48. KAPITEL

Wie in einem Horrorfilm

„Der Name Annegret Lepelja ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf“, sagte Zander in Charlottes Richtung. „Dabei beschäftigte mich weniger der Gedanke, dass Sie etwas übersehen haben könnten, als vielmehr das Gefühl, dass vielleicht etwas falsch interpretiert worden war. Es muss einen anderen als die offensichtlichen Gründe für all das geben. Deshalb …“

„Herr Zander, bitte, kommen Sie zum Punkt.“

Er räusperte sich. „Ich habe herausgefunden, dass es noch einen einzigen Nachfahren von Annegret Lepelja gibt. Er heißt Nicolaus Lepelja und wohnt gar nicht weit von hier. Ich habe ihn gestern besucht.“

Charlotte starrte Zander an, blinzelte. „Mein lieber Herr Zander, ich möchte ja gar nicht schon wieder darauf herumreiten, dass Sie sich einmal mehr in meine Ermittlungen eingemischt haben. Die Erfahrung hat mir gezeigt, dass Ihnen das ohnehin völlig schnuppe ist und Sie ja sowieso machen, was Sie wollen. Aber wenn Sie sich schon eingemischt haben, warum haben Sie mir dann verdammt noch mal nichts davon erzählt?“

„Ich wusste ja bis vorhin selbst nicht, ob das, was ich von Lepelja erfahren habe, von irgendeiner Bedeutung ist.“

„Vorhin?“, fragte Charlotte. „Wann vorhin?“

„Als Julia die Erklärung für die Zahl 5 lieferte. Mit der 5 schuf er sie. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass es hier tatsächlich um etwas ganz anderes gehen könnte.“

Charlotte gab sich Mühe, ruhig zu bleiben. „Und da kam es Ihnen nicht in den Sinn, mir sofort von Ihren Gedanken zu erzählen?“

„Oh, ich wollte, aber der Anruf Ihres Chefs kam mir zuvor, wonach Sie wie von einem Bienenschwarm verfolgt aus der Klinik gestürmt sind. Und dann rief auch schon Jäger an.“ Zander brach ab und fügte ernst hinzu: „Und selbst wenn ich es Ihnen gesagt hätte, Frau Gärtner, Sie hätten es einfach abgetan. Nicht eine Sekunde hätten Sie mir zugehört.“

Charlotte wandte sich ab und ging ein paar Schritte. Nach ein paar Sekunden kam sie zurück. Er hatte recht, und sie wusste es. „Also bitte, sagen Sie mir, was Sie wissen.“

Zander räusperte sich und begann: „Nicolaus Lepelja ist der Urgroßneffe von Annegret. Sie hat damals in genau dem Haus gewohnt, in dem er heute wohnt. Zuerst behauptete er, er wüsste nicht viel über sie, nur das, was seine Mutter ihm als Kind erzählte. Dass Annegret eine Hexe gewesen sei, eine Mörderin und so weiter. Am Ende kam er dann aber doch zum Kern, und der lautet: Annegret hat um 1880 herum ihren einzigen Sohn verloren, und das hat sie nicht verkraftet. Er hieß Paul, die beiden haben sehr aneinander gehangen.“

„Wie alt war der Kleine?“, wollte Charlotte wissen.

„Acht.“

„Woran ist er gestorben?“

„Nun ja, er war wohl schon immer ein wenig kränklich. Empfindlich eben. Dann bekam er eines Tages eine Lungenentzündung. Er starb, und danach hatte Annegret niemanden mehr.“

„Was war mit ihrem Mann?“

„Das war ein stadtbekannter Säufer. Ist da schon ein paar Jahre tot gewesen. Angeblich im Suff in einer Pfütze ertrunken.“

„Was ist dann passiert?“, fragte Charlotte weiter. „Nachdem der Sohn gestorben war.“

„Annegret zog sich mehr und mehr zurück. Sprach mit niemandem mehr. Ging nicht mehr aus dem Haus. Sie ging regelrecht an ihrer Trauer zugrunde.“

„Aber das ist noch nicht die ganze Geschichte, oder?“

„Nein. Ein paar Wochen nach Pauls Tod soll eine Hexe mit Annegret in Verbindung getreten sein. Ihr Name war Svetlana. Niemand wusste, woher sie kam, aber der Geschichte nach tauchte sie aus einer Bank aus Nebel auf.“ Zander brach einen Moment ab, redete dann weiter: „Annegret glaubte, durch sie die Erleuchtung gefunden zu haben. Allerdings keine gute Erleuchtung. Sie bildete sich ein, sie könnte ihren toten Sohn zurückbekommen.“

„Wie das?“

„Nun ja, es heißt, Svetlana hätte Annegret aufgetragen, sich fünf Körperteile von fünf Kindern zu besorgen.“

Fünf Körperteile?“, entfuhr es Charlotte.

Zander nickte. „Was Annegret dann auch getan hat. Sie hat fünf Kinder umgebracht und sich die entsprechenden Körperteile besorgt. Natürlich ist ihr toter Sohn trotzdem nicht wieder von den Toten auferstanden. Sie wurde wegen fünffachen Mordes angeklagt und zum Tod durch den Galgen verurteilt. Das war es. Ende der Geschichte.“ Er brach ab und sah Charlotte an: „Frau Gärtner?“

„Ich komme mir gerade vor wie in einem Horrorfilm“, sagte Charlotte. „Ich kann fast die Musik dazu hören.“

„Also, ich bin ja normalerweise nicht dafür, herumzufantasieren“, bemerkte Zander. „Allerdings muss ich zugeben, dass tatsächlich eine ganz ekelhafte Logik hinter alldem stecken könnte. Und es wäre immerhin eine Erklärung dafür, warum Tämmerer die Augen und Campuzano die Zunge entfernt wurden. Und damit hätten wir dann auch endlich ein Motiv: Unser Mörder arbeitet an der Wiederauferstehung eines geliebten Menschen.“

Charlotte schüttelte den Kopf. „Das ist lächerlich. Absolut lächerlich. Nicht mal in der Legende um Annegret hat es funktioniert. Ihr Sohn ist nicht wieder von den Toten auferstanden. Wieso sollte unser Mörder sich einbilden, bei ihm könnte es gelingen?“

„Weil ihm vielleicht ein noch viel tieferer Stachel im Fleisch sitzt, als Annegret ihn je in sich trug. Was der Grund dafür ist, dass er glaubt, er könne es besser machen als sie.“ Zander brach ab und fügte nach ein paar nachdenklichen Sekunden hinzu: „Ja, ich glaube tatsächlich, dass es genau so ist: Er ist fest davon überzeugt, dass es bei ihm funktioniert. Mit der zweiten Serviette hat er es ja auch deutlich gesagt: Abrakadabra. Gehen wir davon aus, dass er Annegrets Tagebuch in den Händen hat, dann muss das für ihn so etwas wie der heilige Gral sein.“

Wie vom Blitz getroffen, richtete Charlotte sich auf. „Was für ein Tagebuch? Von was für einem Tagebuch sprechen Sie?“

„Annegret soll ein Tagebuch hinterlassen haben.“

„Woher wissen Sie das?“

„Nicolaus Lepelja hat mir davon erzählt.“

„Gibt es dieses Tagebuch noch? Und wenn ja, wo befindet es sich gerade?“

Zander deutete mit dem Daumen hinter sich. „Lepelja meinte, er hätte es schon vor einiger Zeit, zusammen mit anderen Büchern, an die Klinik gespendet, weil er mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun haben wollte. Was man ja irgendwie auch verstehen kann. Es ist bestimmt kein Spaß, der Nachfahre einer bekannten Kindsmörderin zu sein.“

Charlotte deutete ebenfalls mit dem Finger in Richtung Klinik. „Das heißt, das Tagebuch von Annegret Lepelja befindet sich schon die ganze Zeit dort drinnen in der Klinik?“

„Zumindest war es dort die ganze Zeit.“ Zander zuckte mit den Schultern. „Inzwischen ist es dort aber nicht mehr. Ich habe nachgesehen. Es gibt zwar im Gebetsraum eine Vitrine, in der sich alle möglichen Bücher befinden …“

Charlotte erinnerte sich daran, wie Jäger davon erzählt hatte.

„… aber darin ist kein Tagebuch. Deshalb gehe ich davon aus, dass es der Mörder an sich genommen hat. Würde ja immerhin Sinn ergeben.“

Charlotte dachte angestrengt nach, versuchte verzweifelt, Ordnung in die vielen Fäden zu bringen, die lose in ihrem Kopf baumelten. „Nein“, sagte sie dann. „Nein, ich glaube, dass jemand anderes das Buch an sich genommen hat.“

„Wer?“

Charlotte dachte an die Worte von Karl Waffenschmied: „Auf jeden Fall hätt er mich gestern aufm Flur fast umgerannt. Dabei hat er ’n Buch verloren. Das hat er dann ganz hektisch wieder aufgehoben und is wie der Blitz von ’ner Station gezischt. Dabei hatt er so ’ne grünlich-gelbe Farbe im Gesicht. Richtig gruselig.“

„Jemand, der vermutlich mehr weiß, als wir beide ahnen.“

Todesruhe
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