Epilog
Feng nahm den Helm ab. Natasja hatte einen in seiner Größe besorgt. Er gab ihn ihr jetzt zurück. Die Werwölfin saß noch immer auf dem Motorrad, mit dem sie ihn zum Bordell gefahren hatte und nahm stumm den roten Helm entgegen.
Sie nickte leicht und Feng erwiderte es. Dann wandte er sich um und ging die Stufen hinauf. Diesmal hielt ihn der Türsteher nicht auf.
Vor der Tür zu Elandros Büro blieb er stehen. Die großen Hände berührten die Klinke, drückten sie aber nicht herunter. Stattdessen wurde sie von innen geöffnet.
Feng sah sich Elandros gegenüber. Er hatte sich seit dieser Nacht vor zwei Wochen verändert, auch wenn äußerlich keine Veränderung zu sehen war. Elandros Blick war noch immer milchig-trüb.
Wortlos trat Elandros zur Seite und ließ Feng eintreten. Der setzte sich auf den Stuhl vor den Schreibtisch und stützte die Arme auf die Knie. »Du wolltest mich sprechen?«, fragte er leise.
Elandros bewegte sich geschmeidig. Feng hatte damit gerechnet, dass der Vampir sich auf den Drehstuhl hinter den Schreibtisch Platz nehmen würde. Stattdessen zog er einen anderen Stuhl heran und setzte sich neben Feng. Anscheinend schien es auch dem Vampir unbehaglich zu sein, zu nah an der versteckten Tür sitzen.
»Ich wollte mit dir reden. Was ist passiert?« Der Vampir stützte sich auf die Armlehnen des Stuhls. Feng fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Nicht viel«, murmelte er. »Nachdem Kay nach unten gegangen war, explodierte irgendetwas im Raum.«
Elandros nickte. Die Stahltür hatte noch immer eine eindeutige Delle.
»Wir brachen die Tür auf und fanden dich und Feline darin«, fuhr Feng fort. »Du warst ohnmächtig und sie… du weißt es ja selbst. Du hast sie gesehen.«
Feng fuhr sich über das Gesicht. »Ich möchte dir auch eine Frage stellen.«
Elandros sah Feng ernst an.
Feng atmete tief ein und fuhr sich wieder durch die Haare. »Wie viel… wie viel davon…«
»Wie viel davon ging von mir aus?« In Elandros Miene rührte sich kein Muskel. »Wie viel davon war ich selbst?«
Feng senkte den Kopf.
»Ich habe dich sehr enttäuscht, nicht wahr?«, sagte Elandros sanft. Feng hob den Kopf. Elandros fuhr sich nachdenklich über die Schläfe. »Es ist dein gutes Recht, nach Entschuldigungen zu suchen, die mein Verhalten erklären. Bis zu einem bestimmten Punkt wirst du sie auch finden.«
»Ich will es von dir hören!«
Elandros schüttelte den Kopf. »Du würdest mir alles glauben. Jedes Wort, das ich sage, nur damit dein Bild von mir wieder rein ist.« Elandros legte leicht den Kopf schief, als würde er einer fremden Stimme lauschen. »Dieser Weg ist mir zu billig. Wer oder was ich bin, das ist meine Sache. Wen du aus mir machen willst – das ist deine.«
Feng stand auf. Er zitterte leicht. Irgendwo tief in sich wusste er, dass Elandros Recht hatte. Aber im Augenblick wehrte sich alles in ihm dagegen, diese Erkenntnis zu akzeptieren.
Feng war jung. Er würde lernen. Ohne ein Wort des Grußes drehte er sich um und verließ das Bordell.
Kay setzte sich auf. Der Himmel vor dem Fenster war grau; dahinter konnte er aber die ersten Anzeichen des Morgens sehen. Adergraue Flecken. Er lächelte schwach. Die Nacht war vorbei. Zum Glück.
Nach der Sache im Keller des Bordells hatte er sich für lange Zeit zurückgezogen. Er war zum Hain seiner Familie gegangen und hatte versucht, die aufgebrachten Geister und auch seine eigenen Gedanken zu beruhigen. Es war leichter gegangen, als erwartet. Immerhin hatte er auch Hilfe dabei gehabt.
Kay seufzte und schwang seine langen Beine über die Bettkante. Das Zimmer war kalt. Er beachtete es nicht, sondern trat ans Fenster.
Vor dem Haus lag der Stadtpark. Der Seelie-Sidhe sah über die kahlen Baumwipfel und den kümmerlichen Rasen. Im Sommer waren die Wege und Grasflächen belegt von Besuchern. Aber zu dieser frühen Stunde und im Winter waren dort nur Obdachlose und die letzten verzweifelten Stricher zu finden.
Kay schloss die Augen und lehnte seine Stirn an das kühle Glas. In seinem Kopf hallte sein Herzschlag wieder. Und nicht nur seiner.
Seine Hand berührte den winzigen Anhänger um seinen Hals. Feng hatte seinen wiederbekommen, Kay noch einen weiteren angefertigt. Eher aus sentimentalen Gründen, wie er sich selbst eingestehen musste. Er hatte ihn im Hain gefertigt und nicht nur eine Strähne seines eigenen Haares eingeflochten. In der Phiole um Felines Hals und auch in seiner eigenen, war neben dem Gold seines Haares, eine braune Strähne zu finden. Braun wie Ariens Haar.
Er lächelte, als er sich daran erinnerte, wie er die Phiole an das jüngste Mitglied seines Clans gegeben hatte:
»Was soll ich damit?« Feline sah ihn skeptisch an. Selbst, nachdem sie von den Toten wieder auferstanden war, hatte sie sich diesen leicht zynischen Unterton in der Stimme bewahrt, wenn Kay sie mit etwas aus der Anderswelt konfrontierte.
»Ein Versöhnungsgeschenk«, antwortete er.
Feline untersuchte die Phiole genau. »Du hast Feng auch so eine geschenkt. Als Überwachung.«
Kay schüttelte den Kopf. »Als Schutz. Aber das hier ist dein Anhänger, nicht seiner.«
»Was macht den Unterschied aus?«
Kay nahm ihr die Kette aus der Hand und trat hinter sie. Den Tarnzauber beherrschte sie mittlerweile perfekt – das rote Haar, das er anhob, war zwar schön, aber es machte nicht mehr den Eindruck, aus einer anderen Welt zu stammen. Umsichtig legte er ihr das Schmuckstück an und trat dann wieder vor sie. Feline sah an sich herunter.
»Es ist mein Geschenk als Seelie-Sidhe an dich. An… eine Tochter meines Clans und die Tochter einer Freundin.«
Feline umfasste den winzigen Anhänger. Sie hatte die brauen Strähne darin bemerkt. In den blauen Augen schimmerte es verdächtig, aber sie blinzelte, ehe die Tränen einen Weg fanden.
Das Glas des Fensters wurde zu kalt auf seiner Haut. Er hob den Kopf und bemerkte neben der Reflexion seines Gesichts in der Fensterscheibe ein weiteres. Es lächelte.
Kay drehte sich um und strich Agnes das wirre Haar aus der Stirn. »Wieso bist du aufgestanden?«, murmelte sie und sah an ihm vorbei aus dem Fenster.
»Ich konnte einfach nicht mehr schlafen.«
Sie strich mit flachen Händen über seine nackte Brust und verharrte an dem Anhänger. Ihr Blick wurde nachdenklich. Kay bemerkte es und berührte sanft das Holzkreuz, das zwischen Agnes weichen Brüsten ruhte. Sie hob den Blick und lächelte. Dann fasste sie seine Hand und zog ihn zurück zum Bett.
Ich schloss die Tür hinter mir ab. Es war fast morgens, aber ich war nicht einmal im Ansatz müde. Seit meiner Reinkarnation hatte sich einiges geändert. Hatte ich bis vor drei Wochen meine Wohnung kaum noch verlassen, war es jetzt selten, dass ich mich darin aufhielt. »Ich bin wieder zu Hause, Schatz!«
Mir antwortete ein verwirrtes Schnauben und ich grinste breit. Ich liebte es, meinen Ficus aus dem Schlaf zu reißen.
»Wo warst du?«, nuschelte er, als ich mich mit einer offenen Flasche Bordeaux und einem bauchigen Glas ins Wohnzimmer setzte. »Aus«, informierte ich ihn brav. »Mit Freunden.«
Der Ficus gab einen undefinierbaren Laut von sich. »Ich nehme Alkohol wahr.«
»Willst du auch was?«, bot ich jovial an.
»Igitt, nein danke.«
Ich lächelte und genehmigte mir selbst einen großen Schluck des edlen Tropfens. Es tat so gut wieder zu fühlen, dass ich lebte! Heute war es eine Cocktailbar gewesen, morgen ging es zum Tanzen; ich traf mich mit Freunden und nahm exzessiv alles in mich auf.
Kein Wunder.
Vor zwei Wochen hatte ich viel aufs Spiel gesetzt. Aber ich hatte darauf vertraut, dass mein Gefühl mich nicht trog. Ich hatte gehofft, dass Uriel Recht hatte, wenn er mich menschlich nannte. Sowohl der Fey als auch der Vampir in mir waren unsterblich. Alles, was in mir sterben konnte, war die Frau Feline Alana Rot und sie wurde von Samhiel getötet.
Die übrigen Engel waren auf den Schwindel reingefallen. Nachdem ich gestorben war und das Wort daraufhin zu seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgekehrt war, war es vorbei gewesen. Für mich zumindest.
Ich stellte das Glas auf den Tisch und nahm mir eines der Sofakissen. Für Samhiel war es nicht vorbei. Wenn eine Chance bestanden hätte, dass er trotz seines Verrats hätte zurückkehren können, hatte er die mit dem Mord an mir endgültig verspielt. Ich hatte bei dieser Geschichte nichts gewonnen, außer vielleicht ein paar Karmapunkten. Samhiel dagegen hatte alles verloren.
Ich stürzte den Rest des Weines herunter. Gedanken an meine Mutter schmerzten. Gedanken an Samhiel erfüllten mich mit Reue und der Frage, ob ich ihn nicht doch hätte retten können.
Ich schenkte mir weiteren Wein ein. Wem machte ich etwas vor? Ich hatte nicht einmal meine Mutter retten können. Nachdenklich drehte ich den dünnen Stiel meines Weinglases zwischen den Fingern. Sie war dort, wo sie glücklich sein konnte, hatte Kay mir gesagt, nachdem sie mich aus diesem Keller herausgeholt hatten. Sie hatten mich für tot gehalten. Für eine Weile war ich das auch gewesen, bis ich auf der Liege in Elandros Büro ein Klopfen hörte. Es hatte meinen Tod gestört. Mein Herz hatte mich gezwungen, ins Leben zurückzukehren.
Soweit ich es verstanden hatte, war in diesem modrigen Zimmer nichts anderes mehr gewesen, außer dem ohnmächtigem Elandros und mir. Kein Dämon, keine Engel. Nichts.
Ich nippte an meinem Glas und kaute dann an meiner Unterlippe herum. Wo sich dieser Dämon aufhielt, wollte ich eigentlich gar nicht so genau wissen. Die Erinnerung an ihn war noch zu deutlich.
Was Roumond anging…
Ich nippte abermals. Als wir die Treppe hinaufgegangen waren, war er das Erste, was ich sah. Ein zusammengesunkenes Häufchen Vampir, das mich nicht einmal wirklich wahrnahm. Er hatte mich gefragt, ob ich ihn töten wollte. Zu meiner eigenen Überraschung hatte ich verneint. Roumond hatte mich bei den Armen gepackt und geschüttelt, aber Feng hatte ihn an den Schultern zurückgerissen.
»Sie hat ihr Versprechen nicht gehalten! Sie hat gelogen! Du musst mich töten, sonst kann ich es niemals wieder gutmachen!« Seine Schreie hallten noch in meinem Kopf nach, selbst jetzt, wo es schon Tage her war.
Schlussendlich war er fortgerannt. Auf unserem Weg aus dem Bordell hatten wir ihn wiedergesehen. Er hatte mit weit ausgebreiteten Armen vor dem Haus gestanden und auf den Sonnenaufgang gewartet.
Jetzt saß ich hier, eine müde, angetrunkene Endzwanzigerin mit gelegentlichen Anfällen von Reue und häufigen Anfällen von schmerzlichem Verlust. Aber das war es, was wichtig ist, nicht wahr? Dass man weitermachte und lebte. Egal als was geschah.
»Siehst du das nicht ein wenig zu negativ?«, flüsterte jemand an meinem Ohr und gleichzeitig legte sich eine Hand über meine Augen. Ich wollte mich wehren, aber mein fremder Besucher hielt mich fest auf das Sofa gedrückt.
»Bleib ruhig, Kätzchen!«
»Samhiel?«
»Kann ich dich jetzt loslassen oder schlägst du weiter um dich?«, lachte er. Ich atmete tief ein. Die wenigen Bilderfetzen vor meinem inneren Auge, waren alles andere als erfreulich. Sah Samhiel jetzt aus wie Elandros Dämon?
»Willst du es herausfinden?«
»Was meinst du?«, fragte ich überrascht. Ich hatte meinen Gedanken nicht laut ausgesprochen.
»Wie ich aussehe?«
»Seit wann kannst du Gedanken lesen?«
Noch immer war ich blind, aber dafür spürte ich umso intensiver, wie weiche Lippen meinen Hals streiften. Gänsehaut kroch über meine Haut. »Ich habe noch einiges anderes gelernt«, raunte er leise.
Vorsichtig drückte ich seine Hand herunter und drehte den Kopf zur Seite. Ich sah direkt in seine Augen. Samhiels Gesicht hatte sich nicht verändert. Weder rottete ihm das Fleisch von den Knochen, noch grinste er mich mit scharfen kleinen Zähnen an.
»Samhiel«, wiederholte ich fassungslos und berührte seine Wange. Er drehte den Kopf zur Seite und küsste meine Handfläche. Das Schaudern wiederholte sich und zog sich in ganz andere Bereiche meines Körpers fort.
»Wie hast du… ich dachte…« Wunderbar, ich stotterte wie ein kleines Kind.
»Ich muss zugeben, dass es Schlimmeres gibt, als als Seraphim in die Hölle hinabzusteigen«, schmunzelte er. »Erst recht, wenn man als Inkubus wiederkehren kann.«
»Inkubus? Das heißt, du bist jetzt hinter meiner unsterblichen Seele her?«
Samhiel berührte mit seinen Fingerspitzen federleicht die Haut meines Dekolletés. »Eher hinter deinem unsterblichen Körper.«
»Das ist der dümmste Witz, den ich je gehört hatte«, murmelte ich und lehnte die Stirn gegen seine Schulter. Meine Kehle wurde mir eng.
»Ich sehe, du lachst schon Freudentränen«, neckte er mich sanft und wischte die paar Tropfen, die mir aus den Augenwinkeln liefen weg.
Ich sah auf und berührte ungläubig, sein Gesicht, streichelte über seine Lippen. »Also ist es wirklich gut gegangen?«
»Gut gegangen? Wirklich gut ist es noch lange nicht. Aber das Wort ist wieder bei IHM. Vielleicht ist ER es sogar selbst gewesen.«
»Was?!« Ich setzte mich kerzengerade hin.
Samhiel schmunzelte. »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«, zitierte er.
»Ich war nie gut im Religionsunterricht«, murmelte ich und verstand dann erst, was er da sagte. »Das… heißt das, ich habe Maria gespielt?«
Samhiel musste über den Vergleich so schallend lachen, dass ich befürchtete, meine Nachbarin würde jeden Moment vor der Tür stehen.
»Nein«, keuchte er schließlich »Das nicht. Aber du warst sehr gut. Ich hatte wirklich Angst, du lässt dich auf einen Handel mit dem Dämon ein.«
»Ich habe auch mit dem Gedanken gespielt.«
Samhiel berührte meine Lippen, streichelte sanft daran entlang. Die Berührung ließ meinen ganzen Körper elektrisiert zurück. »Und was hat dich abgehalten?«, fragte er.
»Arien und du.« Sein Daumen streifte meinen Kiefer. Ich schloss die Augen und seufzte. »Ihr beide habt viel für mich aufgegeben. Das gab den Ausschlag.«
»Mhm.« Sein Daumen wurde durch seine Lippen ersetzt. Heiße, suchende Lippen.
»Und… was ist ein Inkubus?«, fragte ich schwach.
Samhiels Grinsen war deutlich in seiner Antwort zu hören. »Das werde ich dir mit Vergnügen zeigen.«
Ich seufzte. Dann fiel mir etwas ein. »Auch wenn du nichts sehen kannst, aber so fühle ich mich besser«, murmelte ich und stand auf. Mit einem Griff hatte ich das Tischtuch genommen und warf es über meinen Ficus. Lauter Protest ertönte.
Ich lächelte und setzte mich wieder neben Samhiel. »Ab jetzt hast du sehr viel Zeit, es mir zu zeigen«, murmelte ich an seinem Mund, ehe er mich küsste.