr das Gesicht zu. „Na ja … zumindest habe ich die Fächer studiert, mit denen ich es hätte werden können.“
„Kann ich mir jetzt kaum vorstellen.“
Susanne lächelte schwach. „Wie auch immer, ich musste irgendwie anders Geld verdienen. Meinem Vater war das natürlich gar nicht recht, aber der war zu dem Zeitpunkt ohnehin schon so enttäuscht von mir, dass die Messlatte kaum noch tiefer hätte gelegt werden können.“ Sie betrachtete die dünne Rauchsäule, die von ihrer Zigarette aufstieg. „Ich hab den Job in der Kneipe angenommen und mich da auch tatsächlich wohlgefühlt. Das hielt allerdings nicht lange an. Wie konnte ich es auch anders erwarten?“ Ein leichter, verzweifelter Zynismus legte sich in Susannes Stimme. „Eines Abends lernte ich eine Frau kennen. Wir verabredeten uns, wollten uns im Hinterhof der Kneipe treffen. Ich weiß gar nicht mehr, warum eigentlich. Vielleicht wollte ich ein bisschen knutschen, vielleicht war ich auch ein bisschen verliebt. Ich kann es dir heute wirklich nicht mehr sagen. Ich weiß nur, dass ich den Hinterhof betreten habe, und da war auf einmal dieser Kerl, der sie vergewaltigen wollte. Ich bin dazwischen gegangen, wollte ihr helfen. Aber der Typ war riesig. Auf dem Boden lagen überall Scherben, jemand hatte eine Glasflasche zerbrochen. Ich griff nach einer der Scherben und rammte sie ihm in den Rücken. Das war es.“
„Bist du sicher, dass er sie vergewaltigen wollte?“, fragte Julia, und Susanne seufzte leise auf.
„Tut mir leid. Was ist dann passiert?“
„Na ja, der Typ landete im Krankenhaus, zeigte mich an, und ich kam hierher. Hier warte ich auf den Prozess, und in der Zwischenzeit erstellt Malwik ein Gutachten über mich, das bezeugen wird, dass ich zu hundert Prozent irre und gemeingefährlich bin und nirgendwo anders als hierher gehöre.“
„Das bist du nicht.“
„Was?“
„Gemeingefährlich.“
Noch einmal seufzte Susanne auf. „Die Richter werden das anders sehen. Ich hab leider schon zu viel Mist gebaut.“
Daraufhin herrschte einen Moment lang Schweigen.
„Und was war mit der Frau?“, fragte Julia dann.
„Sie verweigert die Aussage, die mich entlasten könnte.“
„Wirklich?“
Susanne nickte. „Paradox, oder? Der Typ wollte sie vergewaltigen, ich wollte ihr helfen und krieg die Rechnung dafür.“ Einen Moment schwieg sie nachdenklich. „Als ich hier ankam, war das schon beinahe ein schicksalhaftes Gefühl“, redete sie dann weiter. „Ich hab mich mit der Aktion quasi selbst zum Krüppel geschossen. Immer wieder hab ich mir die Frage gestellt, ob ich das Richtige getan hab. Oder nicht. Hätte ich wegsehen sollen und einfach nichts tun? Hätte ich die Polizei rufen und währenddessen zusehen sollen, wie er sie vergewaltigt?“
„Du hättest in die Kneipe zurückgehen können und dort nach Hilfe schreien.“
„Ja, aber der Gedanke kam mir in dem Moment gar nicht. Ich hab einfach rotgesehen.“ Niedergeschlagen schüttelte Susanne den Kopf. „Und eigentlich spielt es ja jetzt auch keine Rolle mehr. Ich bin hier, und ich werde hier bleiben.“
Wieder ein Moment Stille.
„Du hattest recht“, sagte Julia dann.
„Womit?“
„Manchmal wünsche ich mir tatsächlich jemanden, mit dem ich reden kann.“
Erleichtert atmete Susanne durch, und aus einem Impuls heraus legte sie einen Arm um Julia und zog sie an sich.
Zuerst verspannte Julia sich, und es schien, als wolle sie sich sofort wieder aus der Umarmung befreien. Doch dann löste sich die Verspannung etwas, und sie murmelte: „Ich fühl mich so schmutzig. Ich fühl mich so verdammt schmutzig.“ Tränen befeuchteten schon wieder ihre Augen. „Ich bin eine Heulsuse.“
Was Susanne in diesem Augenblick dachte, war nicht, dass Julia eine Heulsuse war, sondern ein Mensch, der lieber verbluten als zugeben würde, dass er verletzt war.
„Du brauchst Schlaf“, sagte sie.
„Nein“, widersprach Julia sofort. „Wenn ich schlafe, träume ich.“
„Heute Nacht nicht.“ Susanne erhob sich und zog sie mit sich in die Höhe.
„Ich kann nicht …“
„Du musst schlafen. Du kannst ja schon nicht mehr geradeaus sehen.“
Julia wusste, dass Susanne recht hatte, und gab nach. Sie ließ es zu, dass sie wie ein Kind ins Bett gebracht und zugedeckt wurde. Susanne legte sich neben sie auf die Decke und nahm sie dann wieder in den Arm. „Du wirst sehen, heute Nacht träumst du nicht.“
Julia fröstelte so sehr, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen. Sie schlug die Decke weg, eine Hand legte sie wieder über sie.
Dann stürzte sie in die Dunkelheit und war weg.