40. KAPITEL

Wehgetan. Sehr weh.

21:04 Uhr

Mit verschränkten Armen und rebellischem Gesichtsausdruck saß Heide Sacher Charlotte gegenüber. „Ich verlange eine Erklärung dafür, warum ich wie eine Verbrecherin in Ihr Büro geführt werde.“

Charlotte stellte das Aufnahmegerät an und sagte klar und deutlich: „Gespräch mit Heide Sacher in Zusammenhang mit der Vergewaltigung und Ermordung von Weinfried Tämmerer. Ermittlungsleiterin: Charlotte Gärtner.“ Daraufhin klärte sie Heide über ihre Rechte auf und endete mit den Worten: „Haben Sie das verstanden, Frau Sacher?“

Die Pflegerin blickte verwirrt. „Was soll das? Ich …“

„Haben Sie das verstanden, Frau Sacher?“

„Natürlich habe ich es verstanden. Ich bin nicht auf den Kopf gefallen. Aber ich bestehe darauf …“

„Ich nehme an, Sie haben keine Ahnung, wo sich Herr Jäger gerade aufhält, richtig?“

Als Heide daraufhin nur blinzelte und schwieg, füllte Charlotte einen kleinen Pappbecher mit lauwarmem Wasser und trank einen Schluck. Dann sah sie die Pflegerin so lange an, bis diese den Blick abwandte. „Sehen Sie, genau das ist mein Problem, Frau Sacher. Eigentlich wollte ich ja gar nicht mit Ihnen, sondern mit Herrn Jäger sprechen, nur scheint der auf ganz wundersame Weise spurlos verschwunden zu sein. Jedenfalls befindet er sich nicht mehr hier auf der Station. Und auch zu Hause scheint er nicht zu sein, zumindest haben meine Kollegen ihn auch dort nicht angetroffen. Deshalb spreche ich jetzt mit Ihnen. Das verstehen Sie sicher.“

Heide schwieg weiter.

„Wo ist er, Frau Sacher?“

„Das weiß ich nicht.“

„Er ist Ihr Kollege. Sie machen jeden Tag zusammen die Schichten. Und da wollen Sie mir erzählen, Sie hätten nicht mitbekommen, dass er auf einmal nicht mehr da war?“

„Ich habe wirklich keine Ahnung, was Sie von mir wollen.“ Heide versuchte, auch weiterhin beherrscht zu bleiben, doch ihre Finger zitterten, es war deutlich zu sehen.

„Aber das habe ich Ihnen doch gerade erklärt.“ Charlotte beugte sich etwas nach vorne. „Hören Sie mir genau zu und sehen Sie mich an, Frau Sacher. Ich möchte Sie jetzt ganz deutlich warnen: Es gibt ziemlich hohe Strafen, wenn man die Polizei in einem offiziellen Verhör anlügt. Und das hier ist ein offizielles Verhör. Ich kann Ihnen also versichern, dass es besser für Sie wäre, wenn Sie versuchen würden, diesen Ärger zu vermeiden. Wenn Sie mit mir kooperieren, werde ich tun, was in meiner Macht steht, um Ihnen und auch Herrn Jäger zu helfen. Wenn Sie mich jedoch weiterhin anlügen, dann kann weder ich noch irgendjemand sonst etwas für Sie beide tun. Also, noch einmal: Wo ist er?“

„Ich lasse nicht zu, dass Sie ihn mit Dreck bewerfen.“

„Ich bin nicht hier, um ihn mit Dreck zu bewerfen. Ich will wissen, was genau vorgestern Nacht passiert ist. Und ich will wissen, wo er steckt.“

Heide fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich weiß es wirklich nicht. Er war auf einmal nicht mehr da.“

„Und wann ist Ihnen das aufgefallen?“

„Ich weiß nicht genau. So um kurz nach 19.00 Uhr.“ Die Stimme erstarb, und Heide schwieg wieder.

„Und da kam es Ihnen nicht in den Sinn, mir sofort Bescheid zu geben? Immerhin ist er Ihr Kollege, es hätte ihm etwas passiert sein können.“

Heide starrte an die Wand, antwortete nicht.

„In Ordnung.“ Charlotte atmete einmal tief durch. „Dann versuchen wir es andersherum: Was ich inzwischen sicher weiß, ist, dass es Jan Jäger war, der Tämmerers Diagnose an die Patienten verpfiffen hat. Ich nehme an, das wissen auch Sie längst. Vermutlich wussten Sie das von Anfang an. Und ich nehme weiter an, dass Jäger es nicht nur getan hat, um die Leute gegen Tämmerer aufzuhetzen. Nein, ich gehe davon aus, dass sein Plan von Anfang an Manipulation war. Er wollte, dass sich einer der Patienten in einem Meer aus Hass und Abscheu zu einem Mord hinreißen lässt. Und bei Robert Campuzano scheint dieser Plan aufgegangen zu sein.“

„Um Gottes willen.“ Heide brach der Schweiß aus. „Nein. Jan wollte nicht Tämmerers Tod. Er wollte nur, dass er …“

„… nichts mehr zu lachen hat. Damit haben wir immerhin schon mal die halbe Wahrheit. Hören Sie, Frau Sacher, ich gehe davon aus, dass Jäger einen guten Grund hatte für seinen Plan. Einen wirklich guten Grund. Er erscheint mir nämlich ganz und gar nicht wie ein Mensch, der einfach nur auf perverse Gewaltfantasien abfährt.“

Heide schloss für einen Moment die Augen. „So ist es auch nicht.“ Sie öffnete die Augen wieder und sah Charlotte an. „So ist es wirklich nicht. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was ihn seit Jahren treibt.“

„Wissen Sie es denn?“

Nicken.

Charlotte füllte einen weiteren Pappbecher mit Wasser und schob ihn zu der Pflegerin über den Tisch. „Dann erzählen Sie es mir. Alles, was ich möchte, ist Licht in diese Sache bringen.“

„Er hat es mir im Vertrauen erzählt.“

„Um Loyalität unter Kollegen und Freunden geht es hier aber schon lange nicht mehr. Hier sind schreckliche Dinge geschehen und Jan Jäger hatte auf die ein oder andere Weise seine Finger im Spiel. Also bitte, was ist es, was ihn zu dieser Aktion veranlasst hat?“

Heide griff nach dem Becher, trank einen Schluck. Dann stellte sie ihn auf den Tisch zurück und sagte leise: „Er hat mir von den Bildern erzählt.“

„Von welchen Bildern?“

„Den Bildern in seinem Kopf. Sein ganzes Leben schon trägt er sie mit sich herum. Und immer wenn er Tämmerer sah … Jan wollte, dass auch er einmal an den Falschen gerät.“

„Von was für Bildern sprechen Sie?“

Heide räusperte sich, schob den Becher etwas von sich. „Bilder von seinem Stiefvater … und von ihm. Jan sagte, sie wären immer da. Wie ein Schatten. Glauben Sie mir, Frau Kommissarin, wir beide können uns nicht vorstellen, was der Junge durchgemacht hat.“

„Erzählen Sie es mir.“

Heide tat es erst nach kurzem Zögern. „Immer wenn seine Mutter aus dem Haus war, dann hat sein Stiefvater sich um ihn gekümmert. So hat Jan es mir gesagt. Wörtlich sagte er: ‚Wenn sie nicht da war, dann hat er es mir gegeben.‘“

„Sein Stiefvater hat ihn vergewaltigt?“, hakte Charlotte nach.

Die Pflegerin nickte, für einen Moment herrschte Stille im Raum.

„Warum sagen Sie jetzt nichts mehr, Frau Kommissarin?“, fragte Heide dann. „Fehlt Ihnen die Fantasie, sich vorzustellen, was für einen Schaden ein erwachsener Mann bei einem kleinen dünnen Jungen anrichtet, wenn er so etwas tut? Was glauben Sie, warum Jan seit Jahren Tabletten nimmt und trinkt, als gäbe es kein Morgen? So viel, dass er teilweise richtige Aussetzer hat und sich später an nichts mehr erinnert. Manchmal weiß er morgens nicht mehr, was er am letzten Abend getan hat. Manchmal weiß er abends nicht mehr, was er morgens getan hat. Können Sie sich vorstellen, wie schlecht es einem Menschen gehen muss, wenn es erst einmal so weit ist?“

„Dann muss er sich in Behandlung begeben“, sagte Charlotte. „Damit er doch noch eine faire Chance auf eine gute Zukunft bekommt.“

Heide lachte trocken auf. „Stellen Sie sich vor, genau dasselbe habe ich auch zu ihm gesagt, aber das Einzige, was passierte, war, dass er unglaublich wütend wurde. ‚Wie oft bist du gegen deinen Willen in den Arsch gefickt worden, Heide?‘, hat er mich angeschrien und hinzugefügt: ‚Ich wünschte, du hättest es erlebt, denn dann wüsstest du, dass es danach keine Zukunft mehr gibt. Gar keine.‘ Und dann hat er mich stehen lassen.“

„Hat er nie darüber nachgedacht, seinen Stiefvater anzuzeigen?“, fragte Charlotte. „Ich weiß nicht, ob er weiß, dass es für solche Fälle keine Verjährung gibt …“

Mit brennenden Augen sah Heide sie an. „Auch darauf habe ich ihn angesprochen, und er sagte: ‚Das könnte ich nicht. Ich könnte heute noch nicht vor ihm stehen, ohne wie ein kleines Kind zu zittern‘.“

„Und aus diesem Grund wollte er, dass Tämmerer büßt“, fasste Charlotte zusammen. „Wenn schon nicht sein Stiefvater, dann eben ein anderer Kinderficker. Hauptsache Genugtuung, war es so?“

Heide nickte. „Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis ich begriff, dass er es war, der Tämmerer verpfiffen hat. Aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich begriff, dass sein Ziel von Anfang an Campuzano war. Jan konnte sich in ungefähr ausmalen, was passieren würde, wenn dieser Mensch von Tämmerers Pädophilie erfuhr. Und so war es dann auch. Campuzano hat Tämmerer wehgetan. Sehr weh. Und das wollte Jan.“ Heides Seufzer verriet ehrliche, tiefe Trauer. „Ich wusste nicht, was ich danach noch tun oder sagen oder wie ich überhaupt noch an ihn herankommen sollte. Er ist mir mit jedem Tag mehr entglitten. Aber ich konnte ihn doch auch nicht verraten. Nicht nach allem, was ich über ihn weiß.“

Es wurde erneut für einen Moment still im Raum.

Dann sagte Charlotte: „Bisher wissen wir nur, dass Campuzano Tämmerer verprügelt und vergewaltigt hat. Den Mord können wir ihm noch nicht nachweisen. Aber wenn er ihn umgebracht hat, Frau Sacher, dann wissen Sie, was das für Herrn Jäger bedeutet.“

„Jan wollte nicht, dass Campuzano ihn umbringt. Dass er ihn demütigt, ja. Aber an einen Mord hat er überhaupt nicht gedacht. Das hat er mir selbst gesagt. Er hat einen Fehler gemacht, für den er nun bitter bezahlt. Aber er ist kein Mörder. Kein Mörder, Frau Kommissarin.“

„Wo ist er?“, fragte Charlotte, während sie zielstrebig an Tech vorbei den Flur hinaufmarschierte.

Er folgte ihr auf den Füßen. „In seinem Zimmer. Aber was ist, wenn er sich nicht so einfach verhaften lässt?“

„Dann haben Sie hoffentlich Ihre Waffe griffbereit.“

„Sie meinen, ich soll ihn erschießen?“

„Ich meine, Sie sollen auf ihn zielen und ihn in Schach halten.“ Vor Campuzanos Zimmertür blieb Charlotte stehen. „Ich gehe als Erste rein.“

Tech antwortete nicht, aber da er direkt hinter ihr stand, ging sie davon aus, dass er sie verstanden hatte.

Keine Sekunde später öffnete sie die Tür, und sofort traf es sie wie ein Schlag. Ganz kurz hatte sie einen Eindruck von eisiger Kälte, sie wich zurück und dann erst bemerkte sie den Gestank. Es stank nach Tod und Elend. Sie konnte kaum noch atmen. Tech, der sich direkt hinter ihr befand, schien es ebenfalls zu riechen, denn er keuchte auf: „Lieber Gott!“ Und fingerte nach einem Taschentuch.

Die Luft im Zimmer schien wie geronnen.

Endlich fand Tech ein verknäultes Taschentuch. Und gerade noch rechtzeitig, denn kaum blickte er an Charlotte vorbei, hob sich sein Magen.

Robert Campuzano lag nackt und bäuchlings über seinem Bett. Seine Knie ruhten auf dem Boden. Er sah aus, als hätte er sich hingekniet, um ein Gebet zu sprechen. Aber er betete nicht. Jemand hatte ihn erschossen. Von hinten in den Kopf.

Vor dem Bett lag eine Serviette, auf die erneut eine 5 gemalt worden war. Aber dieses Mal auch noch etwas anderes: Abrakadabra.

„Was zum Teufel …“ Das Herz trommelte gegen Charlottes Brust. „… geht hier vor sich?“

Tech konnte ihr die Frage nicht mehr beantworten, er war bereits in Richtung Toiletten gerannt, um sich zu übergeben.

Todesruhe
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