55. KAPITEL
Zombie
Seltsamerweise war der erste Gedanke, den Zander hatte, als er wieder zu sich kam, dass sich seine Hose widerlich anfühlte, total verklebt und schmutzig, und dass er überhaupt nicht darüber nachdenken mochte, worin er gerade lag.
Er richtete sich etwas auf und sah sich um. An der Decke und an den Wänden befanden sich keine Lampen. Die einzige Lichtquelle waren Kerzen; die jedoch reichten aus, um das zu erkennen, was er niemals hätte sehen wollen. „Ach, du lieber Gott“, entfuhr es ihm, während sein Blick über ein Regal an der Wand glitt, das aus fünf Etagen bestand. Jede Etage enthielt ein Glasgefäß, und in jedem Gefäß befanden sich Körperteile. Zwei Augen. Eine Zunge. Drei Gläser waren noch leer. Aber für das dritte war bereits gesorgt. Zander dachte an die Leiche, die er vorhin ertastet hatte, kurz bevor die Gestalt ihn angriff.
Die Kerzen knisterten.
„Schön, dass Sie wieder unter uns weilen, Herr Kommissar.“
Zander wandte den Kopf und blinzelte. Obwohl die Gestalt sich nur als grauer Schatten vor dunklerem Hintergrund abzeichnete, erkannte er sie sofort.
„Willkommen in meinem Reich.“
Elisa Kirsch stand etwa zwei Meter von ihm entfernt, eine Pistole mit Schalldämpfer in den Händen, und sie klang fröhlich, ja, richtiggehend aufgekratzt. „Schön, dass Sie gekommen sind.“
Es sah zwar so aus und sie benahm sich auch entsprechend, aber ganz so geisteskrank, wie sie wirkte, war sie gar nicht. Plötzlich verstand Zander. Dass Elisa es nämlich hatte kommen sehen. Dass sie von Anfang wusste, dass es hier enden würde. Dass sie es darauf angelegt hatte. Dass sie sie manipuliert hatte. Dass sie gerade so viel Spuren hinterlassen hatte, dass sie ihn und Charlotte damit in ihr Netz locken konnte.
So, wie sie sich nun bewegte, wie sie sich ihren Weg durch die Schichten von Schatten bahnte, erinnerte Elisa jetzt an einen Zombie.
Zander hustete, während sein Blick noch einmal durch den Raum wanderte, und jetzt entdeckte er Charlotte. Sie lag in der Ecke auf dem Boden, Hände und Füße mit Paketband umwickelt, die Oberlippe aufgeplatzt, und einen Moment befürchtete er, sie wäre bereits tot. Sofort schickte er ein Gebet zum Himmel und machte Gott allerhand Versprechungen, die er wahrscheinlich nie würde einhalten können, aber es war ihm ernst. Bitte, lass sie noch am Leben sein. Immerhin, er selbst war nicht gefesselt, was bedeutete, sie hatten noch eine minimale Chance, deshalb setzte er zum Sprechen an, merkte aber sofort, dass seine Stimme ihm nicht gehorchte. „Was …?“ Er brach ab.
Elisa drehte für einen Moment den Kopf in seine Richtung, doch bevor die flackernden Lichter die Augen erreichten, wandte sie sich schon wieder von ihm weg, machte zwei Schritte und drehte sich dann doch noch einmal zu ihm um. „Was, Herr Kommissar?“
Zander straffte sich. Reden, reden, reden. Vielleicht brachte ihnen das zumindest eine kleine Galgenfrist. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein. „Deshalb wurde die Pistole in der Klinik nicht gefunden. Sie hatten sie die ganze Zeit hier unten versteckt.“
„Aber natürlich.“ Die Flammen in Elisas Augen tanzten. „Es ist übrigens die Pistole meines verstorbenen Mannes. Er war ein begeisterter Sportschütze, traf auf viele Meter Entfernung. Nun, ganz so gut bin ich leider nicht. Aber es reicht für das, wofür ich sie brauche. Der Schalldämpfer, nun ja …“ Sie begann, ihn abzuschrauben. „Niemand wird es hören, wenn ich Sie hier unten erschieße.“
Zander versuchte, nicht darauf zu achten, es zu ignorieren. „Also alles nur Scharade?“, sagte er. „Elisa, die nicht unsympathische Irre, die die anderen in der Psychiatrie kennengelernt haben … alles nur gespielt?“
Sie lächelte nur dünn, antwortete nicht darauf.
Er schluckte. „Geben Sie auf, Elisa. Das hat doch alles keinen Sinn. Sie können nicht wirklich glauben, dass Ihr Plan funktioniert.“
„Sie können nicht glauben, dass Ihr Plan funktioniert“, äffte sie ihn nach. „Natürlich wird es funktionieren. Ich will meinen Mann zurück, darum kämpfe ich. Ich musste mir nur das passende Material dafür besorgen. Annegret war keine verrückte, bösartige Hexe, sie war eine Heilige. Sie wurde von Gott zu mir geschickt.“
„Menschen umzubringen und sie Material zu nennen klingt für mich aber nicht unbedingt nach Gottes Wort.“
„Ach, Herr Kommissar, was wollen Sie jetzt von mir hören? Gott schickt uns Zeichen, zeigt uns Möglichkeiten auf, und entweder wir folgen ihnen oder wir tun es nicht. Wir sind unseres eigenen Schicksals Schmied. Wir selbst treffen die Entscheidungen. Und ich habe meine getroffen.“
Zander hustete. „Und deshalb brachten Sie Tämmerer um und entführten sich dann anschließend ganz einfach selbst. Auf diese Weise konnten Sie unsichtbar für alle anderen und ganz nach Belieben schalten und walten. Mit dem Plan aus Annegrets Tagebuch war es ja auch kein Problem.“
„Von was für einem Plan sprechen Sie? Ich brauche keinen Plan.“
Nein? Zander wunderte sich, kam aber nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, weil Elisa sich theatralisch eine Hand aufs Herz legte und hinzufügte: „Annegret plagte vor vielen, vielen Jahren derselbe Kummer wie mich. Auch sie aß nicht mehr, sprach nicht mehr, auch sie saß nur noch in ihrem Zimmer und weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte. Auch sie wurde von der Qual und dem Schmerz aufgefressen. Was sie dann in ihrem Tagebuch aufschrieb, diente mir als Zeichen.“
„Das war der Moment, in dem Sie beschlossen, zur Mörderin zu werden.“
„Auge um Auge. Im wahrsten Sinne des Wortes, Herr Kommissar. Denn auch der Herr tötet tagtäglich. Frauen, Kinder, Männer. Und wir wissen beide, dass er es weit weniger human tut als ich.“
„Warum haben Sie Pastor Gans den Mord gebeichtet?“, wollte Zander wissen.
„Ich wollte ihn nur ein wenig ärgern, diesen Schwachkopf. Ich wusste doch, dass er mich niemals verraten würde. Dafür nimmt er seinen Beruf viel zu ernst.“
Zander schluckte wieder und überlegte einen kleinen Moment lang, ob er Elisa vielleicht mit einem überraschenden Sprung erreichen könnte, ehe diese in der Lage wäre, die Pistole abzufeuern, gestand sich aber sogleich ein, dass das ausgeschlossen war. Er konnte sich nur weiter auf seine Zunge verlassen. Reden, reden und noch mal reden. Aber wie lange noch? „Und es wird trotzdem nicht funktionieren. Ihr Mann ist tot, und so wird es bleiben.“ Er war selbst überrascht, wie ruhig seine Stimme klang, obwohl er wirklich Angst hatte. Er blickte zu Charlotte hinüber, und ihm ging durch den Kopf, dass er sie vielleicht bald zum letzten Mal im Leben ansah.
Elisa indessen richtete sich etwas auf. „Aber nein. Ich bin doch fast am Ziel. Von Tämmerer habe ich die Augen. Von Campuzano die Zunge …“
Mit dem Kinn deutete Zander auf die Leiche, über die er vorhin förmlich gestolpert wäre, wäre er nicht auf allen vieren gekrochen. „Und wer ist das?“
„Das ist mein Stiefvater.“
Oh mein Gott! durchfuhr es Zander. Noch ein Irrer!
„So hat er wenigstens am Ende seines Lebens noch ein gutes Werk getan. Wenigstens eins.“
Zander kniff die Augen zusammen. Einen Moment erkannte er den Mann nicht, der den Raum betreten hatte, weil sein Gehirn stillzustehen schien. Doch dann sah er, wer es war, und ein Film entstand vor seinen Augen, rückwärts abgespielt, wie im Zeitraffer, ein Film zweier gefallener Menschen.
Elisa und Jan Jäger. Was für ein Paar.
Und auch hier wieder … nichts als Scharade.
„Ich dachte, Sie wären tot“, stellte er mit brüchiger Stimme fest.
„Sehr überzeugend, nicht wahr?“ Etwas in Jägers veilchenblauen Augen war erloschen. Absolut tot. Er zeigte sein zerschnittenes Handgelenk. „Es war nicht sehr bedrohlich. Ritzen kann ich gut.“
„Dann war es also Elisa, die Charlotte heute Abend auf dem Friedhof bewusstlos schlug. Und anschließend sind Sie beide hier unten verschwunden.“
„Aber natürlich.“ Jäger lächelte dünn. „Der Grabstein war längst zur Seite geschoben, als Ihre Kollegin kam. Sie hat es nur nicht bemerkt. Aber wie sollte sie auch? Sie nahm ja alles, was mit Annegret Lepelja zu tun hatte, überhaupt nicht ernst.“ Er brach kurz ab, dann meinte er: „Traut man der kleinen Elisa gar nicht zu, welch enorme Kräfte sie entwickeln kann, nicht wahr?“
„Das Überraschungsmoment war auf Ihrer Seite.“
„Vielleicht. Aber was am Ende zählt, ist der Erfolg.“
Zander durchzuckte plötzlich ein ganz anderer Gedanke: Deshalb hatte Elisa nichts von dem Plan gewusst. Wer immer die Seiten aus dem Tagebuch gerissen hatte, sie war es jedenfalls nicht gewesen. Sie hatte schlicht keinen Plan gebraucht, weil sie niemals durch den gesamten Tunnel gekrochen war. Das musste sie auch gar nicht. Jäger würde schon dafür gesorgt haben, dass sie zur Klinik herein- und wieder hinauskonnte, wie es ihr gerade beliebte.
Wie auch immer. Er gestand es sich ein: Gegen beide zusammen hatte er keine Chance.
Also, was tun?
Weiterreden.
Er wandte sich erneut an Jäger. „Sie haben Ihren Stiefvater nun also umgebracht.“
„Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit Moralpredigten, Herr Kommissar. Dieser Mensch …“, Jäger deutete auf den toten Mann am Boden, „hat mich um mein Leben betrogen. Er hat alles, wirklich alles, kaputt gemacht. Welches andere Kind sitzt noch nackt und hilflos in seiner eigenen Kotze, mit nichts als Schmerzen und innerer Leere, sagen Sie mir das?“
Zander antwortete nicht darauf und Jäger fügte hinzu: „Es gab nichts – wirklich gar nichts –, was das jemals hätte wieder heilen können. Nichts.“
Und so ist er böse geworden, dachte Zander bei sich. Unglücklich und böse. Er hätte genauso doch noch ein glücklicher und guter Mensch werden können. Unter anderen Umständen. Nur eine einzige Bewegung vielleicht, ein Schritt in eine andere Richtung, und alles hätte anders verlaufen können. Aber daraus war nichts geworden. Jäger war gestolpert. Gefallen. Und jetzt stand er da. Die Fähigkeit zur Empathie verloren. Vom Opfer zum Täter.
Vieles stimmte in diesem Gedankengang. Zu vieles. Aber es fehlte noch etwas: Weinfried Tämmerer. Der Mann, der als Patient in die Psychiatrie kam und damit dafür sorgte, dass endgültig alle Sicherungen in Jäger durchknallten. Was er zuvor noch irgendwie unter Kontrolle halten konnte, wurde in diesem Augenblick mit einem schicksalhaften Knall in die Luft gesprengt. Die Kraft, die Jäger von da an trieb, hatte nichts mit Willen zu tun. Sie war größer. Viel größer. Eine Urkraft: Hass. Blinder, grenzenloser Hass.
„Jetzt bin ich achtundzwanzig Jahre alt“, sagte Jäger in Zanders Gedanken. „Und die meisten Jahre davon war ich tot. Aber dann begegneten Elisa und ich uns auf der Station. Und plötzlich bekam mein Leben eine ganz neue Wendung.“
Zander schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ließ die Bilder vor seiner Netzhaut verblassen, bis alles vollkommen schwarz war. Pechschwarz. Dann öffnete er sie wieder. „Ich nehme an, Sie kamen ins Gespräch, und dabei hat sie Ihnen von der Trauer um ihren verstorbenen Mann erzählt.“
„Ja.“
„Und im Gegenzug erzählten Sie ihr von Annegrets Tagebuch und davon, wie sehr auch diese unter der Trauer um ihren verlorenen Sohn litt.“
Jäger schwieg, und Zander fügte hinzu: „Sie machten Elisa glauben, es gäbe eine Möglichkeit, ihren toten Mann zurückzuholen.“
„Ich fand, diese große Liebe hatte eine zweite Chance verdient.“
„Woher wussten Sie eigentlich von dem Tagebuch?“
„Es fiel mir an jenem Tag in die Hände, an dem die Bücher in der Vitrine nach Alphabet sortiert wurden. Es interessierte mich, ich las und verstand. Denn, wie ich gerade sagte, ich fand, dass die große Liebe zwischen Elisa und ihrem Mann eine zweite Chance verdient hatte.“
„Nein.“ Zander schüttelte den Kopf. „Nein, das ist gelogen. Sie hatten einen ganz anderen Plan, Herr Jäger. Einen wirklich teuflischen Plan. Sie suchten nach jemandem, der Tämmerer für Sie umbrachte, weil Sie selbst den Mut nicht dazu hatten. Campuzano hat ihn vergewaltigt und gebrochen, aber Sie wussten, dass er ihn nicht umbringen würde. Campuzano war zweifellos vieles, aber er war kein Mörder. Sie aber wollten die pädophile Sau tot sehen. Und da bot sich Elisa doch geradezu an. Sie, die ihren verstorbenen Mann so sehr vermisste, muss in ihrer Trauer geradezu wie ein Geschenk des Himmels für Sie gewesen sein. Deshalb haben Sie ihr von Annegrets Tagebuch erzählt und davon, dass es eine Chance gäbe, ihren Mann wieder von den Toten zurückzuholen. Sie haben es ihr ins Gehirn gepflanzt. Und damit haben Sie sie für Ihre ganz eigenen Zwecke gewonnen.“
„Er sagte, wenn ich es tue, wenn ich Tämmerer töte, dann lässt er mich hinterher nicht im Stich“, schaltete Elisa sich nun ein. „Das hat er mir versprochen. Und er hat sich daran gehalten.“
Zander warf ihr einen mitleidigen Blick zu, wandte sich dann wieder an Jäger. „Wie auch immer, sie hat es getan. Und Sie hatten gewonnen. Tämmerer war tot. Elisas Preis waren die Augen des Toten, Ihrer war die Durchführung Ihres Willens. Jetzt aber kam auf einmal etwas ganz anderes hinzu. Auf einmal reichte Ihnen Tämmerers Tod nämlich nicht mehr. Dieses innere Feuer, das war jetzt ganz Ihres. Jetzt wollten Sie auch den anderen tot sehen. Den noch viel Grausameren. Den, der in Ihren Augen noch viel mehr Schaden angerichtet hat, als Tämmerer ihn jemals hätte anrichten können. Und so haben Sie das Spiel weitergespielt und Elisa auf ein Neues eingespannt. So war es doch, nicht wahr?“
Jäger reagierte immer noch nicht, und Zander atmete tief durch. „Laut dem Tagebuch brauchte sie ja immer noch vier Körperteile und da sagten Sie ihr, es gäbe da noch jemanden, der wäre geradezu perfekt, weil er ein schlechter Mensch sei und niemand ihn vermissen würde. Und erneut sprang Elisa darauf an. Sie hat Ihren Stiefvater getötet, Herr Jäger, weil Sie schon wieder nicht den Mut dazu hatten, es selbst zu tun.“
„Ich rief ihn gestern Abend an“, sagte Jäger nun. „Wissen Sie, was das für mich bedeutete? Nach all den Jahren wieder mit ihm zu sprechen? Ich hatte Glück, er war nüchtern. Und er hörte sich tatsächlich so an, als würde er sich freuen, meine Stimme zu hören. Können Sie sich das vorstellen? Ich sagte ihm, dass ich mich mit ihm treffen wolle, und er ging sofort darauf ein. Was für ein erbärmlicher Idiot. Wir trafen uns mit ihm, und Elisa hat den Mistkerl dann erschossen. Während sie ihm die Waffe in den Nacken drückte, hab ich ihm ins Gesicht gespuckt. Was denken Sie darüber, Herr Kommissar?“
„Ich denke, dass Sie sehr weit vom rechten Weg abgekommen sind.“
„Wenn Sie das so sehen wollen. Ich halte das, was ich getan habe, eher für einen Geniestreich. Denn am Ende kam es so, wie es kommen musste: Er ist tot. Und kurz bevor er starb, hat er sich noch in die Hosen gepinkelt vor Angst. So, wie ich mir früher auch in die Hosen pinkelte. Und er hat gewinselt. Wie ich auch gewinselt hatte. Keine Gnade für mich damals. Heute keine Gnade für ihn. Das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit.“
„Genau“, schaltete Elisa sich wieder ein. „Und jetzt wird er mir die Nieren spenden. Endlich ein gutes Werk von ihm, nicht wahr? Jetzt fehlen mir nur noch das Herz und das Blut. Aber mit Ihnen und Ihrer Kollegin, Herr Kommissar, habe ich alles zusammen. Von Ihnen das gesunde, kräftige Herz. Und von ihr das Blut. Und damit wird es dann enden. Es wird mein Meisterstück.“
In dem Moment verstand Zander, dass Elisa überhaupt nichts verstanden hatte. Hatte sie nicht zugehört? Wollte sie nicht verstehen? Verdrängte sie? Wollte sie mit aller Gewalt an das glauben, was ihr Jäger eingetrichtert hatte? Oder war sie schlicht so verrückt, dass nichts mehr zu ihr durchdrang?
„Elisa, verstehen Sie nicht, was passiert ist?“, sprach er sie an.
Sie schien die Frage nicht gehört zu haben, denn sie schürzte die Unterlippe und sagte statt einer Antwort: „Ich gebe zu, der erste Mord war am schwierigsten. Ich kam zwar ohne Probleme in Tämmerers Zimmer, aber es dauerte doch länger, als ich dachte, bis ich endlich abdrückte. Und das mit den Augen … das war wirklich eine Heidenarbeit. Nicht angenehm.“ Pause.
„Campuzano hingegen, nun ja, das war ein Kinderspiel. Er war eine ruhelose Seele, getrieben vom Drang nach Abenteuern und Aufregungen. Außerdem dürstete er nach Sex und Leidenschaft. Das ist ein schöner Ausdruck, nicht wahr? Das alles gab es in der Psychiatrie aber leider nicht. Jedenfalls nicht für ihn. Da sollte Ilona Walter seine Erlösung sein. Seine Hure. Wir ließen ihm eine Nachricht zukommen, in dem sie sich ihm feilbot, und er fiel darauf herein. Er glaubte tatsächlich, er könne Sex mit dieser Frau haben. Können Sie sich das vorstellen, Herr Kommissar?“
„Warum musste Campuzano überhaupt sterben?“, wollte Zander an Jäger gewandt wissen. „Sie hatten doch, was Sie wollten. Ihr Stiefvater war längst tot.“
Als er keine Antwort darauf bekam, reimte er es sich selbst zusammen: „Elisa gab keine Ruhe, nicht wahr? Sie wollte unbedingt die letzten drei Teile haben, die ihr noch fehlten. Und da beschlossen Sie, Campuzano zu opfern, denn was machte das schon aus? Er war ein Freak, jedermann hatte Angst vor ihm. Kein angenehmer Geselle. Wer würde ihn schon vermissen?“ Zander brach kurz ab, ließ den Pfleger dabei nicht aus den Augen. „Am Ende starb er nur, weil Elisa Sie in der Hand hatte. Aber was machen Sie, wenn sie alle fünf Teile beisammenhat und bemerkt, dass es doch nicht funktioniert? Was machen Sie, wenn sie verstanden hat, dass Sie sie nur benutzt haben? Wollen Sie dann Elisa umbringen? Das können Sie doch gar nicht, wie wir inzwischen wissen. Sie haben für einen Mord doch gar nicht den Mumm in den Knochen.“
In Jägers Gesicht spiegelte sich nun etwas, was nicht zu deuten war.
Elisa indessen machte, als hätte sie all das überhaupt nicht gehört, eine kleine Geste mit der Hand. „Als ich in Campuzanos Zimmer kam, war er schon nackt. Wie lächerlich. Aber immerhin, dank der Pistole und der Drogen brachte ich ihn dazu, sich vor das Bett zu knien und noch ein kleines Gebet zu sprechen, ehe ich ihn erschoss. Vermutlich war es das erste Gebet seines Lebens. Und gleichzeitig das letzte.“
„Wer hat ihm das PCP gespritzt?“ Zander wandte sich erneut an Jäger. „Sie?“
Er lächelte leicht. „Natürlich. Ich nehme es selbst seit Jahren, um mich zu beruhigen, wenn die Bilder in meinem Kopf gar nicht mehr auszuhalten sind.“
„Haben Sie sich das Zeug auf der Station beschafft?“
„Aber nein. Das wäre doch sofort aufgefallen. Man kann es überall auf der Straße kaufen, das ist kein Hexenwerk. Campuzano sagte ich, dass Malwik es angeordnet hätte und dass es gut wäre für seine Nerven. Und das war ja immerhin nicht gelogen, nicht wahr? Ich spritzte es ihm etwa eine halbe Stunde bevor Elisa die Sache übernahm.“
„Und Viktor …“, setzte Elisa wieder hinzu. „Nun ja, der gute alte Viktor. Er sah mich, als ich aus Campuzanos Zimmer kam. Das war dumm. Ihn wollte ich niemals umbringen. Natürlich, er war vergesslich, aber konnte ich mir wirklich sicher sein, dass er sich nicht doch in einem klaren Moment an mich erinnern würde? Dann wäre mein wundervoller Plan am Ende doch noch gescheitert, und das konnte ich unmöglich zulassen.“
Zander hob die roten Augenbrauen in die Höhe. Der alte Viktor war auch tot?
„Denken Sie nicht schlecht von mir, Herr Kommissar“, redete Elisa weiter. „Es ist doch alles für die gute Sache geschehen. Mein Mann war ein guter Mann. Gott hätte ihn mir nicht nehmen dürfen. Ich habe ihn geliebt.“ Ihre Augen wurden feucht.
Zanders Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Gab es denn wirklich nichts, was er tun konnte, außer immer nur weiter zu reden? „Sie können Ihren toten Mann nicht wieder zurückholen, Elisa. Verstehen Sie das nicht? Sie wurden von Jäger benutzt. Er hat Sie manipuliert.“
„Ach, was wissen Sie denn schon.“ Das flackernde Licht warf Schatten an die Wände, die wie Geister aussahen, die um Elisa herumtanzten. „Es wird funktionieren. Ich habe alles im Griff, habe mich schließlich lange genug darauf vorbereitet. Und wer weiß, irgendwann vielleicht werden Sie mich sogar verstehen. Natürlich weiß ich, dass ich zur Mörderin geworden bin. Aber es gab nun mal keine andere Möglichkeit. Der Zweck heiligt die Mittel, nicht wahr?“
Immer weiter arbeitete Zanders Gehirn auf Hochtouren. Er hob die Hand und deutete auf Jäger. „Elisa, dieser Mann ist hinterhältig und feige. Er hatte nicht den Mut, selbst zu morden, deshalb brauchte er Sie. Und nur deshalb.“
„Das ist nicht wahr. Er ist ein guter Junge.“
„Er hat Sie zur Mörderin gemacht. Er weiß genau, dass Ihr Mann nicht wieder von den Toten auferstehen wird.“
„Das ist nicht wahr. Er hilft mir. Er hat es versprochen.“
Zander atmete tief durch. Nichts zu machen. Er kam nicht an sie heran. Dann eben andersherum: „Wollen Sie meine Kollegin und mich wirklich umbringen, Elisa? Polizisten? Haben Sie gut darüber nachgedacht?“
„Aber natürlich.“ Sie hob die Schultern. „Sie beide werden mir dabei helfen, meinen Mann wieder zum Leben zu erwecken. Ist das nicht ein gutes Gefühl? Sie sterben für eine gute Sache, Herr Kommissar.“
Langsam bekam es Zander wirklich mit der Angst zu tun. „Sie können uns nicht einfach so töten, Elisa. Ein Teil von Ihnen weiß, dass Sie sich verrannt haben. Ein Teil von Ihnen weiß, dass Jäger Ihnen etwas vorgemacht hat. Dass er Sie nur benutzt hat. Tief in sich sehnen Sie sich doch danach, dass es endlich vorbei ist. Tief in sich wollen Sie, dass es endlich ein Ende hat.“
Jäger lachte leise auf. „Freud ist out, Herr Kommissar. Und Sie und Ihre Kollegin sind es auch. Elisa ist mit ihrem Mann gestorben, und jetzt wird sie mit ihm gemeinsam wieder auferstehen. Das können Sie nicht verhindern.“
Das war offenbar genau das, was Elisa hören wollte, denn sie nickte entschieden, sagte: „Genau.“ Und entsicherte die Waffe. „Ich bin eine Frau, die dem Diktat ihres Herzens folgt. Für mich gibt es nichts anderes. Und wenn irgendjemand behauptet, es wäre Wahnsinn, was ich tue, dann frage ich: Welches Herz ist wahnsinniger als jenes, dem bedingungslose Liebe entrissen wurde?“
„…urde …“, hallte es von den Wänden zurück.
„Elisa und ihr Mann werden wieder zusammenkommen“, sprach Jäger weiter. „Dafür hat sie das alles getan, und dabei werde ich ihr auch weiterhin helfen.“ Er wandte sich an sie. „Tun Sie es, Elisa. Sie brauchen nur noch das Blut und das Herz. Sie sind ganz nahe dran.“
„Geben Sie mir die Waffe, Elisa“, sagte Zander gleichzeitig und hob die linke Hand in die Höhe. „Es ist vorbei.“
„Aber nein“, sagte sie. „Herr Jäger hat recht. Mein Mann befindet sich am falschen Ort, und ich gleiche dieses entstandene Unrecht wieder aus.“ Damit lächelte sie und hielt ihm die Pistole an seine Stirn.
Das ist der Moment, in dem die Erde aufhört, sich zu drehen.
Der Moment, in dem alle Uhren stehen bleiben, sich nichts mehr bewegt.
Der Moment, in dem man weiß, es gibt keine Hoffnung mehr.
Der Moment, in dem man mit dem Leben abschließt.
Und dann, wie aus dem Nichts, die Worte: „Warum ihn? Warum nicht mich?“