24. KAPITEL
Keine Bullen
Susanne war immer noch vollauf damit beschäftigt, die Tische im Speiseraum zu wischen, obwohl es, Charlottes bescheidener Meinung nach, längst nichts mehr zu wischen gab. Vermutlich hatten die Tische seit Jahren nicht mehr derart geglänzt. Trotzdem schien die Frau mit den bunten Haaren noch nicht mit ihnen fertig zu sein. Sie wischte weiter mit heftigen, kreisenden Bewegungen, und als Charlotte neben sie trat, sah sie nicht einmal auf.
„Sie sollten mich nicht ignorieren, Frau Grimm“, sagte Charlotte nach ein paar Sekunden. „Ich bin immerhin von der Kriminalpolizei. Sie wissen schon, Ihr Freund und Helfer.“
„Ach ja, richtig“, gab Susanne zurück, immer noch ohne aufzusehen. „Was kann ich für Sie tun, Frau Kommissarin?“
„Ich möchte noch einmal mit Ihnen sprechen.“
„Worüber?“
Charlotte legte den Kopf etwas zur Seite. „Ich dachte, das wäre offensichtlich. Immerhin befinden wir uns immer noch mitten in einer Mordermittlung.“
„Ich habe Ihnen bereits alles gesagt, was ich weiß.´“
„Gut. Dann helfe ich Ihnen ein wenig auf die Sprünge: Ich hatte Sie bei unserem ersten Gespräch gefragt, wie gut Sie Weinfried Tämmerer kannten.“
„Und ich habe geantwortet, wenig bis gar nicht.“
„Richtig. Das haben Sie geantwortet. Und dabei haben Sie mir verschwiegen, dass Sie sich mit Campuzano wegen ihm geprügelt haben. Also basierte bereits unser erstes Gespräch auf einer Lüge, richtig?“
Jetzt, endlich, hörte Susanne auf zu wischen. Sie richtete sich auf und sah Charlotte an. „Ich habe es nicht erwähnt, weil ich es nicht für wichtig hielt.“
„Sie haben sich mit Campuzano wegen Tämmerer geschlagen. Und das hielten Sie nicht für erwähnenswert?“
„Ich kam zufällig dazu, wie der eine den Kopf des anderen in einen vollen Wassereimer drückte. Daraufhin sagte ich Campuzano, dass er damit aufhören soll, allerdings war der aufgrund seines geistigen Niveaus nicht in der Lage, meine Warnung aufzunehmen, woraufhin ich ihm mit dem Ellbogen einen Stoß auf die Nase gab, was ein kleines bisschen Blut fließen ließ.“ Susanne hob die Hände in die Höhe. „Nicht besonders erwähnenswert.“
„Was für eine drollige Antwort. Sie sind ohnehin schnell bei der Hand, wenn es darum geht, vermeintliche Ungerechtigkeiten mit Gewalt auszugleichen. Nicht wahr, Frau Grimm?“
Susanne starrte Charlotte an. „Worauf wollen Sie hinaus?“
„Nun, ich habe Ihre Polizeiakte natürlich gelesen, und nun frage ich mich – und das verstehen Sie sicher –, wie realistisch die Vorstellung ist, dass Sie noch einmal einen Schritt zu weit gehen.“
„Sie denken nicht ernsthaft, ich hätte etwas mit Tämmerers Ermordung zu tun?“
Charlotte hob die Schultern. „Tämmerer war ein Kinderschänder, diese Tatsache war Ihnen bestens bekannt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Gedanke an das unschuldige Kind, das er missbraucht hat, spurlos an Ihnen vorbeigegangen ist. Im Gegenteil, dieser Gedanke muss Ihnen unerträglich gewesen sein und dürfte Ihrem Sinn von Gerechtigkeit, den Sie ja bekanntlich mit allen Mitteln durchzusetzen versuchen, völlig widersprochen haben.“
„Und deshalb habe ich ihn umgebracht? Nachdem ich mich kurz zuvor noch mit Campuzano wegen ihm geprügelt habe? Diese Theorie ist völlig absurd und Ihrer nicht würdig, Frau Kommissarin. Wenn Sie mir etwas nachweisen können, dann tun Sie es. Wenn nicht, dann gehe ich jetzt. Ich bin hier nämlich fertig.“ Damit wandte Susanne sich ab und schritt zur Tür.
„Aber ich bin noch nicht fertig mit Ihnen, Frau Grimm“, sagte Charlotte in ihren Rücken.
„Nein?“ Susanne blieb stehen und wandte sich noch einmal um. „Und mit welchem Recht, Frau Kommissarin? Ich habe nichts Verwerfliches getan. Ich habe lediglich das Problem, dass ich gerne mal die Augen NICHT zumache. Wenn Sie mir daraus auch einen Strick drehen wollen, dann versuchen Sie es. Wenn nicht, wie gesagt, gehe ich jetzt.“ Damit verließ sie den Speiseraum und knallte die Tür hinter sich zu.
Charlotte folgte ihr sofort. Doch kaum hatte sie Susanne eingeholt und den Mund geöffnet, zupfte sie jemand am Ärmel und sagte: „Ich muss ihn baden.“
Verwirrt wandte Charlotte sich um und erkannte den alten Viktor Rosenkranz mit seiner Puppe im Arm. Ein unsicheres Lächeln umspielte seine rissigen Lippen, denen der Körper längst jede Feuchtigkeit entzogen hatte. „Er ist schmutzig.“
„Oh“, machte Charlotte. „Das tut mir leid.“
„Jetzt muss ich ihn baden. Beinahe wär’ er kaputtgegangen.“ Rosenkranz gab ein schmatzendes Geräusch von sich. „Er hat ihn auf den Boden geworfen. Und dabei ist es doch das Jesuskind. Nicht wahr? Das Jesuskind.“ Er schielte zu Charlotte hin, um zu sehen, ob sie ihm widersprechen würde.
„Wer hat es denn auf den Boden geworfen?“, wollte sie wissen. „Das Jesuskind.“
Der Alte kratzte sich am Ellbogen. Schien die Frage – oder auch die Antwort darauf – schon wieder vergessen zu haben, wandte sich ab und schlurfte davon.
„Viktor ist über achtzig und schwer demenzkrank“, erklärte Susanne. „Oder wie manche Menschen es auch gerne nennen: Er ist altersschwachsinnig. Ich weiß nicht, ob es ein Trost ist, aber die meiste Zeit bemerkt er gar nicht, wie rapide sich die Qualität seines Lebens mit jedem Tag verschlechtert. Auf jeden Fall haben ihn seine Kinder entmündigt und – unter dem Vorwand der Selbstgefährdung – hierher abgeschoben.“
Als Charlotte sie daraufhin fragend ansah, fügte Susanne hinzu: „Das ist billiger als ein Altenheim. Ob Sie es glauben oder nicht, so macht man das heute. Viktor weiß davon natürlich nichts und wartet weiterhin darauf, dass seine Kinder zurückkommen und ihn wieder mitnehmen.“ Sie lächelte, wie um den Worten den bitteren Stachel zu nehmen. „Das heißt, wenn er sich gerade an sie erinnert.“
„Wer hat ihm die Puppe weggenommen und auf den Boden geworfen?“, wollte Charlotte wissen.
Susanne verzog das Gesicht. „Campuzano natürlich. Das macht er ständig. Und da wundern Sie sich, dass man das Bedürfnis verspürt, ihm hin und wieder eins auf die Nase zu geben?“ Damit wandte sie sich ab und ging nun endgültig davon.
Charlotte überlegte, ob sie ihr weiter folgen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen wandte sie sich in die entgegengesetzte Richtung und blickte unvermittelt in zwei dunkle Augen, die einen auffallenden Kontrast zu einem alabasterweißen Gesicht darstellten. Der Mund in diesem Gesicht, das Charlotte noch nie zuvor gesehen hatte, stellte fest: „Du bist ein Bulle.“
„Charlotte Gärtner“, sagte Charlotte und betrachtete den Koloss von einer Frau, dem sie gegenüberstand. „Kriminalpolizei. Und wer sind Sie?“
„Keine Bullen.“
„Wie bitte?“
„Ich hasse Bullen.“
Und dann ging auch schon alles ganz schnell. Die Frau warf sich in einer einzigen Bewegung auf Charlotte, woraufhin sie beide wie zwei gefällte Bäume zu Boden gingen.
Das über hundert Kilo schwere Weibsbild landete auf Charlotte, rammte ihr ein Knie in die Leistengegend und wollte ihr einen schmutzigen Fingernagel ins Auge rammen. Nur einem blitzartigen Reflex war es zu verdanken, dass der Nagel nicht das Auge traf. Wütend darüber, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatte, biss die Frau Charlotte schmerzhaft in den Hals.
„Verdammt noch mal!“, zischte Charlotte und versuchte, die Frau abzuwerfen. Als es ihr nicht gelang, holte sie aus und rammte ihr mit aller Wucht einen Ellbogen ins Gesicht, woraufhin dunkelrotes Blut auf sie hinabtropfte.
Dann eine Vibration im Boden, als Heide Sacher den Flur heruntergerannt und schlitternd vor ihnen zum Stehen kam.
„Um Himmels willen, holen Sie die Frau von mir runter!“, schrie Charlotte.
Die Pflegerin gab sich wirklich alle Mühe, scheiterte jedoch an der tonnenschweren Aufgabe. „Jan!“, schrie sie. „Hilf mir! Jan!“
Nun kam auch Jan Jäger herbeigeeilt, und zusammen drückten und zerrten sie an der Frau herum. Dann kamen weitere eilige Schritte herbei. Eine dritte Person beteiligte sich, und nun hatten sie endlich Erfolg. Die Frau lag auf dem Rücken, die beiden Pfleger über ihr, und Charlotte rang erstickt nach Luft. „Himmel noch mal, wer ist das? Warum kenne ich diese Frau nicht?“
„Sie wurde vor einer halben Stunde erst aufgenommen“, erklärte Silvia Sattler, ebenfalls heftig nach Atem ringend.
„Wieso werden hier immer noch Patienten aufgenommen?“, entfuhr es Charlotte, während sie ihren verletzten Hals betastete. „Und warum, verdammt noch mal, weiß ich davon nichts?“
„Das müssen Sie Professor Malwik fragen“, stellte die Psychiaterin klar.
„Oh, das werde ich tun“, erklärte Charlotte. „Verlassen Sie sich darauf, dass ich das tun werde. Und danach, Frau Doktor, habe ich mit Ihnen zu reden. Wenn Sie sich in Ihr Büro begeben und dort auf mich warten würden. Ich brauche nicht lange.“