22. KAPITEL
Der bestmögliche Preis
Währenddessen passierte innerhalb der Klinik etwas, was Susanne Grimms Leben ein für alle Mal verändern sollte. Und dabei begann es eigentlich ganz harmlos, nämlich damit, dass sie sich gerade im Duschraum die bunten Haare kämmte, als es an die Tür klopfte und Heide Sacher den Kopf hereinsteckte.
„Sie haben Besuch.“
Susanne blinzelte verwirrt. „Ich erwarte keinen Besuch.“
„Der hier ist aber für Sie“, gab die Pflegerin zurück. „Eine Anwältin.“
Als sie wenig später mit zögernden Schritten den Aufenthaltsraum betrat, wartete dort eine schlanke Frau auf Susanne, die ein graues, elegantes Businesskostüm trug. Selbst wenn Susanne es nicht schon vorher gewusst hätte, den Beruf der Frau hätte man nicht einfacher erraten können, wenn sie das Wort „Anwältin“ auf der Stirn getragen hätte.
„Frau Grimm.“ Sie schüttelte Susanne flüchtig die Hand. „Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“ Das ganze Auftreten, die lockere und unbefangene Art wirkte derart routiniert, dass sie jahrelang daran gefeilt haben musste. „Bitte, nehmen Sie Platz.“
Susanne ließ sich auf einen Stuhl sinken.
„Mein Name ist Britta Stark“, stellte sich die Anwältin vor und zog sich ebenfalls einen Stuhl heran. „Wie Sie inzwischen wissen, bin ich Anwältin, und ich suche Sie im Namen Helmut Egerts auf.“ Sie lächelte und schien auf eine Reaktion zu warten.
Susanne antwortete: „Nun, dann sollte wohl auch besser mein Anwalt anwesend sein.“
„Ich hatte gehofft, dass Sie bereit wären, inoffiziell mit mir zu sprechen.“
„Über das Schwein Egert? Dann sind Sie naiver, als Sie aussehen. Ich glaube, es wäre mir lieber, wenn wir das Gespräch hier beenden.“ Susanne erhob sich.
„Glauben Sie mir, Frau Grimm, Sie sollten mit mir sprechen. In Ihrem eigenen Interesse.“ Das Lächeln auf Britta Starks Gesicht verschwand für einen kleinen Moment, kam jedoch sofort wieder.
Susanne ließ sich auf den Stuhl zurücksinken und wartete ab.
„Sie befinden sich in dieser Klinik, weil Sie Herrn Egert umbringen wollten, wie wir beide wissen“, setzte Britta Stark an.
„Es war nie meine Absicht, ihn umzubringen.“
„Aber Sie wollten ihn schwer verletzen.“
Schweigen.
„Oder warum sind Sie sonst mit einer zwanzig Zentimeter langen Glasscherbe auf ihn losgegangen?“
„Warum stellen Sie mir all diese Fragen? Ich bin mir sicher, Sie kennen die Antworten darauf in- und auswendig.“
„Da haben Sie allerdings recht. Ich hoffe, Sie vergeben mir, dass ich zuvor ein paar Erkundigungen über Sie angestellt habe, aber ich wollte doch etwas mehr über Sie in Erfahrung bringen, ehe ich dieses Gespräch mit Ihnen führe. Immerhin haben wir beide dasselbe Ziel.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie damit meinen.“
„Und ich kann mir, offen gestanden, kaum vorstellen, was für ein Gefühl es sein muss, derart rasend zu sein, dass man, ohne noch einmal darüber nachzudenken, einem anderen Menschen eine Glasscherbe in den Rücken rammt. Beschäftigen Sie sich noch viel damit?“
Das erneute Schweigen, das daraufhin entstand, währte nicht lange, aber es war total. Hinter Britta Starks Kopf fielen Sonnenstrahlen durchs Fenster, tauchten den Tisch und den Stuhl in ihr Licht und warfen die Umrisse der Glasscheibe auf den Boden. Susanne beobachtete eine Fliege, die sich über die Scheibe hinwegbewegte und nach einem Weg nach draußen suchte.
„Was wollen Sie?“, fragte sie schließlich.
„Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Aussage bei der Polizei?“
„Was immer ich gesagt habe, es wird die Wahrheit gewesen sein.“
Britta Stark begann, sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen zu klopfen. „Sie sagten aus, Sie hätten sich berufen gefühlt, die junge Frau zu rächen.“
Die Linien um Susannes Mund vertieften sich. „Das habe ich so ganz bestimmt nicht gesagt. Um sie rächen zu wollen, hätte ich sie nämlich kennen müssen. Das war aber nicht der Fall. Ich wollte ihr helfen. Der Dreckskerl wollte sie im Hinterhof der Kneipe vergewaltigen, und sie war nicht in der Lage, sich gegen ihn zu wehren. Deshalb habe ich es – hitzköpfig, wie ich nun mal bin – auf mich genommen, etwas zu unternehmen. Gut möglich, dass das unterm Strich falsch war. Vielleicht aber auch nicht. Jetzt bin ich in der Psychiatrie, und wenn der Prozess gegen mich vorbei ist, wird das über mich verfasste Gutachten dafür gesorgt haben, dass ich so schnell nicht wieder rauskomme. Was wollen Sie also noch von mir?“
Britta Stark erhob sich und stellte sich mit dem Rücken vor das Fenster. Susanne konnte die Fliege nicht mehr sehen, war sich aber ziemlich sicher, dass sie nur kurz weggeflogen war, um gleich darauf wieder zurück ans Fenster zu fliegen und weiter nach einem Weg in die Freiheit zu suchen. Das war der Vorteil eines Insektes: Es machte einfach immer weiter, bis es sein Ziel entweder erreicht hatte oder dabei draufgegangen war. Und damit hatte sich die Sache dann sowieso erledigt. Vielleicht wurde es von einer Fliegenklatsche erwischt oder von einem größeren Tier gefressen, was keinen Unterschied machte, weil das Insekt gar nicht ahnte, dass es in Gefahr schwebte. Bis es zu spät war. Im Grunde war es gar nicht die Fliegenklatsche, die das Insekt tötete, es waren seine Ahnungslosigkeit und die Unbedarftheit. Susanne ahnte nicht, wie nahe sie sich selbst gerade jetzt, in diesem Moment, an ihrer eigenen Theorie bewegte.
„Vielleicht müssen Sie ja gar nicht hierbleiben“, durchbrach die Stimme der Anwältin ihre Gedanken.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.“
Britta Starks Miene war unergründlich. Sie kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder. „Sehen Sie, ich verstehe das Dilemma, in dem Sie sich befinden, Frau Grimm. Wir alle möchten in den gegebenen Situationen das Richtige tun. Und genau deshalb bin ich hier. Sie sollten wieder eine Zukunft haben. Ein Leben in Freiheit. Und das können Sie erreichen. Verstehen Sie, was ich meine?“
„Nein.“
„Herr Egert ist bereit, die Anzeige gegen Sie zurückzunehmen.“
„Wie bitte? Das ist nicht Ihr Ernst.“
Erneutes Lippenklopfen. „Auch er möchte in der gegebenen Situation das Richtige tun. Die Anzeige würde zurückgenommen werden, die Anklage gegen Sie fallen gelassen, die Akte geschlossen, und Sie wären wieder frei. Aus dem Schneider, sozusagen.“
Susanne öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Setzte dann noch einmal an: „Und womit erklärt sich diese unverhoffte und untypische Wohltat? Das Schwein wird sich ja wohl kaum über Nacht in einen Heiligen verwandelt haben.“
„Nun, ich würde sagen, es ist in den letzten Tagen viel Gutes auf den Weg gebracht worden. Allerdings hängt es nun von Ihnen ab, was Sie daraus machen.“
Britta Stark nickte. „Sie müssten natürlich eine Kleinigkeit dazu beitragen.“
Stille. Die Uhr an der Wand sprang auf 9:12 Uhr.
„Und zwar?“ Susanne konnte nicht anders, sie musste es einfach fragen.
„Sie sollen sich mit einer Mitpatientin anfreunden.“
„Mit wem?“
„Ihr Name ist Julia Wagner. Informieren Sie uns über alles, was sie hier drinnen tut. Wir möchten über jeden ihrer Schritte informiert sein. Über jedes Wort, das sie sagt. Ja, wir wollen sogar jeden einzelnen ihrer Gedanken wissen.“
Wir?
Susanne starrte die Anwältin an. „Wer sind Sie? Von wem kommen Sie?“
„Wie gesagt, Sie können Ihr Leben wiederhaben, Frau Grimm. Es liegt allein an Ihnen.“ Britta Stark lächelte noch einmal dünn. „Denken Sie darüber nach. Und vergessen Sie nicht, dass es ein gutes Angebot ist. Ein Angebot, das Sie nicht ausschlagen sollten. Denn wer weiß, wie lange Sie sonst tatsächlich noch hier in der Psychiatrie verbleiben müssen.“
Bevor Susanne dazu kam, etwas darauf zu antworten, hob die Anwältin eine manikürte Hand in die Höhe und fügte hinzu: „Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber glauben Sie mir, die meisten Menschen haben ihre Seelen schon mindestens zehnmal verkauft. Es kommt nur darauf an, dass man den bestmöglichen Preis herausschlägt. In Ihrem Fall wäre das die Freiheit. Denken Sie darüber nach und bedenken Sie vor allem, was es Ihnen psychisch und physisch abverlangen würde, sollten Sie auf unabsehbare Zeit hier verbleiben müssen.“ Damit erhob sich Britta Stark. „Sie müssen sich entscheiden, und ich denke, bis heute Nachmittag sollte Ihnen das gelungen sein. Ich melde mich bei Ihnen.“ Wenig später hatte sie den Raum verlassen.
Die meisten Menschen haben ihre Seelen schon mindestens zehnmal verkauft. Es kommt nur darauf an, dass man den bestmöglichen Preis herausschlägt.
Hinterher fragte Susanne sich oft, ob sie die Schatten in diesem Moment schon gesehen hatte, die sich um sie herum zusammenzogen. Und ob sie gespürt hatte, wie sie langsam darin ertrank.