23. KAPITEL
Blut und Lärm
Ein leises Wimmern auf dem Flur rief Heide Sacher auf den Plan.
Schon wieder Zekine Yilmaz. Dieses Mal kauerte sie an der gegenüberliegenden Wand, und aus ihrem Wimmern wurde ein immer lauteres Stöhnen. Dieses Stöhnen wiederum steigerte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem lang gezogenen Schrei.
„Frau Yilmaz!“ Heide sprang auf die junge Frau zu und packte sie bei den Schultern.
„Nein!“, schrie Zekine und schlug ihre Hände weg.
Erst nachdem sie wieder miteinander gerungen und Heide sie ein paarmal kräftig geschüttelt hatte, schien die Frau wieder zu sich zu kommen. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie zu der Pflegerin auf: „… nicht wiedergutzumachen!“
Auf dem Flur war es totenstill. Aus den Augenwinkeln konnte Heide sehen, dass die anderen Patienten gespannt beobachteten, was gerade passierte.
„Ganz ruhig“, sagte sie und tätschelte Zekine die Wange, als hätte sie ein kleines Kind vor sich. „Beruhigen Sie sich.“
„Ich bin schuld.“ Die junge Frau schluckte. „Er hat geschrien. Und es roch … Es roch …“ Sie brach ab und schüttelte sich. „Mir ist schlecht.“
„Sie brauchen etwas zur Beruhigung.“ Heide zog sie in die Höhe. „Danach legen Sie sich hin und schlafen ein wenig. Wenn Sie wieder aufwachen, werden Sie sehen, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“
Zekine befreite sich jedoch aus dem Griff und taumelte davon. Vor ihrer Zimmertür sackte sie erneut in die Knie.
„Mein Gott …“, flüsterte Heide und folgte ihr eilig.
Die junge Frau rappelte sich wieder auf und blieb schwankend stehen. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie hintenüberkippen, doch dann fand sie das Gleichgewicht wieder und legte die Hand auf den Türgriff.
„Frau Yilmaz“, sagte Heide.
In der nächsten Sekunde holte Zekine mit dem Kopf aus und ließ ihn mit Schwung nach vorne fallen.
„Frau Yilmaz!“
Blut rann der Patientin in einem kleinen Rinnsal über den Nasenrücken. Dann brach sie in grausiges Geheul aus. Das Geräusch war schneidend wie ein Sägeblatt. Dann schlug sie noch einmal den Kopf gegen die Tür. Und noch einmal.
„Tut doch was!“, schrie jemand.
Doch da hatte Heide Zekine schon gepackt. „Beruhigen Sie sich! So beruhigen Sie sich doch, um Himmels willen!“ Dann rief sie nach ihrem Kollegen: „Jan!“ Wo verdammt noch mal war er? Warum half er ihr nicht?
Die junge Frau röchelte. Es klang wie ein Fisch auf dem Trockenen. Aber es war nichts weiter als ein hilfloses Schluchzen.
Und während Heide weiter versuchte, sie zu beruhigen, hörte sie ihre eigene Stimme, die ein Gebet in Richtung Himmel sprach: „Bitte, lieber Gott! Bitte mach, dass das wieder aufhört!“
Zwei Stunden später brannte die Sonne bereits wie ein monströser Scheinwerfer durch die vergitterten Fenster und setzte den Speiseraum in ein derart helles Licht, dass man eigentlich eine Sonnenbrille gebraucht hätte, um es darin auszuhalten.
Susanne jedoch bemerkte es gar nicht. Sie wischte mit einem Lappen die Tische ab, wie es ihr aufgetragen worden war. Jeder Nerv in ihrem Körper vibrierte. Ihr Magen rebellierte. Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte, versuchte, immer noch zu begreifen, was da am Morgen geschehen war.
Seltsamerweise war sie nicht einmal sonderlich schockiert. Dass die Menschheit schlecht war, das war ja nun wirklich nichts Neues. Und dass sie sich von Anfang an nicht in der Person Britta Stark geirrt hatte, erleichterte Susanne schon beinahe.
Immer wieder dieses eine Wort: Wir.
Zum x-ten Male fragte Susanne sich, was zum Teufel diese Anwältin und die Leute, die offenbar hinter ihr standen, ausgerechnet von Julia wollten.
Auf jeden Fall musste es sich um etwas ganz Außergewöhnliches handeln, denn solch ein Angebot, wie Britta Stark es ihr vorhin gemacht hatte, unterbreitete man einem Menschen nicht mal einfach so aus purer Nächstenliebe. Wie man auch einen potenziellen Vergewaltiger, dem eine Glasscherbe in den Rücken gerammt worden war, nicht einfach mal so dazu brachte, seine Anzeige zurückzunehmen und sich damit die Genugtuung entgehen zu lassen, zu beobachten, wie sie, Susanne, verurteilt wurde und hier drinnen langsam verschimmelte. Man tat es nur, wenn man einen wirklich guten Grund dafür hatte.
Auf der anderen Seite bedeutete es für Susanne eine unverhoffte Chance. Eine Chance auf Freiheit. Alles, was sie jetzt noch um sich herum sah, konnte schon bald Vergangenheit sein. Allerdings musste sie dafür einen anderen Menschen verraten.
Das ist es, dachte sie bei sich, während sie weiter mit heftigen Bewegungen die Tische abwischte. Das ist das Wort: Verrat.
Wut stieg in ihr auf, weil es so ungerecht war. Weil es alle Dimensionen ihres Denkens sprengte, alle Dimensionen dessen, was sie sich bisher hatte ausmalen können. Und trotzdem begriff sie es gleichzeitig mit glasklarer Deutlichkeit, auch wenn es in seiner ganzen Endgültigkeit noch nicht ganz zu ihr durchdrang. Noch stand eine Wand zwischen ihr und der Erkenntnis, dass an diesem Morgen etwas geschehen war, was ihr ganzes weiteres Leben prägen würde.
Was sie jetzt tun würde? Sie hätte es in dieser Sekunde nicht sagen können.
Bis gestern hatten sie und Julia überhaupt nicht miteinander gesprochen. Nun erinnerte sie sich daran, wie sie mit ihr zusammen im Aufenthaltsraum das Gespräch mit der Kommissarin geführt hatte. Wie sie anschließend gemeinsam über den Flur gegangen waren und Julia Susannes Fragen beantwortet hatte. Unwillig, beinahe zähneknirschend. Nein, diese Frau suchte keine Hilfe, keine Nähe, keine Unterstützung. Diese Frau wollte alleine sein, auch in den schwärzesten Stunden. Trotzdem hatte Susanne ihre Einsamkeit gespürt. Genau genommen hatte sie Julia als den einsamsten Menschen auf der ganzen Welt empfunden.
Und nun stand sie da und fragte sich, was wohl passieren würde, wenn sie sich auf Britta Starks Vorschlag einließ. Dabei hatte sie sich die Frage doch längst selbst beantwortet. Sie würde zur Verräterin werden. Was mit Julia geschah, konnte sie zu diesem Zeitpunkt nicht einmal im Entferntesten abschätzen.
„He! Das ist mein Hemd!“
Abrupt aus ihren Gedanken gerissen, richtete Susanne sich auf und wandte sich um. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie begriff, dass Robert Campuzano den Lappen meinte, mit dem sie die Tische abwischte. „Nein“, sagte sie, als sie es endlich begriffen hatte. „Das ist ein Putzlappen.“
„Gib mir mein gottverdammtes Hemd zurück, du missgebürtige Kakerlake!“
„Ich hab von Jäger den Auftrag bekommen, die versifften Tische abzuwischen. Und das ist ein Putzlappen.“
Campuzano griff nach dem Hemd und riss daran. „Das ist mein Hemd, verdammt noch mal!“
Susanne riss ebenfalls an dem Hemd. „Und ich sage, es ist ein Putzlappen.“
Beide zerrten so lange an dem Kleidungsstück herum, bis es in der Mitte zerriss.
„Gut gemacht“, sagte Susanne zufrieden. „Jetzt haben wir zwei Putzlappen.“
Der Musiker fing an zu knurren und wollte auf sie losgehen, gerade in dem Moment, als Jäger in den Speiseraum eilte und dazwischenging. „Auseinander, sofort!“
„Die Irre hat mein Hemd ruiniert!“
„Putzlappen. Und jetzt: zwei Putzlappen.“
Jäger hob eine Hand in die Höhe. „Zeit, dass wir alle wieder erwachsen werden. Herr Campuzano, Sie verschwinden. Bis zum Mittagessen will ich Sie hier nicht mehr sehen. Frau Grimm, Sie machen Ihre Arbeit hier zu Ende.“
„Aber nicht mit meinem Hemd!“
„Kein Hemd. Zwei Putzlappen.“
„Die Alte hat mein Hemd ruiniert!“
„Ich bin sicher, dass es da nicht mehr viel zu ruinieren gab“, sagte Jäger. „Und jetzt raus hier. Sofort.“
Campuzano knurrte noch einmal, ballte die Überreste seines Hemdes in der Faust und stürmte aus dem Raum. „Halt dich bloß von meinen Sachen fern, du elende, mistige Kröte, sonst beiß ich dir die Finger in Knöchelhöhe ab!“
„Ganz bestimmt hab ich Angst vor so einem Stück Scheiße auf zwei Beinen!“, rief Susanne hinter ihm her, wurde aber sofort von Jäger zurückgepfiffen.
„Sie machen hier weiter! Und hören Sie gefälligst auf, ihn ständig zu provozieren.“
Damit verließ er den Speiseraum und schritt über den Flur zum Essenswagen.
In der Scheibe zum Pflegerzimmer spiegelte sich sein Gesicht. Eine starre Maske mit fahler, eingefallener Haut. Er schreckte vor sich selbst zurück, während er versuchte, das Vakuum zu durchbrechen, das sich in seinem Kopf befand. Er versuchte, sich daran zu erinnern, was letzte Nacht eigentlich genau passiert war. War er aus der Wohnung gegangen oder hatte er sich zu Hause betrunken? Es fiel ihm nicht mehr ein. Als er sich das nächste Mal umdrehte, sah er sich Charlotte gegenüber.
„Hallo, Herr Jäger. Viel zu tun?“
„Das Übliche. Was gibt’s, Frau Kommissarin?“
„Ich wollte noch einmal mit Ihnen über Weinfried Tämmerer sprechen.“
Jäger legte einen Stapel weißer Papierservietten auf den Speisewagen. „Warum?“
Charlotte deutete auf die Servietten. „Liegen die immer dort?“
„Ja. Jeden Morgen, jeden Mittag, jeden Abend.“
„Immer auf dem Speisewagen?“
„Ja. Warum wollen Sie noch einmal mit mir sprechen?“
„Nun ja, es kann durchaus sein, dass wir gestern etwas übersehen oder vergessen haben.“
Jäger neigte den Kopf etwas zur Seite, während er nun gewissenhaft auf jedes Tablett eine winzige Cocktailtomate legte. „Zum Beispiel?“
„Zum Beispiel haben wir gestern nicht darüber gesprochen, dass Weinfried Tämmerer nicht besonders beliebt war auf der Station. Im Gegenteil, er ist schwer schikaniert worden.“
Jägers Blick wurde dunkel, aber er schwieg, konzentrierte sich weiter auf seine Arbeit.
Nach ein paar Sekunden seufzte Charlotte leise, aber vernehmlich auf. „Sie werden sich schon ein bisschen mehr Mühe geben müssen.“
Nun sah er sie an, und erst jetzt stellte sie fest, dass seine Augen veilchenblau waren. „Die anderen Patienten mochten ihn nicht, das stimmt. Sie haben ihn teilweise schwer eingeschüchtert. Eben nicht gut behandelt.“
„Gilt das auch für Robert Campuzano?“
„Vor allem für ihn.“
„Erzählen Sie mir mehr.“
„Sagen wir es so: Campuzano hat hier einfach zu viel Zeit und erfindet deshalb jede Menge ‚Motive‘, um Mist zu bauen.“ Jäger machte mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. „Bei Tämmerer war es so, dass er ihn wegen jeder kleinen Bagatelle angemacht hat. Und irgendwann … ist die Sache dann eskaliert. Im Gebetsraum. Allerdings war das unsere Schuld. Es ging darum, die Bücher in der Glasvitrine nach Alphabet zu sortieren. Wir suchten nach Freiwilligen, und Campuzano hat sich sofort gemeldet.“
„War das denn so ungewöhnlich?“, wollte Charlotte wissen.
„Allerdings. Campuzano hat sich noch nie für Bücher interessiert, ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, er hat in seinem ganzen Leben noch nie eins gelesen. Später fanden wir heraus, warum er so wild auf diesen Job war. Weil Tämmerer ebenfalls im Gebetsraum arbeitete. Er machte dort sauber und half Pfarrer Gans auch sonst bei allen möglichen Dingen. Wohl, weil er sich dort am sichersten fühlte.“ Jäger schüttelte den Kopf. „Wir hatten von Anfang an Vorbehalte. Aber weil es das erste Mal war, dass Campuzano überhaupt für irgendetwas Begeisterung aufbrachte, haben wir unsere Bedenken zurückgestellt.“
„Und was ist dann passiert?“
„Die Situation ist eskaliert. Campuzano wartete, bis er mit Tämmerer alleine war, dann drückte er ihm den Kopf in einen mit schmutzigem Wasser gefüllten Putzeimer. So lange, bis dieser fast erstickt wäre. Und das ist nur das, was wir wissen. Was er sonst noch so alles mit ihm angestellt hat, können wir nicht sagen.“
„War der Pfarrer denn nicht dabei?“
„Nein.“
„Wer hat Campuzano dann gestoppt? Hat ihn überhaupt jemand gestoppt?“
Jäger nickte und deutete mit dem Daumen hinter sich, in Richtung Speiseraum. „Frau Grimm. Sie hat Krach geschlagen. Krach geschlagen, im Sinne von: Sie ist auf Campuzano losgegangen und hat sich mit ihm geprügelt. Wir konnten die beiden nur mit viel Mühe voneinander trennen.“
„Die beiden können sich nicht riechen, oder?“, fragte Charlotte, die das Scharmützel um Campuzanos zerrissenes Hemd vor ein paar Minuten mitbekommen hatte.
„Das ist noch stark untertrieben“, bestätigte Jäger. „Ich würde eher sagen, sie hassen sich wie die Pest.“
Charlotte nickte und fragte weiter: „Hat irgendjemand hinterher mit Tämmerer über den Vorfall im Gebetsraum gesprochen?“
„Natürlich. Wir Pfleger haben es versucht. Professor Malwik hat es versucht. Frau Doktor Sattler hat es versucht. Reine Zeitverschwendung. Er wollte nicht darüber reden. Er behauptete, es wäre überhaupt nichts passiert. Er hatte Angst, das war klar, wollte nicht noch mehr Wirbel. Wir haben Campuzano den Job im Gebetsraum dann wieder abgenommen. Krise beigelegt.“
„Dachten Sie“, sagte Charlotte, bedankte sich für das Gespräch und wandte sich ab.
„Frau Kommissarin“, sagte Jäger schnell. „Da ist noch etwas.“
Sie wandte sich noch einmal zu ihm um und sah ihn fragend an.
„Es ist … Ich bin mir nicht sicher, ob Sie …“
„Was, Herr Jäger?“
„Nun ja, ich denke einerseits, es steht mir nicht zu, darüber …
Andererseits denke ich doch, dass Sie es wissen sollten …“ Der Pfleger brach ab, holte ein paarmal tief Luft und sagte dann: „Ich denke, Sie sollten wissen, dass Frau Doktor Sattler ein heimliches Verhältnis hat.“
„Ein Verhältnis? Frau Doktor Sattler?“ Charlotte hob die Augenbrauen in die Höhe. „Mit wem?“
„Mit Felix Effinowicz.“
„Sie meinen, es gibt Gerüchte?“, hakte Charlotte nach.
„Nein. Dass die beiden ein Verhältnis haben, weiß jeder, auch wenn sie immer versucht haben, es geheim zu halten.“
„Bedeutet das, dass auch die Patienten darüber Bescheid wissen?“
Jäger nickte. „Und jetzt ist ein Mord geschehen. Und diese Geschichte könnte doch vielleicht ein ganz anderes Licht auf die ganze Sache werfen, oder nicht?“
Charlotte dachte darüber nach.
„Denn wenn die Patienten von dem heimlichen Verhältnis wussten“, redete Jäger weiter, „dann kann es doch sein, dass einer von ihnen sich dieses Wissen zunutze machen wollte.“
„Sie meinen, Frau Doktor Sattler, Herr Effinowicz, oder beide gemeinsam, wurden von Tämmerer erpresst?“
„Es könnte doch sein, oder nicht? Ich meine, Frau Doktor Sattler ist immerhin verheiratet und …“
„Und da, meinen Sie, ist sie hingegangen, hat Tämmerer erschossen und ihm anschließend die Augen entfernt? Sie scheinen sich ernsthaft Gedanken zu machen, Herr Jäger.“
Er seufzte auf. „Ich weiß ja im Augenblick selbst nicht, was ich glauben soll. Eigentlich will ich Ihnen auch gar nicht davon erzählen. Ich möchte auch weiterhin zu meinen Kollegen halten, wie ich es immer getan habe. Aber ich finde trotzdem, dass Sie es wissen sollten.“
Charlotte antwortete darauf nicht. Sie stand einfach nur da und sah Jäger an. Er erwiderte ihren Blick nicht, schien selbst zu wissen, dass er gerade einen Verrat begangen hatte. Aber zurücknehmen konnte er das Gesagte nun auch nicht mehr.
„Vielen Dank für die Information, Herr Jäger.“