30. KAPITEL
Irgendwas mit Mord und Todschlag
0:12 Uhr
„Kann uns mal jemand sagen, was hier eigentlich los ist?“, zischte Campuzano. „Muss ja verdammt wichtig sein, wenn schon wieder ein derartiges Bohei veranstaltet wird.“
„Sie werden es überleben.“ Charlotte betrachtete den verwirrten Haufen vor sich und fügte an alle gewandt hinzu: „Ich kann mir vorstellen, dass es nervt. All die Befragungen, der ganze Trubel. Rein in die Zimmer, raus aus den Zimmern. Aber es ist im Moment leider nicht anders zu machen.“
„Man hat überhaupt keine Zeit, das alles zu verarbeiten“, murrte Campuzano.
„Ich denke nicht, dass Sie sonderlich viel zu verarbeiten haben, Herr Campuzano“, bemerkte Charlotte wieder in seine Richtung.
„Es hat mit Elisas Verschwinden zu tun, nicht wahr?“, sagte Ilona Walter. „Sie ist dem Mörder in die Hände gefallen!“
Charlotte drehte sich etwas, um sie besser ansehen zu können. „Sie ist offenbar aus ihrem Zimmer entführt worden“, bestätigte sie. „Und jetzt werde ich Sie durchzählen.“
„Sieht ja nach ’ner echten Verzweiflungstat aus.“ Das kam wieder von Campuzano.
Charlotte achtete nicht mehr auf ihn, zählte bereits mit ernstem Gesicht. Und zählte noch einmal. Und noch einmal.
„Und?“, wollte Zander wissen, der hinter ihr stand.
Sie schüttelte den Kopf. „Alle da. Es sind verdammt noch mal alle da. Wie kann das sein?“
„Vielleicht isses ja auch was ganz anderes“, sagte Karl Waffenschmied, für seine Verhältnisse ziemlich ernst und nachdenklich.
„Was denn?“, wollte Campuzano von ihm wissen.
„Wer weiß.“
„Wer weiß was?“
„Ob’s nich ’n Einfall von Gott ist.“
„Mein lieber Herr Waffenschmied, die ganze Welt geht zum Teufel, da hat Gott bestimmt Wichtigeres zu tun, als Frau Kirsch zu entführen“, bemerkte Ilona Walter.
„Glauben Sie, sie ist tot?“, wollte Susanne von Charlotte wissen.
„Im Augenblick ist sie nur von der Station verschwunden“, antwortete diese wahrheitsgemäß.
„Aber wie kann man denn aus einer geschlossenen Psychiatrie verschwinden?“, wollte Stefan Versemann wissen.
„Würd ich auch gern wissen“, sagte Waffenschmied. „Dann nehm ich nämlich ’n selben Weg.“
Charlotte wandte sich wieder an die ganze Gruppe. „Hat jemand von Ihnen Elisa heute Abend noch gesehen?“
„Im Aufenthaltsraum, so gegen 22:30 Uhr“, sagte Ilona Walter.
„Jepp“, bestätigte Campuzano. „Da hat sie sich wieder aufgeführt, wegen der dämlichen Annegret. Effinowicz hat sie dann in ihr Zimmer geschickt.“
„Das stimmt“, bestätigte der Pfleger. „Ich konnte ja nicht ahnen …“ Er brach ab, dachte nach. Dann sagte er leise: „Denn in der Dunkelheit einer Nacht, da hat ein Mensch sich aufgemacht, die andern zu vernichten. Doch kommen wird zu richten der Herr so ganz gerecht, was warst du nur so schlecht.“
„Was brabbelt er?“, wollte Campuzano von Waffenschmied wissen. Der hob die Schultern. „Irgendwas mit Mord und Totschlag.“
„Das hat sie im Aufenthaltsraum zu mir gesagt“, erklärte Effinowicz in Charlottes Richtung.
„Und was könnte sie damit gemeint haben?“
Der Pfleger lehnte sich erschöpft gegen die Wand, strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht. „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass es mal wieder um Annegret Lepelja ging. Elisa schien sehr durcheinander.“
„Die Irre hat doch ununterbrochen nur Käse geredet“, winkte Campuzano ab.
Stefan Versemann indessen starrte nachdenklich auf den Boden zu seinen Füßen. „Der alte Grundsatz von Sherlock Holmes: Wenn man alles Mögliche ausgeschlossen hat, dann muss das, was übrig bleibt – und erscheint es noch so unmöglich – die Wahrheit sein.“
„Du redest auch nur Käse“, brummte Campuzano in seine Richtung.
„Auf jeden Fall habe ich Elisa dann in ihr Zimmer geschickt“, übernahm Effinowicz wieder das Wort. „Wie Herrn Campuzano und Herrn Waffenschmied übrigens auch.“
Charlotte wandte sich an die beiden. „Stimmt das?“
Betretenes Nicken.
„War nix Schlimmes“, sagte Waffenschmied. „Hamm nur ’n bisschen Spaß gemacht.“
Susanne öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder.
Es war Effinowicz, der süffisant bemerkte: „Ah, wenn es nur ein Spaß war, dass Sie mal wieder Herrn Rosenkranz schikaniert haben, dann ist das natürlich etwas anderes. Das hätten Sie mir vorher sagen sollen.“
Der alte Viktor, der etwas abseits von der Gruppe stand, blickte betreten von einem zum anderen. Die beinahe haarlose Oberfläche seines Kopfes glänzte speckig im fahlen Licht. Mit seinen knochigen Fingern streichelte er den Kopf der Puppe.
„Nur ein Spaß“, sagte Campuzano in seine Richtung. „Versteht sich doch.“
„Bevor Elisa heute Abend in den Aufenthaltsraum kam, war sie noch im Gebetsraum.“
Alle Blicke legten sich jetzt auf Julia, die ebenfalls etwas abseits stand und die ganze Zeit nichts gesagt hatte.
Auch Charlotte blinzelte in ihre Richtung. „Woher wissen Sie das?“
„Ich hab sie gegen 22:00 Uhr reingehen sehen.“
„War der Pastor um die Uhrzeit noch hier?“, wollte Charlotte von Effinowicz wissen, und der schüttelte den Kopf. „Er war heute überhaupt nicht hier.“
„Dem Pfaffen geht’s seit Tämmerers Ermordung gar nich mehr gut“, warf Waffenschmied ein. „Depressionen. Hab ich gehört.“
„Melancholie“, korrigierte Versemann.
„Damit kennst du dich ja aus, nich wahr?“, wandte der Alkoholiker sich an ihn.
Versemann nickte. „Tatsächlich. Bei mir endete dieser Zustand bereits zum dritten Mal mit einem Gang ins Wasser.“
„Auf jeden Fall hätt er mich gestern aufm Flur fast umgerannt“, wandte Waffenschmied sich wieder an Charlotte. „Dabei hat er ’n Buch verloren. Das hat er dann ganz hektisch wieder aufgehoben und is wie der Blitz von ’ner Station gezischt. Dabei hatt er so ’ne grünlich-gelbe Farbe im Gesicht. Richtig gruselig.“
Charlotte richtete sich auf und sagte: „In Ordnung. Sie können jetzt alle zurück in Ihre Zimmer gehen.“
Dann wandte sie sich an Zander und murmelte: „Wenn ich den Fall nicht bald löse, drehe ich noch mit durch.“
0:38 Uhr
„Ein Mann mit eingeschaltetem Funkgerät an jede Treppe. Die anderen kämmen das Gebäude vom Keller bis zum Dachboden durch. Alle Wände werden von der Decke bis zu den Dielen nach Spalten abgesucht. Jedes einzelne Teil wird verrückt, jede Tür aufgeschlossen, jeder Raum durchsucht, jeder Schrank leer geräumt und alle Wände abklopft. Ich will, dass jede einzelne Spinne nach ihren Personalien und dem Grund ihres Aufenthaltes befragt wird. Es wird nichts ausgelassen und nichts übersehen.“ Charlotte wusste, dass sie die einzelnen Punkte bereits endlos durchgekaut hatte, aber es erschien ihr trotzdem nicht falsch, es vorsichtshalber noch einmal zu wiederholen. Dann wandte sie sich an Professor Malwik. „Und Sie zeigen uns jetzt den Rest dieses Labyrinthes, Herr Doktor.“
Malwik schien jedoch noch nicht so weit. Sein Blick lag verständnislos auf Zander. „Und Sie sind …?“
„Zander. Mordkommission Mainz.“
„Ach.“ Der Psychiater zog die Augenbrauen in die Höhe. „Von so weit her leisten Sie Ihrer Kollegin Unterstützung? Wie aufmerksam von Ihnen.“
„Wenn Sie jetzt so freundlich wären, Herr Doktor“, sagte Charlotte ungeduldig.
„Entschuldigen Sie, Frau Kommissarin, aber mir ist immer noch nicht ganz klar, warum wir das hier tun“, wandte Malwik sich an sie. „Mitten in der Nacht.“
„Ich dachte, das hätte ich Ihnen bereits erklärt. Weil eine Patientin Ihrer Klinik spurlos verschwunden ist.“
„Die Sie in den Kellern oder Speichern dieses Gebäudes vermuten?“
„Ich wüsste nicht, wo sie sonst sein sollte, wenn sie nicht zum Hauptausgang hinausspaziert ist.“
„Aber wie sollte sie, Ihrer Meinung nach, in die Keller oder Speicher gelangt sein?“
„Das kann ich Ihnen nicht beantworten, weil ich es noch nicht weiß. Und solange ich keine bessere Idee habe, gehen Sie bitte voran.“
Unwillig setzte Malwik sich in Bewegung. Er ging etwa hundert Meter, dann schloss er eine Tür auf und erklärte: „Dieser Teil des Gebäudes wurde bis 1994 als stationärer Bereich benutzt. Seitdem ist er zum Abriss vorgesehen. Hier entlang.“
Sie schritten eine schmale Treppe hinunter, und unten angekommen, deutete der Psychiater nach rechts. „Hier geht es zu den alten Gummizellen. Schon ewig nicht mehr in Gebrauch.“
„Ich würde sie trotzdem gerne sehen“, sagte Charlotte.
Malwik warf ihr einen Blick zu, der nicht zu deuten war. „Da gibt es nicht viel zu sehen, Frau Kommissarin.“
„Tun Sie mir den Gefallen.“
Widerwillig schloss der Psychiater die Eisentür auf. Dann drückte er auf einen Schalter, und sie standen vor sechs nebeneinanderliegenden identischen Räumen mit Wandpolsterung.
Alle Türen standen offen, niemand befand sich in den Zellen.
Sonst gab es hier nichts.
„Und diese Tür?“, fragte Charlotte und deutete den Flur entlang nach links.
„Dort ist die alte Küche.“
„Ich würde sie gerne sehen.“
„Natürlich.“ Malwik seufzte resigniert, setzte sich in Bewegung, schloss auf und drückte die Tür nach innen auf. „Wie Sie sehen, wird hier schon seit Jahren nichts mehr benutzt.“ Er wartete, bis Charlotte die steinernen Spülbecken, die verzinkten Schränke und Tische ausgiebig betrachtet hatte. Als sie dann nickte, schloss er die Tür wieder und ging weiter voran.
Es ging eine weitere Treppe hinunter.
„Ehemalige Wäscherei“, sagte Malwik und deutete nach rechts.
Bevor Charlotte den Mund öffnen konnte, deutete Zander auf eine Stahltür auf der linken Seite. „Was ist mit dieser Tür?“
„Dort lagern wir den Abfall, bevor er in die Verbrennungsanlage kommt. Mehr nicht, Herr Kommissar.“
„Können wir den Raum sehen?“ Hilfe suchend blickte Malwik in Charlottes Richtung, doch diese sah ihn ebenfalls nur abwartend an, also nickte er einmal mehr ergeben und suchte nach dem passenden Schlüssel.
Grelles Licht erleuchtete wenig später den Raum, und sie blickten auf eine Reihe von Plastiksäcken, auf denen in großen Buchstaben stand: GEFAHR! MEDIZINISCHER ABFALL!
Zander sah sich sorgfältig um und trat dann wieder hinaus in den Flur. „Was ist dort vorne?“, wollte er wissen und deutete zum Ende des Flurs.
„Dort geht es zur Leichenhalle, von der ich annehme, dass Sie sie ebenfalls in Augenschein nehmen möchten.“ Malwik setzte sich bereits in Bewegung.
Der Raum, den sie dann betraten, war weiß gekachelt, und in der Mitte standen zwei verzinkte Tische. An der rechten Wand befand sich eine Reihe von zehn mannshohen Stahlschubladen.
„Wird dieser Raum noch benutzt?“, fragte Charlotte.
„Aber ja“, antwortete Malwik. „Allerdings nur für gewöhnliche Todesfälle. Sollte es Probleme mit der Diagnose oder dem Totenschein geben, schicken wir die Leichen ins Städtische.“
„Wer bringt die Leichen hierher?“, fragte Zander, während er eine Stahlschiene nach der anderen aus dem Schrank zog. Alle leer.
„Normalerweise einer der Pfleger. Manchmal auch zwei.“
Charlotte nickte und sagte: „Haben wir jetzt alles gesehen?“
„Ja.“ Malwik nickte erleichtert. „Ich würde sagen, damit habe ich meine Pflicht getan und kann mich jetzt wieder um meine Patienten und den guten Ruf der Klinik kümmern, falls davon überhaupt noch etwas zu retten ist. Gute Nacht, Herr und Frau Kommissar.“ Damit wandte er sich ab und ließ sie einfach stehen.