17. KAPITEL

Gott, der Herr, erbarme dich unser

In manchen psychiatrischen Kliniken gibt es Gebetsräume. Karge Zellen, in denen in der Regel nicht sonderlich viel geboten wird. Wenn man Pech hat, gibt es dort nur ein paar Stühle und ein Kreuz an der Wand, mit einem Jesus, der nicht weniger einsam dort oben hängt, als man sich selbst fühlt. Wenn man hingegen Glück hat, dann gibt es zu dem Gebetsraum auch einen Pastor, der an bestimmten Tagen in der Woche für ein paar Stunden vorbeikommt und seinen Job ernst nimmt. Er hält dann kleine Andachten und nimmt sogar die Beichte ab, bei denjenigen, die das unbedingt möchten. Das sind in der Regel entweder diejenigen, die vor lauter Einsamkeit einfach nur jemanden zum Reden suchen und deswegen im Beichtstuhl alle möglichen Märchen erzählen, solange sie nur für ein paar Minuten Aufmerksamkeit bekommen. Oder es sind diejenigen, die es tatsächlich ernst meinen, weil sie noch eine minimale Hoffnung hegen, dass es durch entsprechende Beichten doch noch klappen könnte mit dem Paradies auf der anderen Seite.

Und immerhin, Gott ist ja schließlich für alle da. Ob man nun gut oder böse, krank oder gesund ist. Was interessiert das Gott? Natürlich, es sollte ihn interessieren. Es sollte ihn interessieren, ob die Menschen sich gut oder böse verhalten. Und auch für die Kranken und Schwachen sollte er sich gesondert interessieren. Aber was Gott sollte und was er tut, das sind bekanntlich zwei verschiedene Paar Schuhe. In erster Linie sind vor ihm alle gleich und in einem solchen Gebetsraum kann man – ob im Beichtstuhl oder nicht – mit jemandem reden. Der Pastor nimmt sich Zeit. Er hört zu. Er bietet Trost. Und er sagt in der Regel immer dasselbe, nämlich, dass man die Hoffnung nicht verlieren soll. Ein leichtes Unterfangen für jemanden, der das Privileg besitzt, die Klinik jederzeit betreten und verlassen zu können, wann immer es ihm gerade beliebt, während alle anderen zurückbleiben und sich an ebendiese Hoffnung klammern müssen.

„Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit“, leitete Pastor Theo Gans an diesem frühen Abend die Beichte ein. Dann wartete er, bis die Stimme auf der anderen Seite sagte: „Der Weise verhält sich so, als hätte er vergessen, doch in Wahrheit vergisst er nichts.“

Gans wusste nicht, was er darauf sagen sollte, deshalb wartete er weiter ab.

„Ich habe gesündigt, Vater.“

„Wir sind alle Sünder vor dem Herrn“, sagte der Pastor mit würdevoller Herablassung. „Hast du Sünden zu bekennen, so sprich.“

„Ich habe ein Gebot missachtet.“

„Sprich weiter.“

„Ich habe getötet, Vater.“

Es war die gesamte Klarheit dieser Worte, die den Pastor wissen ließ, dass es sich hierbei um keinen Scherz handelte. Er richtete sich auf.

„Können Sie mir die Absolution erteilen, Vater?“

„Ich …“, begann Theo Gans.

„Wenn Sie so freundlich wären.“

Der Pastor atmete ein paarmal tief durch. Dann schloss er die Augen, begann zu sprechen und öffnete sie erst wieder an der Stelle: „Ich erlöse dich von all deinen Sünden, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“

„Danke, Vater.“

Dann hörte Theo Gans Schritte, die eilig das Gebetszimmer verließen. Er selbst blieb wie angewurzelt sitzen und überlegte, was nun zu tun war. Er war an seine Schweigepflicht gebunden. Er konnte sie unmöglich brechen. Unmöglich. Aber er hatte die Stimme erkannt. Natürlich hatte er die Stimme erkannt. Ein Mörder hatte ihm gebeichtet, und er wusste, wer es war.

Der Pastor verließ den Beichtstuhl.

Er kniete vor dem einfachen Altar nieder und betete mit einer Inbrunst, wie er sie seit vielen Jahren nicht mehr gespürt hatte. Um Kraft. Und um die Kunst, auf dem rechten Weg zu bleiben. Und um Vergebung.

Dann erhob er sich wieder und trat mit zitternden Gliedern zur Vitrine an der Wand, die schon immer als „Stationsbibliothek“ diente. Ein großartiger Name. In Wahrheit war es nicht mehr als ein einfacher Bücherschrank.

So lange hatte Gans nicht mehr daran gedacht. Viel zu lange. Ein unverzeihliches Versäumnis.

Gott, der Herr, erbarme dich unser.

Nach einiger Suche entdeckte er das Buch. Für einen Moment schloss er die Augen, atmete erleichtert durch. Es war noch hier. Sein Herz klopfte heftig, als er das Buch an sich nahm. Mit der Hand strich er darüber, betrachtete den Einband.

Gott, sei bei mir!

Dann wandte er sich ab, ging zur Tür und öffnete sie zuerst nur einen Spaltbreit, ehe er mit großen Schritten auf den Flur hinauseilte. Dort stieß er um ein Haar mit Karl Waffenschmied zusammen. Dabei verlor er das Buch. Mit – in seinen Ohren – unbeschreiblichem Getöse schlug es auf dem Boden auf.

„Herr Pastor, was ’n los?“, wollte der Alkoholiker wissen.

Keine Antwort von Theo Gans. Er bückte sich, hob das Buch wieder auf und lief dann eilig weiter.

Näher bin ich dir nie gekommen, Herr, dachte er bei sich. Näher bin ich dir nie gekommen. Und war doch gleichzeitig nie weiter von dir entfernt.

Endlich draußen, warf er einen letzten Blick über die Schulter. Dabei machte er immer längere Schritte.

Wenn du das hier siehst, Vater im Himmel, dann tu etwas! Ich bitte dich mit allem, was ich habe: Tu etwas!

Er sah wieder nach vorne, auf das hohe, schmiedeeiserne Tor.

Es wegbringen. Darum ging es jetzt. Nur darum.

Er rannte auf das Tor zu.

So schnell er konnte.

Gedankenverloren schob Stefan Versemann seine randlose Brille nach oben, während er den Flur auf und ab ging. Den ganzen Tag hatte er die Arbeit der Polizei verfolgt, parallel dazu das Gerede der anderen Patienten, all die abstrusen Spekulationen.

Und dabei ging Tämmerers Tod, so schrecklich er auch sein mochte, Versemann gar nicht wirklich nahe. Vermutlich lag das daran, dass er dafür viel zu rational dachte. Man lebte, man starb. Das war es. Einzig die Art und Weise, wie man starb, machte den Unterschied. Außerdem hatten er und Tämmerer sich kaum gekannt, nie auch nur ein persönliches Wort miteinander gewechselt.

Allerdings hatte Versemann Tämmerer heimlich beobachtet, wie er alle und alles beobachtete, und kannte deshalb seine Gewohnheiten, seine Zeiten, seine Spleens. Vielleicht sogar seine Täuschungsmanöver.

Noch einmal schob der hochintelligente Mann die Brille nach oben und hielt dann in der Bewegung inne. Plötzlich spürte er etwas. Ein kaltes Kribbeln am Hals. Ein Luftzug konnte es nicht gewesen sein, alle Fenster auf dem Flur waren ab 19:00 Uhr fest verschlossen. Trotzdem wandte Versemann den Kopf, um es noch einmal zu überprüfen. Nein, die Fenster waren alle zu. Aber da war doch jemand gewesen … Eine Gestalt, ein Schatten, in der Tür zum Duschraum. Er wartete darauf, dass die Gestalt wieder auftauchte. Und tatsächlich, nach ein paar Sekunden tat sie es.

Viktor Rosenkranz. Der harmlose alte Mann.

Versemann entspannte sich wieder.

Allerdings hatte der alte Mann in diesem Moment gar kein so verzücktes Alte-Mann-Lächeln im Gesicht, ganz im Gegenteil. Er machte ein paar Schritte in die Mitte des Flurs, und dann wirkte er schon wieder gar nicht mehr … böse. Jetzt wirkte er … besorgt. Oder verwirrt? Versemann hätte es auf die Entfernung schlecht einschätzen können.

In der nächsten Sekunde wandte der alte Mann sich ab und schlurfte den Gang hinauf.

Versemann sah ihm noch ein paar Minuten hinterher. Dann setzte er sich in Bewegung und sah zu, dass er zurück in sein Zimmer kam.

Todesruhe
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