13. KAPITEL
Mit uns kann man’s ja machen!
Die Durchsuchung war beendet, die ganze Station auf den Kopf gestellt. Keine Waffe, keine Augen. Nichts.
Einigermaßen ernüchtert stand Charlotte in ihrem improvisierten Büro – einem ehemaligen Patientenzimmer, das leidlich, aber immerhin einigermaßen zweckdienlich, eingerichtet worden war – vor ihren insgesamt zehn Kollegen, die sich mühsam hineingequetscht hatten, lauschte dem Gemurmel und sah jedem Einzelnen einen Moment lang ins Gesicht. Dann hob sie die rechte Hand und sicherte sich so die Aufmerksamkeit der Männer. Das Gemurmel verebbte, es wurde still.
„Leider hat die Durchsuchung der Station nichts ergeben“, setzte sie an. „Aber wir sind trotzdem noch lange nicht am Ende.“ Sie deutete auf eine Magnettafel hinter sich. „Hier sehen Sie die Station aufgezeichnet sowie jedes einzelne Zimmer mit Namen des entsprechenden Patienten, der es zurzeit bewohnt. Wir müssen lernen, uns alles durch die geistige Umgebungskarte des Täters vorzustellen.“
„Sie meinen, wir sollen das Irrenhaus durch seine Augen sehen?“, fragte jemand.
Charlotte warf dem Mann einen Blick zu. „Wir befinden uns in einer Psychiatrie“, korrigierte sie. „Und ja. Wir alle haben verschiedene Sichtweisen auf eine Umgebung. Selbst wenn wir in derselben Gegend leben, haben wir unterschiedliche geistige Landkarten in unseren Köpfen. Ein Busfahrer, zum Beispiel, wird seine Umgebung ganz anders sehen als ein Mensch, der noch niemals Auto gefahren ist. Das heißt, unser Täter hat eine ganz eigene Karte dieser Station im Kopf. Einige Orte, an denen er sich bewegt, werden ihm wichtig sein oder sicher vorkommen. Andere Stellen wird er meiden.“
„Und inwiefern bringt uns das weiter?“, wollte ein anderer Kollege wissen.
„Sie alle werden sich in den nächsten Tagen mehr und öfter auf dieser Station aufhalten als zu Hause. Und in dieser Zeit müssen Sie die Augen nicht nur offen halten, Sie müssen intensiv beobachten.“
Ein dritter Kollege stöhnte auf. „Aber wie sollen wir den Verrückten unter lauter Verrückten finden?“
Charlotte wandte den Kopf und sah dem Mann direkt in die Augen. „Das Verhalten des Mörders wird einen Hinweis auf seine Identität geben. Es wird sich in der ein oder anderen Weise in seinem täglichen Leben hier widerspiegeln, und es liegt an uns, das zu erkennen. Also, meine Herren, Sie wissen, was Sie zu tun haben. Halten Sie Augen und Ohren offen. Wann immer Ihnen etwas auffällt, zögern Sie nicht, zu mir zu kommen und mit mir darüber zu sprechen. Und sollte es eine noch so kleine Kleinigkeit sein. Wir überwachen und überprüfen alles. Von heute an kommt kein Besuch mehr auf diese Station, ohne dass er bis auf die Unterwäsche untersucht wird. Und es geht auch niemand ohne die entsprechenden Leibesvisitationen. Wir kriegen ihn. Er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind.“
Die Beamten gingen nach und nach hinaus. Aus ihren Blicken konnte man lesen, dass sie hofften, Charlotte würde recht behalten.
Zwanzig Minuten später war der Aufenthaltsraum brechend voll und die Hitze ebenso unerträglich wie der Lärmpegel.
In Professor Malwiks Kielwasser befand sich seine Kollegin Dr. Silvia Sattler, die sich jedoch zurückhielt. Es war der Psychiater, der in die Mitte des Raumes trat, sich räusperte und sagte: „Meine Damen und Herren, wir haben Sie hierhergebeten, um noch einmal deutlich festzuhalten, dass kein Grund zur Panik besteht.“
„Wenn nicht jetzt, wann dann?“, murmelte Susanne, die mit verschränkten Armen neben Julia stand.
„Dennoch sollten wir im Interesse unserer eigenen Sicherheit ein paar einfache Verhaltensregeln beachten.“ Malwik nickte Charlotte zu. „Frau Kommissarin?“
Charlotte trat nach vorne. „Meine Damen und Herren, mein Name ist Charlotte Gärtner, ich bin von der Kriminalpolizei und werde Ihnen nun …“
Weiter kam sie nicht.
„Tämmerer ist tot!“, rief jemand.
„Wir wollen wissen, was Sie jetzt vorhaben, Frau Kommissarin?“, rief ein anderer. „Werden Sie den Irren kriegen, der das getan hat?“
„Wir tun unser Bestes“, sagte Charlotte.
„Mit anderen Worten, Sie haben keine Spur und keine Ahnung.“ Susanne konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen, und sie stieß auf zustimmendes Gemurmel.
„Wir wissen bisher nicht mehr über den Täter als das, was wir aus seiner Tat lesen können“, setzte Charlotte erneut an. „Aber wir sind ihm auf den Fersen, und wir werden ihn kriegen.“
„Pure Hilflosigkeit!“, rief jemand.
„Die Polizei ist niemals hilflos“, erklärte Charlotte ernst. „Wenn es so wäre, wären wir nicht die Polizei. Wir haben zahlreiche Spuren. Allerdings können wir auch nicht behaupten, dass die Festnahme eines Tatverdächtigen unmittelbar bevorsteht. Aber Sie alle können bei der Aufklärung des Verbrechens mithelfen. Ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken, ob Sie in der letzten Nacht – oder auch in den letzten Tagen – etwas gesehen oder gehört haben, was Ihnen merkwürdig vorkam. Ich möchte, dass Sie ganz genau überlegen. Und denken Sie daran, dass auch die kleinste Kleinigkeit, die Ihnen selbst vielleicht unwichtig vorkommt, genau das Detail sein könnte, das zur Aufklärung führt.“
„Sollte die Klinik nicht besser geschlossen werden?“, fragte Susanne. „Ich meine, solange der Irre frei herumläuft und Sie nur auf der Stelle treten, ist doch keiner von uns hier mehr sicher.“
„Es wäre sinnlos, die Klinik zu schließen“, schaltete Professor Malwik sich wieder ein. „Dann müssten alle Patienten anderweitig untergebracht werden. Und falls der Mörder ein Patient oder ein Mitglied der Belegschaft ist, würden wir das Problem damit nicht lösen, sondern nur verlagern. Nein, nein. Die Polizei arbeitet auf breiter Front.“ Er räusperte sich. „Ich habe vollstes Vertrauen.“
Das schien die Leute nicht wirklich zu beruhigen.
„Wischiwaschi-Gelaber!“
„Mit uns kann man’s ja machen!“
Malwik hob eine Hand in die Höhe. „Sie helfen mit derartigen Äußerungen niemandem, schon gar nicht sich selbst.“ Damit malte er einen entschiedenen Schlussstrich in die Luft.
„Ich habe bereits ein Zimmer auf der Station bezogen“, nahm Charlotte den Faden wieder auf. „Außerdem werden überall Posten aufgestellt. Die Polizei ist also immer in Ihrer Nähe. Bitte haben Sie Verständnis für alle weiteren Routineuntersuchungen, die von nun an stattfinden werden. Wir bedauern, falls es zu Unannehmlichkeiten kommt, und danken Ihnen schon jetzt für Ihre Unterstützung und Geduld. Einen Rat noch: Bewegen Sie sich von jetzt an wenn möglich nur noch zu zweit oder in Gruppen. Wie ich gerade sagte, wir sind immer in Ihrer Nähe. Vertrauen Sie auf uns. Sie sind nicht alleine.“
Unzählige gerötete Augenpaare starrten sie nur weiter zweifelnd an.
Eine weitere Stunde später wurde im selben Aufenthaltsraum eine improvisierte Gedenkstunde abgehalten. Irgendjemand hatte eine Kerze in die Mitte gestellt. Die einen beteten im Stillen, die anderen saßen einfach nur stumm da. Wieder andere
murmelten unverständliche Dinge vor sich hin.
Dann wurde eine Hand gehoben, und eine kleine Glocke läutete. Alle Blicke richteten sich auf Silvia Sattler, die aufmerksam in die Runde schaute. Die gesamte Körpersprache der Psychologin signalisierte Beherrschung und Stärke, ebenso ihre ruhige Stimme, die den ganzen Raum erfüllte: „Wir haben uns hier eingefunden, weil etwas Unglaubliches geschehen ist. Etwas, von dem wir nie gedacht hätten, dass es passieren könnte, und ich denke, wir alle sind erschüttert und verwirrt. Es hat einen Menschen aus unserer Mitte auf tragische und brutale Weise getroffen, und wir müssen nun lernen, damit umzugehen.“ Sie brach ab und deutete auf den Platz zu ihrer Linken. „Das hier ist Kommissarin Gärtner. Sie alle haben sie inzwischen kennengelernt. Sie möchte an dieser Sitzung teilnehmen, weil sie das Bedürfnis hat, uns noch ein bisschen besser kennenzulernen. Begrüßen wir sie in unserer Runde.“
Der Kreis von Gesichtern wandte sich Charlotte zu, und mehr oder weniger freundliches Gemurmel durchdrang den kleinen Raum. Sie grüßte zurück, wobei sie sich im Klaren darüber war, dass jeder Versuch, sich innerhalb dieser Runde zwanglos zu benehmen, lächerlich wirken musste. Sie war nicht als Patientin und auch nicht als Freundin hier, und egal, was sie sagte oder tat, nichts konnte diese Tatsache verschleiern. Aber diese Gedenkstunde hatte einen entscheidenden Vorteil: Aussagen, die in ihrem Beisein gemacht wurden, konnten sogleich hinterfragt werden, und eventuelle Beziehungen untereinander, welcher Art auch immer, würden vielleicht leichter ans Tageslicht kommen.
„Möchte jemand etwas zu den tragischen Ereignissen der letzten Stunden sagen?“, fragte Silvia Sattler in die Runde.
„Ich würde gerne wissen, was einen Menschen dazu bringt, andere Menschen zu töten“, sagte Stefan Versemann an Charlotte gewandt.
„Ich weiß es nicht“, gab diese offen zurück. „Ich bin seit über zwanzig Jahren bei der Polizei und habe noch keine befriedigende Antwort darauf gefunden.“
„Was soll das Scheißgelaber?“ Das kam von Robert Campuzano. „Tämmerer war ein Arsch. Er hatte es verdient. Ich wein ihm jedenfalls keine Träne nach.“
„Das Jesuskind … Das Jesuskind …“
Alle blickten von Campuzano zu Viktor Rosenkranz, der sich schon wieder – oder immer noch – mit verkrümmten Gichtfingern an der Puppe in seinem Arm festhielt, den Blick unverwandt auf Charlotte gerichtet. Er nahm sie jedoch überhaupt nicht wahr, dessen war sie sich sicher. Er war völlig abwesend.
Campuzanos Aufmerksamkeit schweifte von dem alten Mann zurück in die Runde, und während seine Stimme beunruhigend anschwoll, schnaubte er wie ein wütender Stier: „Ich hab’s ihm gesagt. Ich hab ihm gesagt, dass er es bedauern wird, und das für den beschissenen Rest seines Lebens. Und wisst ihr, was er mir geantwortet hat? Wir müssten alle unser Leben leben, und das wäre seins. Das hat er mir geantwortet. Und wohin hat’s ihn gebracht? Ich hab ihn nicht gemocht, geb ich zu. Und jetzt ist er tot. Prima. Denn wer nicht hören will, der muss fühlen. So laufen die Dinge nun mal. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.“
„Arschloch“, knurrte Susanne in seine Richtung.
„Was willst du schon wieder von mir?“ Voller Verachtung starrte Campuzano sie an. „Nimm’s Geld von deinem reichen Papi und geh dahin zurück, wo du hergekommen bist. Auf dich kann ich genauso gut verzichten, Klugscheißerin.“
Silvia Sattler räusperte sich. „Wir alle wissen, dass gewisse Dinge ans Tageslicht gelangt sind, die niemals unter die Patienten hätten gelangen dürfen. Dinge, die zur Behandlung und damit in die Privatsphäre jedes Einzelnen gehören. Der Umgang untereinander verlangt eine gewisse Dosis Wahrheit und eine gewisse Dosis Verschwiegenheit, damit alles im Lot bleibt. Nun ist es leider nicht mehr zu ändern, die Dinge sind aus besagtem Lot geraten und …“
„Vielleicht warst du es ja!“, rief Campuzano dazwischen und meinte offenbar immer noch Susanne, denn seine Augen blitzten weiterhin gefährlich in ihre Richtung. „Bist du nicht hier, weil du ’nem Typen ’ne verdammte Glasscherbe in den Rücken gerammt hast? Deswegen bist du doch hier, oder nicht? Warum dann nicht auch den Tämmerer killen? Hä? Warum eigentlich nicht? Klugscheißerin!“ Er wandte sich an Charlotte und spie hinterher: „Fragen Sie die doch mal nach ihrem Alibi! Die ist nämlich gar nicht so verfickt harmlos, wie sie tut.“
„Aber du bist harmlos, ja?“, gab Susanne zurück. „Du warst doch ständig damit beschäftigt, Tämmerer zu verfolgen und zu schikanieren.“
„Um Himmels willen“, schaltete Ilona Walter sich ein. „So hören Sie doch beide auf.“
In der nächsten Sekunde erhob sich Elisa Kirsch von ihrem Stuhl. „Ich hab es gesehen! Ich hab alles gesehen. Aber mir glaubt ja keiner. Und meine Tabletten gibt man mir auch nicht.“ Damit setzte sie sich wieder hin, klappte den Mund zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
Campuzano machte sich erst gar nicht die Mühe, seinen Unmut zu zügeln. „Du lügst doch auch wie gedruckt!“, zischte er in ihre Richtung.
„Das ist nicht wahr!“, stieß Elisa hervor. „Es ist dunkel dort, und man kann nicht atmen. Es ist wie in einem U-Boot. Alle werden von ihrem Schatten zermürbt. Und dann sterben sie. Und mehr sage ich nicht, bevor ich nicht meine Tabletten bekomme.“
„Du erzählst gequirlte Scheiße!“, brüllte Campuzano.
„Reden Sie nicht so mit mir!“
„Ach, leck mich doch! Ich rede, wie’s mir passt! Du hast überhaupt nichts gesehen! Du willst dich nur wichtigmachen! Weil du irre bist! Das weiß doch jeder!“
„Beruhigen Sie sich, Herr Campuzano“, versuchte Silvia Sattler einzugreifen, doch dieses Mal wurde sie von Karl Waffenschmied unterbrochen, der als Nächster von seinem Stuhl aufsprang und sagte: „Zuhörn! Wir brauchen ’nen Plan! Verteidigung! Posten aufstellen! Jawohl! Posten!“ Und noch einmal: „Zuhören! Verteidigung! Posten! Wir brauchen Posten!“
Mehrere Patienten nickten zustimmend. Das ergab Sinn. Jedenfalls für sie.
Nur der alte Viktor Rosenkranz saß immer noch auf seinem Stuhl wie ein alter Tabakbeutel. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er weiter in Charlottes Richtung. Aber er war immer noch nicht richtig da. Wo auch immer er gerade sein mochte, es war ganz bestimmt ein besserer und friedlicherer Ort als der, an dem sie sich gerade alle befanden.