47. KAPITEL
Dämonen
Nur ganz langsam trieb Charlotte wieder aus der Dämmerwelt empor. Sie hörte Worte, wusste, dass sie da war, auf diesem Friedhof, fühlte sich aber gleichzeitig getrennt davon, so als erlebe sie alles, was vor sich ging, durch dickes Glas.
Nur mühsam öffnete sie die Augen und blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Jedenfalls so lange, bis Zanders runder Kopf in ihrem Blickfeld erschien. „Sie sehen aus, als hätten Sie mit einer Hand voll Backsteinen gekämpft.“
„Genau so fühle ich mich auch.“ Schwer atmend wollte Charlotte sich aufsetzen, wurde aber sofort von ihm in Schach gehalten. „Sie haben verdammtes Glück gehabt, dass ich mitgekommen bin.“ Tief und forschend sah er ihr in die Augen. „Wie heißen Sie?“
„Jetzt hören Sie gefälligst auf mit dem Mist! Was ist mit Jäger?“
„Der ist verschwunden.“ Zander hob die Hände in die Höhe. „Ich weiß, es klingt absurd. Aber er ist tatsächlich spurlos verschwunden.“
„Was?“, entfuhr es Charlotte. „Wie zum Teufel kann das sein? Er hat sich eben noch vor meinen Augen die Pulsadern aufgeschnitten. Da kann er ja schlecht anschließend einfach so vom Friedhof spaziert sein.“
„Nicht in der normalen Welt“, stimmte Zander zu.
„Ich dachte, Sie haben alles im Blick!“
Seine Augen ruhten immer noch auf ihrem Gesicht. „Beruhigen Sie sich. Und versuchen Sie nicht dauernd aufzustehen. Wenn Sie jetzt aufstehen, fallen Sie sofort wieder um. Sie haben ganz bestimmt eine Gehirnerschütterung. Ich sollte Sie ins Krankenhaus bringen.“
„Sie können es ja mal versuchen. Ich will wissen, wohin Jäger verschwunden ist. Und wer hat mich überhaupt umgehauen? Wo kam diese … Gestalt auf einmal her?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Erneut hob Zander beide Hände hoch in die Luft, wie ein Zauberer, der dem Publikum zeigen will, dass er nichts darin versteckt hat. „Auf einmal war sie da, kam wie aus dem Nichts, hat zugeschlagen, ich kam aus meinem Versteck, hab vor ihr auf den Boden geschossen, und noch während ich dann hierhergerannt bin, um nach Ihnen zu sehen, war sie auch schon wieder verschwunden. Und Jäger gleich mit. Frau Gärtner, Sie müssen bei solchen Einsätzen unbedingt eine Waffe tragen. Warum zum Teufel tragen Sie keine Waffe?“
Charlottes Miene verdunkelte sich. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber sofort wieder. Sie hörte ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen, während sie sich im Geiste noch einmal in der Notaufnahme befand …
Die Türen öffneten sich mit einem schmatzenden Geräusch. Ein junges Mädchen wurde hereingefahren. Die Sanitäter machten laut ihre Angaben, erste Zugänge wurden gelegt, und das Mädchen wurde intubiert. Die Pupillen waren weit geöffnet, der Körper fühlte sich kalt an. Die Temperatur wurde angesagt: fünfunddreißig Grad. Der Blutdruck sank immer weiter ab.
Das Mädchen blutete sehr stark. Es war von einer Kugel in den Unterleib getroffen worden, die ihn so gut wie zerfetzt hatte. Die Kugel war aus Charlottes Waffe gekommen. Die Ärzte taten was sie konnten, aber der Schaden war angerichtet. Das Mädchen starb drei Stunden später.
Charlotte war entsetzt. Die Eltern des Kindes nicht weniger. Sie konnten nicht verstehen, warum ihr kleines Mädchen sterben musste.
„Mein Baby“, flüsterte der Vater mit einer Stimme, die vor Kummer fast versagte. „Sie war doch meine Kleine.“
„Wie konnte das passieren?“, wollte die Mutter erschüttert wissen. „Wie um Himmels willen konnte das passieren?“
Charlotte hatte es ihnen erklären wollen. Aber sie brachte nicht über die Lippen, dass die Kugel ein Querschläger gewesen war, der Schuss abgegeben bei einem Polizeieinsatz, in den dieses Kind durch puren Zufall geraten war.
Stattdessen hatte sie das Krankenhaus verlassen und war zu ihrem Wagen gegangen. Von diesem Tag an hatte sie keine Waffe mehr angerührt.
Es tut mir so leid, dachte sie jetzt wieder. Es tut mir so unendlich leid.
Laut sagte sie: „Die hätte mir eben auch nicht geholfen.“ Mühsam erhob sie sich und wankte ein paar Meter. „Das akzeptiere ich einfach nicht. Zwei Menschen können sich doch nicht einfach so in Luft auflösen!“
„Es war genau so, wie ich es Ihnen gesagt habe.“
„Und wenn ich Sie jetzt frage, ob Sie die Gestalt erkannt haben, die mich zusammengeschlagen hat, dann werden Sie das sicher wieder verneinen, hab ich recht?“
„Ich habe nichts gesehen außer einem schwarzen Gewand. Aber ich habe Jäger sehr genau zugehört. ‚Denken Sie an die Liebe‘, hat er gesagt. ‚Suchen Sie nach ihr in diesem Stück.‘“
„Ich habe es gehört, ich stand ihm direkt gegenüber. Und ich bleibe trotzdem dabei, dass das hier mit Liebe überhaupt nichts zu tun hat. Im Gegenteil, unser Mörder ist voller zerstörerischem Hass.“
„Ich glaube, Sie täuschen sich, Frau Gärtner. „Ich denke, der Mörder ist tatsächlich auf Annegret fixiert.“
„Lächerlich. Davon abgesehen, dass es völlig unlogisch ist, mit wem sollten wir uns darüber unterhalten? Die Einzige, die sich offenbar mit Annegrets Geschichte auskannte, war Elisa. Und die kann sie uns ja leider nicht erzählen.“
Zander schwieg einen Moment, dann sagte er: „Ich muss Ihnen etwas gestehen …“
Resigniert hob Charlotte die Hände in die Höhe. „Was?“
„Nachdem Sie mir auf diesem Friedhof zum ersten Mal von Annegret erzählten, habe ich mich ein wenig schlaugemacht …“
„Wollen Sie damit sagen, Sie kennen die Geschichte um sie?“
Zander nickte. „Ja.“
Noch nie in ihrem Leben hatte Susanne sich so elend gefühlt. Und noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr geschämt. Sie schwitzte und zitterte am ganzen Körper. Erst jetzt wurde ihr alles so richtig bewusst – was sie gesehen, was sie gehört, worauf sie sich eingelassen hatte. Das war der Moment, in dem ihre eigenen Dämonen sie bei lebendigem Leib auffraßen.
„Was hast du getan?“ Julias Stimme war wie ein Messerstich ins Herz, und ihr Blick traf sie wie ein scharfes Stück Metall. Susanne konnte nichts anderes tun, als sich abzuwenden, weil sie es nicht schaffte, ihr in die Augen zu sehen.
„Was“, setzte Julia noch einmal an, „hast du getan, Susanne? Und lüg mich jetzt nicht an.“
Dabei hatte Susanne gar nicht die Absicht, zu lügen. Was für eine Lüge hätte sie jetzt auch noch vorbringen können? Sie hörte sich selbst, wie sie leise sagte: „Eine Anwältin hat mich aufgesucht, deinetwegen.“
„Wie war ihr Name?“
„Britta Stark.“
„Was wollte sie genau?“
„Ich sollte ihr über alles Bescheid geben, was du tust. Sie wollte sogar wissen, was du denkst. Das hat sie gesagt.“
„Sie wollte, dass du dich mit mir anfreundest.“ Eine Feststellung, keine Frage.
Susanne nickte.
„Und mich aushorchst.“
Noch einmal nickte Susanne. „Julia, bitte, ich …“
„Was hat sie dir dafür geboten?“
„Egert würde die Anzeige gegen mich zurücknehmen. Die Anklage würde fallen gelassen. Ich bekäme meine Freiheit zurück.“ Hilflos sah Susanne Julia an. Sie wollte es unbedingt erklären, hatte aber keine Ahnung, wie ihr das am besten gelingen könnte. „Hör mir zu, bitte … Ich weiß, dass ich es nicht hätte tun sollen. Aber ich hatte so eine unglaubliche Angst, nie wieder hier rauszukommen. Ich dachte, ich werde mit jedem weiteren Tag nur noch verrückter hier drin. Und dann kam auf einmal diese Anwältin und bot mir die Chance …“ Susanne brach ab, wartete auf eine Reaktion von Julia. Und die kam. Sie holte aus und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht.
Einen Moment war Susanne viel zu verblüfft, um zu reagieren. Sie griff sich an die Wange, wollte etwas sagen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken.
„Was bist du für ein Miststück!“, zischte Julia. „Was bist du nur für ein verlogenes, hinterhältiges Miststück!“ Sie wandte sich in Richtung Tür.
„Bitte, Julia!“, sagte Susanne in ihren Rücken. „Tu mir das nicht an!“
„Was?“ Julia drehte sich noch einmal um. „Was soll ich dir nicht antun? Ich habe dich nicht verkauft. Ich hab kein Spiel mit dir gespielt, leichtfertig und ohne zu kapieren, worum es eigentlich geht.“ Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. „Dein Leben in Freiheit, Susanne, bedeutet vielleicht meinen Tod. Hast du das inzwischen verstanden?“
„Ich wusste doch nicht …“ Unglücklich hob Susanne die Hände in die Höhe. „Ich wollte es dir vorhin sagen. Wirklich. Kurz bevor die Sacher ins Zimmer kam.“
„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie tröstend ich das finde.“
„Bitte, Julia, ich häng da jetzt mit drin. Also sag mir, worum es geht. Sprich mit mir.“
Die Antwort darauf war nicht mehr als ein Zischen: „Das hast du doch gerade selbst gesehen. Du hast dich mit Mördern eingelassen. Hast du das Wort verstanden, Susanne? Mörder. Menschen, die keine Sekunde zögern, andere Menschen umzubringen.“
„Aber das wusste ich doch nicht. Wie hätte ich das ahnen können?“
„Was hast du denn gedacht, warum sie dich auf mich ansetzen?“ Mit dem Zeigefinger deutete Julia auf Susanne. „Du bist vieles, aber nicht naiv. Du wusstest ganz genau, dass da ein falsches Spiel gespielt wird. Erzähl mir nicht, dass du nicht wenigstens fünf Minuten darüber nachgedacht hast, ob du mich nicht vielleicht in Gefahr bringen könntest.“
Susanne schwieg betreten, und Julia warf die Hände in die Höhe. „Lieber Gott, ich bin so sauer, ich könnte dir glatt noch eine reinhauen. Aber hey, wenn jemand weiß, was es bedeutet, am schwächsten Punkt getroffen zu werden, dann ja wohl ich. Und dein schwächster Punkt ist nun mal dein Wunsch nach Freiheit. Da lässt man schon mal einen anderen Menschen über die Klinge springen. Das versteh ich natürlich, deshalb lass ich es.“ Sie öffnete die Tür und wollte hinausgehen, doch Susanne war schon bei ihr, schnappte sie am Handgelenk und zog sie noch einmal zurück. „Warum haben diese Leute deinen Vater umgebracht?“
„Das weiß ich nicht.“
„Warum sind sie jetzt hinter dir her?“
„Keine Ahnung.“
„Bist du diesem Mann vorher schon einmal begegnet?“
„Auch das weiß ich nicht.“
„Na, du scheinst ja eine ganze Menge nicht zu wissen.“
„Ich weiß immerhin, dass ich dich nicht mehr sehen will. Also lass mich gefälligst los und hör auf, mir nachzulaufen.“
Susannes Stimme war eindringlich. „Bitte, Julia! Bitte!“
In Julias Augen war so ziemlich alles zu lesen: Wut, Hass, Enttäuschung. Ein bunter Mix aus allem. Trotzdem sagte sie nach ein paar Sekunden: „Ich bin die letzten zwanzig Jahre davon ausgegangen, dass meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen. Jetzt erfahre ich, dass mein Vater ermordet wurde und meine Mutter vielleicht seine Mörderin ist. Vermutlich wurde ich als Kind entführt, um meinen Vater gefügig zu machen, vielleicht sogar von dem Mann, der eben noch in diesem Zimmer war. Allerdings erinnere ich mich nicht wirklich daran. Vor drei Monaten wollte mich ein Psychopath namens Wolfgang Lange umbringen. Daher die beiden Narben. Das sind Schussverletzungen. Ich dachte einen Moment, mit seinem Tod wäre es zu Ende. Aber nein.“ Julia schob sich direkt vor Susanne, damit sie auch wirklich ihre gesamte Aufmerksamkeit hatte. „Ich würde dir wirklich gerne mehr sagen, aber ich weiß leider nicht mehr. Alles, was ich weiß, ist, dass derjenige, der die Anwältin bezahlt, auch derjenige ist, der mich gerne tot sehen würde. Verstehst du das, ja?“
„Aber es ist nicht der Typ von eben“, sagte Susanne.
„Nein, davon gehe ich nicht aus. Das war nur ein Lakai. Jemand, der von jetzt an nur noch darauf wartet, mir eine Kugel in den Kopf jagen zu dürfen. So, jetzt weißt du alles. Ich hoffe, damit geht es dir besser.“ Erneut wandte Julia sich in Richtung Tür, drehte sich dann aber doch noch einmal um. „Ach, eins noch: Du hast einem Menschen eine Glasscherbe in den Rücken gerammt, Susanne. Das ist eine gefährliche Körperverletzung, vielleicht sogar schon versuchter Totschlag. In dem Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft so oder so, wenn sie erst einmal Wind davon hat. Du bist also trotzdem nicht aus dem Schneider, selbst wenn Egert die Anzeige gegen dich tatsächlich zurückzieht. Die haben dich verarscht. Tut mir wirklich leid für dich.“ Damit verließ Julia endgültig das Zimmer und schlug mit Wucht die Tür hinter sich zu.
Einen Moment stand Susanne völlig starr. Dann war ihr erster Impuls, die Möbel zu zerlegen, alles in Stücke zu schlagen, aber das würde jetzt auch nichts mehr ändern. Sie verließ in aller Eile das Zimmer, folgte Julia, und noch bevor diese ihr eigenes Zimmer betreten konnte, hatte sie sich vor sie in den Türrahmen gestellt.
„Geh mir aus dem Weg.“
„Ich werde hier stehen bleiben, bis du mir alles gesagt hast, was ich wissen muss.“
„Geh mir aus dem Weg.“
„Nein.“
Unnachgiebig starrten sie sich in die Augen.
Schließlich atmete Julia tief durch und ließ für einen Moment den Kopf sinken. Als sie dann wieder aufsah, sagte sie: „Diese Leute wollten vermutlich wissen, ob ich etwas über den Mord an meinem Vater weiß. Ob ich überhaupt etwas weiß. Darum ging es ihnen, und deshalb brauchten sie dich. Und du …“, mit dem Finger tippte Julia auf Susannes Brust, „hast ihnen genau das geliefert, was sie haben wollten. Jetzt wissen sie es, und ich steh auf der Abschussliste. Du kannst stolz auf dich sein, Susanne. Wirklich. Du hast einen guten Job gemacht. Und jetzt rate ich dir dringend, mir aus dem Weg zu gehen, bevor ich mich wirklich noch vergesse.“
Susanne öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Julia folgte ihrem Blick mit den Augen, und dann sah auch sie es …
Zuerst hatte Susanne gedacht, dass das unmöglich sein konnte. Es war, als würden ihre Augen eine ganze Weile brauchen, um das Bild, das sie vor sich sah, an ihr Gehirn weiterzugeben. Dann jedoch begannen alle Alarmglocken in ihr zu schrillen. In der nächsten Sekunde setzte sie sich auch schon in Bewegung. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen.
Die Tür zum Zimmer des alten Viktor Rosenkranz stand ein Stück weit offen. Sie erkannte einen seiner Hausschuhe. Daneben lag ein blasser Fuß, ein Männerfuß.
„Viktor!“, rief Susanne, während sie auf das Zimmer zustürmte. Die wenigen Meter dehnten sich zu Kilometern.
Der alte Mann lag auf dem Boden, eine Hand auf dem Bauch, die andere seitlich abgewinkelt. Sein Kopf war unnatürlich verdreht, die Lippen leicht geöffnet, die Augen geschlossen. Und überall war Blut. Es färbte das Violett seines Pullovers regelrecht schwarz. Jemand hatte auf ihn geschossen.
„Oh mein Gott.“ Susannes Herz raste. „Viktor!“
Der alte Mann reagierte nicht. Er rührte sich auch nicht.
Sie sank neben ihm auf die Knie, berührte seine Wange, versuchte, ihn dazu zu bringen, die Augen zu öffnen. „Viktor!“ Verzweifelt versuchte sie seinen Puls zu finden, aber sie zitterte so stark, dass sie überhaupt nichts fand. Also drückte sie ihr Ohr an seine Brust, der feuchte Stoff seiner Kleidung klebte an ihrer Wange, während sie lauschte. Sie hielt die Luft an, bis sie endlich das schwache Schlagen seines Herzens spürte und das fast unmerkliche Heben und Senken seines Brustkorbes.
Jemand trat hinter sie. Es war Julia, die sagte: „Ich hole Hilfe.“ Und dann wieder verschwand.
Susanne sah ihr einen Moment hinterher, dann wandte sie sich dem alten Mann wieder zu. Das hier war nicht die Wirklichkeit. Gleich wachte sie auf, und alles war wieder in Ordnung. Na ja, jedenfalls so in Ordnung, wie es unter den gegebenen Umständen in Ordnung sein konnte.
„Alles wird gut“, sagte sie und griff nach Viktors Hand. „Sehen Sie mich an, Viktor. Sehen Sie mich an!“
Seine Augenlider flatterten, doch sie öffneten sich nicht. Langsam öffnete er die Augen und murmelte: „Das … Jesuskind …“
Hastig sah Susanne sich um. Die Puppe lag etwa einen halben Meter von ihm entfernt. „Es ist hier“, sagte sie, weil sie wusste, dass sie ihn unbedingt wach halten musste. „Das Jesuskind ist hier. Ihm ist nichts passiert.“
„Du musst … darauf … aufpassen.“ Damit verlor sich die Stimme des alten Mannes.
„Viktor, nicht die Augen zumachen!“ Angst schoss durch Susannes Herz wie eine Pistolenkugel. „Reden Sie mit mir. Um Himmels willen, reden Sie mit mir!“
Dann erklangen wieder Schritte. Effinowicz sank neben ihr auf die Knie. „Der Krankenwagen ist unterwegs. Ich werde ihm in der Zwischenzeit das Hemd ausziehen, um die Blutung zu stillen. Reden Sie währenddessen weiter mit ihm, Frau Grimm. Sorgen Sie dafür, dass er bei uns bleibt.“
Susannes Stimme zitterte. „Ich will, dass Sie mich ansehen, Viktor. Sehen Sie mich an.“
Seine Lider flatterten erneut. Seine Nasenflügel bebten. Er drückte ihre Hand so fest, dass sie seine Knochen spürte. Dann spannten sich plötzlich seine Muskeln an. Sein Kopf begann zu zittern, und sie nahm die Schwingung auf wie eine Stimmgabel. Von seinen Lippen kam ein Gurgeln, Speichel sickerte ihm aus dem Mund.
„Wann kommt der verdammte Notarzt?“, schrie Susanne.
„Kann nicht mehr lange dauern“, sagte Effinowicz. Dann, an Viktor gewandt: „Herr Rosenkranz! Halten Sie durch. Halten Sie noch ein bisschen durch. Hören Sie mir zu. Halten Sie durch. Sie müssen auf mich hören …“
Plötzlich ging ein Ruck durch den Körper des alten Mannes, er biss die Zähne aufeinander und rollte mit den Augen. Aus seiner Kehle kamen gurgelnde Laute. Der Krampf war mit erschreckender Heftigkeit gekommen und fuhr durch seinen Körper. Er zitterte heftig, grunzte, verdrehte die Augen, und die Muskeln an seinem Hals traten hervor wie Stahlseile.
Als der Notarzt endlich kam, bildete Susanne sich ein, leises Flügelschlagen zu hören. Dann schossen ihr die Tränen in die Augen.