52. KAPITEL

Es lebe das Klischee

Dieser verflixte Waffenschmied hatte schon wieder sein Bett angezündet! Und dieses Mal hatte er sich richtig Mühe gegeben.

Tech war fix und fertig. Kaum hatten sie das Feuer wahrgenommen, waren alle gleichzeitig und von allen Seiten auf das Zimmer zugestürmt. Jemand schrie nach einem Feuerlöscher, dann waren sie hineingestürmt, Pfleger, Ärzte, die Beamten. Auch Tech selbst.

Durch die dichten, schwarzen Rauchwolken hatte man kaum etwas erkennen können. Aber hören konnte man ihn. Und wie! Immer wieder hatte Waffenschmied etwas von einer Verschwörung gebrüllt, und es hatte ewig gedauert, bis man ihn endlich unter Kontrolle hatte. Ebenso wie das Feuer. Beide schienen für eine unendlich lange Zeit kaum zu bändigen.

Nun rieb Tech sich über die Stirn. Immerhin, das Feuer war nun gelöscht und Waffenschmied an ein Bett fixiert. Natürlich nicht an sein eigenes, denn das hatte er ja abgebrannt. Außerdem hatte er Medikamente bekommen, aber die wirkten offenbar noch nicht so richtig, denn immer noch hörte man ihn laut und deutlich schreien: „Verschwörung! Verschwörung!“

Tech seufzte leise auf und konzentrierte sich. Er hatte jetzt ganz andere Sorgen. Zeit, den Fall aufzuklären. Ein für alle Mal und endgültig.

Er wandte sich um, und erst jetzt fiel ihm auf, dass der Beamte, der vor Susanne Grimms Zimmer gesessen und aufgepasst hatte, mit ihm gemeinsam in Waffenschmieds Zimmer gerannt war.

Alle Alarmglocken in Tech begannen zu läuten. Er setzte sich in Bewegung und stürmte auf das Zimmer zu. Dann stieß er die Tür auf.

Susanne war nicht mehr da.

Nicht schon wieder Tränen! Scheiß doch endlich auf die Tränen!

Nur umgeben von Stille und Staub wischte Susanne sich mit dem Handrücken über die Wangen. Dann schob sie wieder mit aller Kraft, versuchte, die Vitrine zur Seite zu schieben. Vor lauter Anstrengung stöhnte sie dumpf. Dann verließ sie wieder der Mut, und sie sank in die Knie. Wie viele Stufen waren es gewesen bis hierhin? Bis zu dem Punkt, an dem sie jetzt war? Ohne Zukunft, mit einem Strafverfahren an der Backe und einem unterbelichteten Kommissar, der jetzt auch noch eine mehrfache Mörderin aus ihr machen wollte; vermutlich den Rest ihres Lebens auf der Flucht und sowieso von allen guten Geistern verlassen. Kein Zuhause mehr. Keine Eltern, zu denen sie gehen konnte. Und zu all dem auch noch eine Verräterin. Zu einem Nichts geschrumpft.

Gib es zu. Gib es endlich zu: Du hast versagt auf der ganzen Linie.

Hitzewellen stiegen in Susanne auf, unwirklich, befremdlich.

Sie riss sich zusammen, richtete sie sich wieder auf und wischte sich noch einmal die Tränen vom Gesicht. Die Frage, was sie dort unten erwarten würde, beschäftigte sie ebenfalls schon die ganze Zeit. Eine Stimme in ihrem Kopf riet ihr klar und deutlich, sofort wieder umzukehren. Bleib, wo du bist. Trotzdem schob sie wieder mit aller Kraft an der Vitrine. Konnte es sein, dass das Ding von Sekunde zu Sekunde schwerer wurde? Eins … zwei … drei! Nicht aufgeben jetzt!

„Tech ist mit seinen Leuten unterwegs und sucht dich.“

Ein Adrenalinstoß, heißer als die stickige Luft um sie herum, ließ Susanne herumfahren. „Lieber Gott im Himmel!“, entfuhr es ihr. „Hast du mich erschreckt! Was machst du hier?“

Julia schloss die Tür hinter sich und kam auf sie zu. Die Frage beantwortete sie nicht. Stattdessen sagte sie: „Kannst du mir mal sagen, was du hier machst?“

„Ich hab in Viktors Puppe eine Skizze gefunden. Es gibt einen Weg von hier nach draußen.“

Da Julia sie nur ansah, als hätte sie jetzt endgültig den Verstand verloren, zog Susanne die vier Buchseiten aus ihrer Hosentasche und legte sie auf den Boden. „Hier, sieh es dir selbst an.“

Julia ging in die Hocke, betrachtete die zusammengelegten Seiten. „Wie kam das ausgerechnet in Viktors Puppe?“, wollte sie wissen.

„Keine Ahnung. Aber wenn ich einen Tipp abgeben müsste, dann würde ich sagen, er hat den Plan irgendwann durch Zufall in die Hände bekommen und beschloss – in einem klaren Moment –, damit abzuhauen, um nach seinen Kindern zu suchen. Was bestimmt ein Spitzenplan war. Vermutlich hatte er ihn nur wenig später schon wieder vergessen. Wahrscheinlich wusste er noch, dass die Puppe irgendwie wichtig ist, aber es fiel ihm nicht mehr ein, worum es genau ging.“

Julia nickte. „Das wäre möglich.“

Susanne schob die vier Buchseiten wieder zusammen und richtete sich auf. „Und jetzt will ich wissen, ob es stimmt, was da aufgezeichnet ist. Ich hab schon alles abgesucht. Wenn es hier irgendwo einen Ausgang gibt, dann kann der sich nur hinter dieser Vitrine befinden.“ Sie begann wieder zu schieben. „Ein Ausgang, direkt in die Freiheit.“

„Das ist Schwachsinn, Susanne. Es gibt keinen Weg von hier nach draußen. Tech wird jeden Moment hier sein, und dann …“

„Hilf mir schieben, dann werden wir es gleich wissen.“

Julia seufzte. „Bitte, wenn es dir hilft, wieder in der Realität anzukommen.“ Sie fasste mit an, und gemeinsam schoben sie die Vitrine zur Seite.

„Glaubst du es eigentlich auch?“, fragte Susanne unter größter Kraftanstrengung.

„Was?“, gab Julia ebenso angestrengt zurück.

„Dass ich einen Menschen umbringen könnte.“

„Nein.“

Der Schrank war zur Seite geschoben, und sie sahen sich einen Moment lang an.

„Du bist vieles“, sagte Julia. „Aber eine Mörderin bist du nicht. Tech ist ein Vollidiot.“

Dann wandten sie die Köpfe und blickten auf eine Tür. Ein Totenschädel und zwei übereinandergekreuzte Knochen waren mit weißer Farbe daraufgemalt.

Julia rollte mit den Augen. „Es lebe das Klischee.“

„Das ist er“, sagte Susanne, deren Gefühle sofort in Aufruhr waren. „Das ist der Weg in die Freiheit!“

Julia musste von dem vielen Staub um sie herum niesen. Dann noch einmal. Erst dann merkte sie an: „Und für die würdest du alles tun, ich weiß. Aber vergiss eins nicht, bevor du dich auf den Weg machst, fort von einer Hölle, die dir mit Sicherheit folgen wird: Der Plan könnte dich nicht nur in die Freiheit, sondern auch direkt in die Arme des Mörders führen.“

„Wie scharfsinnig von dir.“ Susanne legte die rechte Hand auf die Türklinke. „Ich werde es trotzdem versuchen.“

„Nicht, dass es mich interessiert, aber du gehst ein unkalkulierbares Risiko ein.“

„Wenn es mich erwischt, dann erwischt es mich eben. Glaubst du im Ernst, das hält mich auf?“

„Nein.“ Julia hob die Hände in die Höhe. „Nein, das glaube ich tatsächlich nicht. Ich glaube nicht, dass dich jetzt noch irgendetwas davon abhalten wird. Aber selbst wenn es gelingen sollte, Susanne, die werden dich suchen. Sie werden sich an deine Fersen heften und dich so lange jagen, bis du am Boden liegst. Und dann kommst du tatsächlich nie wieder raus.“

„Ich will es wenigstens versuchen.“ Susanne öffnete die Tür.

Julia rieb sich über die Augen, versuchte, einen klaren Entschluss zu fassen, was nicht einfach war. Schließlich sagte sie: „Warte.“

„Was ist?“

„Lass mich vorgehen.“

Susanne blinzelte erstaunt. „Heißt das, du willst mitkommen?“

„Das heißt, dass du vermutlich schon sehr bald tot bist, wenn ich dich alleine gehen lasse. Hast du irgendetwas, worin du den Plan aufbewahren kannst? Auch wenn ich keine Sekunde daran glaube, dass es diesen Tunnel tatsächlich gibt, wissen wir nicht, was dort unten auf uns wartet. Und falls es irgendetwas mit Wasser sein sollte, würde ich ungern zusehen, wie sich die Karte in Pappmaschee verwandelt.“

„Warte.“ Susanne zog ein kleines, silbernes Döschen hervor. „Er könnte in mein Zigarettenetui passen.“ Sie faltete die Buchseiten vorsichtig zusammen und legte sie hinein. „Siehst du? Passt.“

„Hast du auch eine Taschenlampe?“

Auch diese zog Susanne aus der Tasche ihrer Hose. „Mit der habe ich nachts im Bett gelesen. Siehst du, sie hat hier hinten einen Klipp. Winzig zwar, aber sie leuchtet ziemlich hell.“

„Das gibt mir Hoffnung.“ Julia atmete tief durch. „Trotzdem will ich es der Form halber noch einmal gesagt haben: Selbst wenn es funktionieren sollte und wir einen Weg nach draußen finden, du wirst nicht weit kommen.“

„Vielleicht. Aber ich bin verrückt genug, es zu versuchen.“

Julia wartete noch ein paar Sekunden, blinzelte, strich sich den langen Pony zur Seite.

„Was ist los?“, fragte Susanne. „Schiss?“

Ein letzter Blick von Julia, dann trat sie durch die Tür.

Todesruhe
titlepage.xhtml
02_dedication-title.html
02b_dedication-title.html
03_book-title.html
04_copyright-title.html
02a_dedication-title.html
05_book-halftitle.html
06_prologue-title.html
07_chapter-title-1.html
08_chapter-title-2.html
09_chapter-title-3.html
10_chapter-title-4.html
11_chapter-title-5.html
12_chapter-title-6.html
13_chapter-title-7.html
14_chapter-title-8.html
15_chapter-title-9.html
16_chapter-title-10.html
17_chapter-title-11.html
18_chapter-title-12.html
19_chapter-title-13.html
20_chapter-title-14.html
21_chapter-title-15.html
22_chapter-title-16.html
23_chapter-title-17.html
24_chapter-title-18.html
25_chapter-title-19.html
26_chapter-title-20.html
27_chapter-title-21.html
28_chapter-title-22.html
29_chapter-title-23.html
30_chapter-title-24.html
31_chapter-title-25.html
32_chapter-title-26.html
33_chapter-title-27.html
34_chapter-title-28.html
35_chapter-title-29.html
36_chapter-title-30.html
37_chapter-title-31.html
38_chapter-title-32.html
39_chapter-title-33.html
40_chapter-title-34.html
41_chapter-title-35.html
42_chapter-title-36.html
43_chapter-title-37.html
44_chapter-title-38.html
45_chapter-title-39.html
46_chapter-title-40.html
47_chapter-title-41.html
48_chapter-title-42.html
49_chapter-title-43.html
50_chapter-title-44.html
51_chapter-title-45.html
52_chapter-title-46.html
53_chapter-title-47.html
54_chapter-title-48.html
55_chapter-title-49.html
56_chapter-title-50.html
57_chapter-title-51.html
58_chapter-title-52.html
59_chapter-title-53.html
60_chapter-title-54.html
61_chapter-title-55.html
62_chapter-title-56.html
63_chapter-title-57.html