42. KAPITEL

Ein Killer mit einer Agenda

„Nun, hier ist das Offensichtliche tatsächlich das Offensichtliche.“ Frau Dr. Hannelore Strickner nahm für einen kurzen Moment die rote Diorbrille von der Nase. „Dem Mann wurde zuerst in den Hinterkopf geschossen. Danach wurde ihm die Zunge herausgeschnitten. Sieht man davon ab, gibt es keine Zeichen für äußere Gewaltanwendung. Er scheint sich völlig freiwillig nackt vor das Bett gekniet zu haben. Und das Ganze kann auch noch nicht sehr lange her sein, höchstens drei Stunden.“

Charlottes Gesicht hatte immer noch keine Farbe. Ihre Kleidung klebte am Körper, und unter der Haut und um die Augen herum konnte man feine blaue Äderchen erkennen. Alles stand still. Nicht einmal die Staubkörner in der Luft schienen in Bewegung. Deshalb war Zanders Stimme auch wie ein Schock für sie. Wie ein langer Nagel, der über eine Tafel gezogen wurde.

„Mir fallen hier spontan drei Dinge auf“, sagte er. „Erstens, der Charakter der beiden Morde. Fast wie Ritualmorde. Zweitens, die Opfer sind fast gleich alt, nicht wahr? Tämmerer war etwas über vierzig, Campuzano knapp darunter. Und drittens, der Körperbau der beiden. Sie waren beide groß und von muskulöser Statur.“

„Bis jetzt sind wir uns einig“, brachte Charlotte hervor.

„Und es gibt noch einen vierten Punkt“, fuhr Zander fort. „Der Mörder verfügt über eine ziemliche Risikobereitschaft. Immerhin geht es dort draußen auf dem Flur zu wie auf einem Bahnhof. Er aber gelangte völlig unbehelligt in dieses Zimmer. Wie ist ihm das gelungen?“

Die Strickner setzte die rote Brille wieder auf und griff nach ihrem metallenen Koffer. „Nun denn, wenn ich den Mann auf meinem Tisch hatte, kann ich Ihnen Näheres zu jenen Dingen sagen, von denen ich etwas verstehe. Auf Wiedersehen, Herr und Frau Kommissar.“ Damit verschwand sie einmal mehr so schnell, wie sie gekommen war.

Daraufhin folgte ein langes Schweigen, während sie beobachteten, wie Campuzanos Leiche in einen Metallsarg gelegt und abtransportiert wurde.

„Verdammt!“, entfuhr es Charlotte. „Verdammt, verdammt, verdammt! Das hätte nicht passieren dürfen.“

Zander griff nach ihrem Arm. „Kommen Sie, gehen wir in Ihr Büro. Hier haben wir genug gesehen.“

Sie war derselben Meinung und hatte deswegen keinerlei Einwände.

Und so kam es, dass Charlotte fünf Minuten später in der Mitte ihres improvisierten Büros stand, sich völlig erschöpft und – mit einer Leiche mehr am Hals als noch zu Tagesbeginn – völlig deplatziert fühlte. Verzweifelt versuchte sie, irgendwie verlorenen Boden zurückzugewinnen, als Professor Malwik völlig außer sich und ohne anzuklopfen hereingestürmt kam.

„Wunderbar!“, rief er aus. „Hervorragend! Da können Sie ja mächtig stolz auf sich sein, Frau Kommissarin! Jetzt haben wir noch einen Toten mehr. Dazu ist einer meiner Pfleger wie vom Erdboden verschluckt, übrigens ebenso, wie immer noch eine meiner Patientinnen wie vom Erdboden verschluckt ist.“

Charlotte blies die Wangen auf, ließ die Luft dann langsam wieder heraus. „Herr Professor, Ihr Pfleger ist verschwunden, weil er es war, der Tämmerer bei den Patienten verpfiffen hat. Und zwar aufgrund der Tatsache, dass er schon sein ganzes Leben ein heftiges Trauma mit sich herumträgt, nämlich dem, dass er von seinem Stiefvater schwer sexuell missbraucht wurde. Der Mann ist psychisch fertig, am Ende, ein Wrack. Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, Sie hätten davon nichts gewusst?“

„Das habe ich tatsächlich nicht.“

„Nein?“ Charlotte machte ein zweifelndes Gesicht. „Sie hatten zu keinem Zeitpunkt den Verdacht, dass er Tämmerer verraten haben könnte? Nicht den geringsten? Das glaube ich Ihnen nicht.“

„Zumindest gab es nie einen belastbaren Beweis dafür.“ Malwik richtete sich zu seiner vollen Größe auf, womit er Charlotte trotzdem nur bis zur Schulter reichte. „Davon abgesehen mag Jäger Tämmerers Diagnose ausgeplaudert haben, das heißt aber noch lange nicht, dass er auch ein Mörder ist. Wenn Sie das glauben, Frau Kommissarin, befinden Sie sich auf dem Holzweg.“

„Immerhin war er sich nicht zu schade, einen Ihrer Patienten in Richtung einer schweren Straftat zu manipulieren.“

„Um ihn dann kurz darauf selbst umzubringen? Ich bitte Sie, Frau Kommissarin, das ist doch lächerlich.“ Mit dem Zeigefinger deutete Malwik sich selbst auf die Brust. „Vielleicht haben wir in Bezug auf Herrn Jäger Fehler gemacht …“ Er deutete auf Charlottes Brust. „…aber wer weiß, wie viele meiner Patienten Sie mit Ihrer Vorgehensweise noch in Gefahr bringen. Ganz sicher aber schwöre ich Ihnen, dass ich Sie für sämtliche weiteren Störungen verantwortlich machen werde! Sie …“

„Wir wissen es nicht mit Sicherheit, aber vielleicht stand Robert Campuzano von Anfang an auf der Liste des Mörders“, schaltete Zander sich ein.

„Oh!“, wandte Malwik sich an ihn. „Jetzt vermuten Sie also einen Killer mit einer Agenda! Und wie lange, denken Sie, wird er Sie wohl noch an der Nase herumführen, ehe Sie ihn schnappen? Und wie viele meiner Patienten werden bis dahin noch dran glauben müssen?“ Er drehte sich wieder in Richtung Charlotte. „Meiner Meinung nach haben Sie den Mörder mit Ihrer Art und Weise nur noch weiter herausgefordert, und so wie ich die Dinge sehe, gedenken Sie auch nicht, damit aufzuhören. Nur Gott … und vielleicht ein paar ganz besonders schlaue Psychiater, zu denen ich offenbar nicht gehöre, wissen, warum das so ist. Allerdings – und da seien Sie sich sicher – werde ich weitere Aktionen Ihrerseits von nun an zu verhindern wissen!“ Damit machte der Professor auf dem Absatz kehrt und stürmte wieder davon. Lediglich seine Worte blieben mitsamt der Drohung in der Luft hängen.

Zander sah Charlotte an. Deren Blick streifte über die Magnettafel, über das Sammelsurium an Fakten, die dort hingen, die losen Fäden, die einzelnen Puzzlestücke, in ihrem Kopf jetzt ein einziges Getöse. Die beiden M. Motiv und Möglichkeit. Was übersah sie hier? Was entging ihr? Immer mehr Getöse. Sie allein war schuld an Campuzanos Tod. Weil sie viel zu spät reagiert hatte. Dann noch einmal das Gespräch mit Heide Sacher, wie im Zeitraffer. Jan Jägers verpfuschtes Leben, in jeder Einzelheit. In viel zu vielen Einzelheiten. In …

„Frau Gärtner?“

Sie wandte sich zu Zander hin. „Er tut mir leid.“

„Wer?“

„Jan Jäger.“

„Ich verstehe Sie, aber der Mann hat eine schwere Straftat begangen.“

„Trotzdem tut er mir leid.“ Charlotte sah Zander an. „Niemand hat dem armen Jungen geholfen, weder dem kleinen noch dem großen.“

„Das weiß ich, und trotzdem …“

„Jetzt seien wir doch mal ehrlich, Herr Zander, was davon können wir uns schon vorstellen, hm? Wir mit unseren großen, glücklichen Familien, die wir einmal in der Woche fröhlich plappernd gemeinsam beim Essen sitzen.“ Plötzlich zitterte Charlotte wie Espenlaub, bekam nur noch mit Mühe Luft, hatte den Eindruck, zu ersticken. Doch die Worte mussten aus ihr hinaus. „Wenn wir abends von unserem Papi einen Gutenachtkuss bekamen, dann ist es bei einem Gutenachtkuss geblieben. Er ist nicht zu uns unter die Bettdecke gekrochen, um uns zu betatschen.“ Charlotte drehte sich zur Seite. Ihr Schädel drohte zu zerspringen. „Unsere Kindheit hat uns groß werden lassen, Herr Zander, währenddessen wurde unsere Kinderseele nicht getötet.“ Charlotte drehte sich zur Seite, ihre Gedanken überschlugen sich. „Und deshalb haben wir keine Vorstellung davon. Nicht die geringste.“ Sie brach ab. „Lassen Sie mich bitte einen Moment allein.“

Zander nickte, und sie ließ sich für einen Augenblick auf einen Stuhl sinken, senkte das Gesicht auf die Kniescheibe. Ganz bestimmt kam sie dagegen an. Sie musste es nur für einen kurzen Moment zulassen und dann darauf warten, dass es wieder verblasste. Und wenn ihr das gelungen war, dann würden nur das Kopfweh und die Übelkeit zurückbleiben.

Und tatsächlich wirkte Charlotte, als sie Zander wenig später wieder hereinholte, zwar immer noch bleich, aber immerhin schon etwas gefasster. „Ich werde jetzt meinem Chef Bericht erstatten und dann meinen Kopf öffentlich von ihm auf einen Pfahl spießen lassen.“

„Wenn Sie wollen, reden wir beide mit ihm.“

„Danke. Aber ich befinde mich auch so schon in einer ausgesprochen undankbaren Situation. Ich stecke in einer entsetzlichen Ermittlung fest, die mir mehr und mehr entgleitet, während mein Chef von mir erwartete, dass ich den Mistkerl schnappe, noch bevor die Presse ihm einen Namen geben kann. Nun, das ist mir bekanntlich nicht gelungen. Stattdessen haben wir nun noch einen weiteren Toten. Wenn ich jetzt auch noch mit einem Kommissar aus Mainz ankomme, der nebenberuflich schräge Verschwörungstheorien um Sven Wagner verfolgt – und gleichzeitig der ehemalige Kollege von dessen Tochter ist –, dann sprengt das die Skala dessen, was ich mir überhaupt noch leisten kann. Dann macht er Hackfleisch aus uns beiden. Vor allem aus mir. Sie verspeist er als Aperitif.“

Zander lockerte seine Krawatte. „Einen Aperitif kann man nicht verspeisen.“

„Wirklich, Sie müssen mir nicht ständig aufs Neue beweisen, dass Sie ein Klugscheißer sind, Herr Zander.“

Er lächelte dünn. „Entschuldigen Sie, aber es fällt mir wirklich schwer, zu glauben, dass Sie überhaupt vor irgendeinem Menschen auf dieser Welt Angst haben.“

„Oh, Angst ist in diesem Fall nicht das richtige Wort“, bemerkte Charlotte angespannt. „Ich würde meinem Chef nur lieber so lange aus dem Weg gehen, bis ich den Tarnumhang von Harry Potter habe, mit dem ich mich unsichtbar machen kann. Wie soll ich ihm das bitte schön erklären? Er wird mich fragen, ob das vielleicht ein schlechter Scherz sein soll, worauf ich ihm sagen werde, leider nicht, und übrigens ist das zweite Opfer unser Hauptverdächtiger. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“

„Er wird es akzeptieren. Was soll er sonst machen?“

„Mannomann“, entfuhr es Charlotte. „Ich hätte Ihre Leitung für weniger lang gehalten.“

„Hören Sie, es ist noch nicht aller Tage Abend. Auch wenn ich nicht den Finger drauflegen kann, ich bin mir sicher, wir haben die Antwort direkt vor der Nase. Ich habe da so ein ganz besonderes Bauchgefühl.“

„Dasselbe wie bei Sven Wagner?“

„Ja.“ Zander nickte. „Und dieses Gefühl sagt mir, dass wir am Ende gewinnen werden. Ich verspreche es Ihnen. Schon alleine, weil ich dem Mistkerl ins Gesicht sehen will, der anderen Menschen die Augen ausreißt und ihnen die Zungen herausschneidet.“

Charlotte nickte. Das wollte sie ebenfalls. „Und ich nehme an, Sie haben bereits einen Plan? Sie haben ganz bestimmt einen Plan. Sie haben doch immer einen Plan.“

Er nickte noch einmal. „Wir brauchen Hilfe.“

„Von wem?“

„Von einer verdammt guten Ermittlerin.“

Todesruhe
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