49. KAPITEL

Gott wird den Drachen vertreiben

Was Michael Tech gegen 1:29 Uhr von sich gab, hatte zwar weder Punkt noch Komma, war dafür aber gespickt mit Flüchen jedweder Art, während er von links nach rechts sprintete und dann wieder von rechts nach links, mit wehenden Haaren und langen Sätzen.

Schließlich kam er zu Susanne zurück und sagte: „Plaudern wir ein wenig, Frau Grimm. Erzählen Sie mir, warum Sie den alten Mann umgebracht haben.“

Susanne, die sich gerade mühte, mit zitternden Fingern und roten Augen ein neues Päckchen Zigaretten aus der Folie zu pellen, sah irritiert auf. „Ich?“ Ihr Blick ging in Richtung Julia, die mit dem Rücken an der Wand lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt. „Julia! Der denkt, ich hätte Viktor das angetan!“

Keine Reaktion von Julia. Sie sagte nichts, bewegte sich nicht, zuckte mit keiner Wimper.

„Ich versuche mir nur einen Reim auf all das zu machen“, fügte Tech hinzu.

Susanne sah ihn wieder an. „Und ich versuche, mir einen Reim darauf zu machen, wie Sie auf so einen Schwachsinn kommen! Warum hätte ich Viktor etwas antun sollen? Er war harmlos. Ein harmloser alter Mann.“

Tech legte den Kopf in einem ganz merkwürdigen Winkel zur Seite. „Ich glaube, dass es eine Verbindung zwischen Ihnen beiden gab. Eine Verbindung, die etwas mit den anderen beiden Morden zu tun hat.“

„Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz bei Trost?“

„Ich glaube, dass der alte Viktor etwas wusste“, sprach Tech weiter. „Etwas über Sie. Und mit diesem Wissen hat er Sie erpresst. Und deshalb haben Sie ihn erschossen.“

Susanne schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Sie haben sie ja wirklich nicht mehr alle!“

„Dann überzeugen Sie mich vom Gegenteil, Frau Grimm.“ Tech lächelte ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. Kaum einmal die Wangen. „Warum sollte es nicht so sein?“

„Weil Viktor über achtzig und schwer dement war“, schaltete Julia sich nun doch ein. „Wie hätte er Susanne erpressen sollen? Er konnte sich ja kaum noch an das erinnern, was er vor zwei Minuten gesagt oder getan hatte.“

Tech wandte ihr den Blick zu. „Selbst wenn es im ersten Moment unwahrscheinlich erscheint“, sagte er mit etwas im Ton, was Überzeugung darstellen sollte, „so gibt es doch gute Gründe, einen Moment länger darüber nachzudenken.“

„Und mit was für einem Motiv soll Susanne die anderen beiden Morde begangen haben?“, wollte Julia wissen.

„Das weiß ich noch nicht. Allerdings …“

„Und wo hat sie die Tatwaffe versteckt?“

Wieder sah Tech Julia einen Moment lang an. „Auch darauf habe ich im Moment noch keine Antwort …“

„Dann steht Ihre Beweisführung aber auf ziemlich wackligen Beinen.“ Julia richtete sich etwas auf. „Davon abgesehen kann Susanne Viktor nicht angegriffen haben, weil sie fast den ganzen Abend mit mir zusammen war.“

„Was heißt das, fast?“

„Ich war einmal kurz weg, bei Frau Gärtner im Büro, und in der Zeit hatte sie Besuch. Sie war also kaum länger als ein paar Minuten allein.“

„Ein paar Minuten hätten gereicht, um den alten Mann zu erschießen“, stellte Tech fest.

„Das ist Käse.“ Julia winkte ab, und er wandte sich wieder an Susanne. „Wer hat Sie besucht, Frau Grimm?“

Susanne warf wiederum Julia einen Blick zu.

„Ein alter Bekannter von mir“, sagte diese.

„Wer? Setzen Sie mich ins Bild, Frau Wagner.“

„Das geht Sie nichts an.“

Tech hob die Hände in die Höhe. „Sie erzählen mir gerade, ein alter Bekannter von Ihnen – der offenbar als Alibi dienen soll, dessen Namen Sie aber nicht nennen wollen – wäre im Zimmer meiner Hauptverdächtigen gewesen. Was aber nicht sein kann, weil innerhalb der letzten Stunden niemand die Klinik betreten, geschweige denn wieder verlassen hat, von dem wir nicht wüssten.“

„Tja, da können Sie mal sehen, wie gut Ihre Leute ihren Job machen“, sagte Julia. „Der Mörder konnte völlig unbehelligt Campuzano umbringen und kurz darauf den alten Viktor erschießen, ohne dass auch nur einem von Ihnen irgendetwas aufgefallen wäre. Und wer hier sonst noch so alles ein und aus geht, ohne dass Sie es bemerken, davon haben Sie nicht mal den blassesten Schimmer, Herr Tech.“ Julia weigerte sich auch weiterhin mit konstanter Bosheit, ihn Herr Kommissar zu nennen.

Und daraufhin folgte auch erst einmal Schweigen.

Tech war allerdings dermaßen leicht zu durchschauen, dass sie die Worte, die er dann als Nächstes sagte, stumm mitsprechen konnte: „Ich bin davon überzeugt, die Mörderin gefunden zu haben.“

„Und noch einmal: Sie kann es nicht gewesen sein.“

„Und noch einmal: Ein paar Minuten hätten gereicht, um den alten Mann zu erschießen.“ Ja, Tech war sich sicher. „Sie hat den alten Viktor unschädlich gemacht, weil er sie erpresste, das ist das Motiv.“

„Welches Sie nicht beweisen können.“ Julia verschränkte wieder die Arme vor der Brust. „Persönliche Eindrücke reichen leider nicht aus.“

„Das Motiv herauszufinden wird der nächste Schritt der Ermittlung sein.“

„Ich war es wirklich nicht“, sagte Susanne dazwischen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich hab Viktor nichts getan. Es war genau so, wie Julia gesagt hat. Wir waren fast den ganzen Abend zusammen.“

Tech wandte ihr den Blick zu. „Bis auf die paar Minuten, in denen Frau Wagner Sie alleine ließ. Bevor Sie den Besuch erhielten.“

Susanne nickte.

„Von einem alten Bekannten, dessen Namen auch Sie nicht nennen wollen.“

„Dessen Namen ich nicht kenne.“

„Warum hat er Sie dann besucht?“

Wieder warf Susanne Julia einen Blick zu.

„Er war wegen mir bei ihr“, sagte diese.

Tech lächelte dünn. „Warum, Frau Wagner?“

„Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, das geht Sie nichts an.“ Julia stieß sich von der Wand ab und begann an den Fingern aufzuzählen. „Hören Sie, Sie wollen Susanne einen Mord anhängen, und das kriegen Sie nicht hin. Sie versuchen mit aller Gewalt, ein Motiv zusammenzubasteln. Das kriegen Sie nicht hin. Sie wollen ihr die beiden anderen Morde unterschieben, und auch das kriegen Sie nicht hin, denn dafür werden Sie weitere Motive aus dem Hut zaubern müssen, und das kriegen Sie erst recht nicht hin. Was auch immer Sie hier versuchen, Sie kriegen es nicht hin.“

Susanne schluckte und zog an ihrer Zigarette.

Tech hingegen drehte jetzt erst so richtig auf. Offenbar gab es ihm ein gutes Gefühl, eine Tatverdächtige vorweisen zu können, auch wenn seine Theorie noch so haarsträubend war. „Ich habe die Mörderin. Davon bin ich überzeugt.“

„Um Himmels willen, seien Sie doch nicht so dumm!“, entfuhr es Susanne.

„Gehen Sie auf Ihr Zimmer, Frau Grimm. Und bleiben Sie dort. Ich komme auf Sie zurück.“

Charlotte stieg aus ihrem Wagen und richtete den Blick nach vorne. Es gab keine Straßenbeleuchtung, nur eine Laterne am Haus des Pastors spendete ein fahles Licht. Sie ging darauf zu, klingelte, und als nichts geschah, blickte sie durchs Fenster.

Zander, der um die Ecke verschwunden war, rief leise: „Frau Gärtner …“

Sofort war sie bei ihm. „Was ist?“

„Riechen Sie das?“

Charlotte nickte.

Sie folgten dem Geruch, der immer stärker wurde und schon bald darauf scharf in ihren Kehlen brannte. Dann vernahmen sie eine Stimme, die ein unverständliches Lied sang. Schließlich waren sie hinter dem Haus angekommen und sahen nun eine Art Lichtung, in deren Mitte sich ein gewaltiges Feuer befand, das die gesamte Szene in ein eigentümliches, gespenstisches Licht tauchte.

Pastor Gans hatte sich in ein langes, dunkles Gewand gehüllt. Während Zander und Charlotte sich ihm von hinten näherten, reckte er die Arme in die Höhe und starrte wie hypnotisiert in Richtung Himmel. „Ich erbitte deinen Segen, oh Herr, für ihre Seelen.“ Dann begann er wieder zu singen. Sein Oberkörper wiegte dabei langsam hin und her, und während er dann den Arm hob, um das Buch, das er in der Hand hielt, ins Feuer zu werfen, machte Zander eilig einen Satz nach vorne und schnappte es sich.

„Wir stören nur ungern, Herr Pastor“, sagte Charlotte gleichzeitig, „aber Sie verstehen sicher, dass wir das nicht zulassen können.“

Erschrocken starrte Theo Gans sie an. Und da er wirklich zutiefst erschrocken war, nutzte Charlotte die Gelegenheit und fügte hinzu: „Ich nehme an, das ist das Tagebuch von Annegret Lepelja. Wann haben Sie verstanden, dass der Mörder in der Psychiatrie ihre Morde kopiert?“

Mit zitternden Fingern griff der Pfarrer in seine Hosentasche, fischte ein Päckchen Tabak heraus und begann, sich umständlich eine Zigarette zu drehen. „Weinfried Tämmerers Tod hat mich sehr schockiert.“

„Das ist nicht die Antwort auf meine Frage.“

„Nein. Natürlich nicht. Als ich erfuhr, dass ihm die Augen entfernt worden waren, da kam mir zum ersten Mal der Gedanke …“

„Und als Ihnen dieser Gedanke kam, da kam es Ihnen nicht gleichzeitig in den Sinn, der Polizei von Ihrer Vermutung zu erzählen?“

„Es gibt Dinge, über die man nicht einmal mit der Polizei spricht. Außerdem war ich ja auch gar nicht sicher.“

Charlotte machte einen kleinen Schritt nach vorne. „Indem Sie es für sich behalten haben, klebt Blut an Ihren Händen, Herr Pastor.“

Gans zündete die Zigarette an und inhalierte tief. „Wie gesagt, ich war mir ja gar nicht sicher. Erst nach dieser Beichte …“ Er brach ab und klappte den Mund zu.

„Nach welcher Beichte?“, fragte Charlotte sofort.

Keine Antwort.

„Nach welcher Beichte, Herr Pastor?“

Es dauerte noch einen Moment, dann sagte Gans: „Der Mörder hat mir gebeichtet. Ich habe ihm eine Mordbeichte abgenommen.“

„Was?“ Charlotte befürchtete, sie bekäme auf der Stelle einen Schlaganfall. Ihr Hals schwoll auf jeden Fall schon einmal bedenklich an, und ihr Herzschlag vervierfachte seine Frequenz ohne Vorwarnung.

Die Hand des Pfarrers fing nun derart an zu zittern, dass er beinahe die Zigarette zwischen den Fingern verlor. Unruhig verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere. „Ich konnte es Ihnen nicht sagen, Frau Kommissarin. So eine Beichte geschieht im Vertrauen. Ich musste mich darauf verlassen, dass Sie den Mörder von selbst überführen.“

„Was?“, entfuhr es Charlotte noch einmal, woraufhin Zander eine Hand auf ihren Arm legte. Mit einer einzigen, heftigen Bewegung schüttelte sie sie sofort wieder von sich ab und zischte: „Sagen Sie mir jetzt nicht, dass ich mich beruhigen soll!“ Dann wieder an Theo Gans gewandt: „Womit hat ein eiskalter Mörder wohl ein solches Gottvertrauen verdient, Herr Pastor?“

Gans starrte zu Boden. „Ich bin ein geweihter Priester Gottes. Ich muss die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten ernst nehmen. Alle Menschen. Gott wird den Drachen vertreiben.“

Noch einmal legte Zander eine Hand auf Charlottes Arm, und wieder schüttelte sie sie ab. „Ich will Ihren Glauben ja nicht diskreditieren, Herr Pastor, aber nach Tämmerer sind noch zwei weitere Verbrechen geschehen. Wo, bitte schön, ist da irgendwas von Ihrem Gott vertrieben worden?“

Gans’ Gesicht lief rot an. „Ich weiß, dass Sie es nicht verstehen, und doch handelt es sich bei der Wahrung des Beichtgeheimnisses um eine der grundlegenden Pflichten meines Amtes. Ich konnte es Ihnen nicht sagen. Unmöglich.“

Charlotte nahm den Blick nicht von ihm. „Sie haben die Stimme bei der Beichte erkannt, nicht wahr? Sie wissen, wer der Mörder ist.“

Der Pastor schwieg, und nach etwa zehn schrecklich langen Sekunden, in denen sie alle drei vollkommen unbeweglich dastanden, nahm Charlotte endlich den Blick von ihm und wandte sich an Zander. „Also gut. Lassen Sie uns lesen, was in dem Buch steht, damit wir die Sache endlich zum Ende bringen können.“

Todesruhe
titlepage.xhtml
02_dedication-title.html
02b_dedication-title.html
03_book-title.html
04_copyright-title.html
02a_dedication-title.html
05_book-halftitle.html
06_prologue-title.html
07_chapter-title-1.html
08_chapter-title-2.html
09_chapter-title-3.html
10_chapter-title-4.html
11_chapter-title-5.html
12_chapter-title-6.html
13_chapter-title-7.html
14_chapter-title-8.html
15_chapter-title-9.html
16_chapter-title-10.html
17_chapter-title-11.html
18_chapter-title-12.html
19_chapter-title-13.html
20_chapter-title-14.html
21_chapter-title-15.html
22_chapter-title-16.html
23_chapter-title-17.html
24_chapter-title-18.html
25_chapter-title-19.html
26_chapter-title-20.html
27_chapter-title-21.html
28_chapter-title-22.html
29_chapter-title-23.html
30_chapter-title-24.html
31_chapter-title-25.html
32_chapter-title-26.html
33_chapter-title-27.html
34_chapter-title-28.html
35_chapter-title-29.html
36_chapter-title-30.html
37_chapter-title-31.html
38_chapter-title-32.html
39_chapter-title-33.html
40_chapter-title-34.html
41_chapter-title-35.html
42_chapter-title-36.html
43_chapter-title-37.html
44_chapter-title-38.html
45_chapter-title-39.html
46_chapter-title-40.html
47_chapter-title-41.html
48_chapter-title-42.html
49_chapter-title-43.html
50_chapter-title-44.html
51_chapter-title-45.html
52_chapter-title-46.html
53_chapter-title-47.html
54_chapter-title-48.html
55_chapter-title-49.html
56_chapter-title-50.html
57_chapter-title-51.html
58_chapter-title-52.html
59_chapter-title-53.html
60_chapter-title-54.html
61_chapter-title-55.html
62_chapter-title-56.html
63_chapter-title-57.html