Kapitel 11
Feng rieb sich über die Schläfen. Es war eine lange Nacht gewesen und auch Kay sah nicht besser aus als er selbst. Unter seinen grünen Augen waren dunkle Schatten.
»Wie lange warst du gestern noch vor Agnes’ Tür?«, schoss Feng ins Blaue.
Kay rieb sich über das Nasenbein. »Bis heute Morgen.«
Feng verkniff sich eine Bemerkung über die unverhältnismäßig lange Wache. »Und, ist er wieder aufgetaucht?«
»Nein. Ich habe nicht einmal etwas umherschleichen sehen.«
»Gut. Oder nicht gut. Man kann es von zwei Seiten sehen.«
»Kann man. Allerdings heißt es im Augenblick, dass wir absolut keinen Ansatzpunkt habe, was den Mörder des Kappa angeht. Und ich will wissen, wer Agnes das angetan hat«, erwiderte Kay ungewöhnlich düster.
»So, möchtest du?«
»Du nicht?«, fragte der Fey.
Feng lächelte und blies in seinen schwarzen Kaffee. Die kleinen Dampfschwaden schienen sich einen Augenblick lang zu Mustern zu finden, ehe sie wieder den physischen Gesetzen folgten, und in die Richtung davon schwebten, in die Fengs Atem sie blies. »Doch, natürlich.«
»Dann lass das narrenhafte Grinsen.«
»Natürlich, mein Herr.«
Kay stöhnte entnervt auf. Dann stutzte er. »Herr… einer von uns muss zum Herrn des Leids gehen!«
»Was?« Feng vergaß glatt, aus seiner Tasse zu trinken.
»Du hast mich schon verstanden.«
Feng sah düster in seinen Kaffee. »Du weißt, was es kostet, wenn man ihn um Hilfe bittet. Und mein Hals tut noch vom letzten Mal weh. Geh du.«
»Ich kann nicht. Er mag mich nicht. Aber für dich scheint er ein besonderes Faible zu besitzen.«
»Du bist derjenige, der sich auch mit Männern einlässt«, protestierte Feng. Er würde nicht freiwillig noch einmal da hineingehen!
»Wie gesagt, er mag mich aber nicht. Und unseren Neuzugang willst du doch nicht schicken, oder?«, fragte Kay gespielt entrüstet.
»Verdammter Mistkerl!« Feng verdrehte die Augen und knurrte Kay an, der aber nur lächelte.
»Ich fahr dich auch. Der Sprit ist so teuer geworden, da solltest du froh sein, wenn du was sparen kannst«, erwiderte der Fey.
»Du hast nicht einmal ein Auto!« Feng stand auf und zog sich einen schwarzen Sweater über, auf dessen Vorderseite der Schriftzug »Not the end of it« prangte. Der Drache hätte in seiner Aufmachung nicht gegensätzlicher zu Kay sein können, der einen einfachen beigefarbenen Anzug mit roter Krawatte trug. Feng hob sich mit Absicht von seinem Partner ab. Zum einen liebte er es bequem und sportlich, zum andere neigten Klienten und Fremde deswegen dazu, ihn zu unterschätzen. Er hatte gerne alle Vorteile auf seiner Seite.
»Stimmt. Nehmen wir deinen Wagen.« Wäre Kays Miene nicht so ernst gewesen, hätte man fast vermuten können, dass er Feng aufzog. Fast.
Als sie sich auf den Weg machen wollten, klingelte Kays Handy. Feng konnte nicht verstehen, wer es war, aber es musste eine weibliche Person sein, denn das Kreischen, am anderen Ende der Leitung, war zum einen sehr hoch und zum anderen so laut, dass selbst er es hörte. Einzelne Worte waren nicht auszumachen, aber da ging es ihm wohl nicht besser als Kay. Der hatte das Handy vor Schreck gleich fallen lassen und beeilte sich, es aufzuheben. Hastig drückte er auf das rote Telefonsymbol auf den Tasten.
»War das Feline?«
Kay sah das Handy an, als würde es jeden Moment wieder losschreien. »Es klang nicht nach ihr, aber es war ihre Nummer. Fahren wir lieber hin.«
Feng widersprach nicht und anstatt wie geplant ins Bordell zu fahren, raste er mit hoher Geschwindigkeit zu Felines Wohnung.
Als sie klingelten, wurde sofort der Summer gedrückt. Kurz darauf standen sie auch schon vor der Wohnungstür in der zweiten Etage. Kay trat ein und Feng schloss die Tür hinter ihnen. In diesem Augenblick tauchte Feline wie aus dem Nichts auf und stürzte sich auf Kay. Der Sidhe war dermaßen überrascht, dass er nicht einmal den Ansatz machte, sich zu wehren.
»Du Mistkerl!«, schrie sie und schlug ihm ins Gesicht. Kay starrten die Furie vor sich fassungslos an und Feng ging es ähnlich. Er hätte nicht gedacht, die junge Frau jemals so aufgebracht zu sehen. »Wie könnt ihr spitzohrigen Bastarde nur …«
Bevor sie weitersprechen konnte, kam ein Mann aus dem Wohnzimmer und fasste sie um die Schulter, um sie von dem Fey wegzuzerren »Beruhig dich endlich«, sagte er laut.
Kay strich sich über die Wange und betrachtete seine Fingerspitzen. Feng blickte ihm über die Schulter und sah rotes Blut schimmern. Feline hatte Kay mit ihrem Fingernagel erwischt und die weiße Haut angeritzt.
»Wovon sprichst du?«, fragte der Fey trotzdem ruhig.
Feline, die jetzt nicht mehr versuchte, sich aus dem Griff des Fremden zu winden, funkelte Kay wütend an. »Sieh es dir selbst an! Da!«
Sie deutete anklagend auf das Schlafzimmer und nahm den Arm erst wieder nach unten, als Kay vorsichtig hineinging. Feng folgte ihm mindestens genauso vorsichtig. Der Geruch, der ihnen entgegenwehte, schlug jeden Gestank, den der Drache in seinem Leben jemals gerochen hatte, um Längen. Es war Wahnsinn, seit Jahrzehnten kultiviert, gepaart mit Verfall und verrottetem Fleisch. Feng schlug die Hand vor den Mund.
Auf dem Bett lag eine lange dürre Gestalt, die ihnen aus hohlen Augen entgegenblickte. Fleisch war kaum noch auf den Knochen, nur noch pergamentartige Haut, die den Blick auf das Skelett nicht im Mindesten verhüllte. Es war ein Leichnam. Das war zumindest Fengs erster Gedanke, ehe er das schwache Schlagen des Herzens unter den Brustknochen sah. Die Haut war so weit herabgesunken, dass sie auf dem Organ auflag. Er würgte, als er bemerkte, dass sie sich im Takt des Organs bewegte. Auch die Augen waren noch lebendig und glühten mit solchem Irrsinn, solchem Hass, dass selbst Feng einen Schritt zurückwich.
»Sieh dir seine Finger an«, sagte Kay kalt. Feng wusste, dass es Kays Art war mit diesen Dingen fertig zu werden, dennoch spürte er das erste Mal Unwillen aufflammen. Die Zähne hinter den vertrockneten Lippen machten das Wesen eindeutig zum Vampir, zum Grenzgänger. Er sah auf die Finger. Die Spitzen bestanden nur noch aus blanken Knochen. Die Pergamenthaut darüber war aufgeplatzt, die Fingernägel abgesplittert oder nach hinten verbogen.
Sein Blick fiel auf das Loch in der Wand. Graue Fetzen eines alten Bannzaubers wehten daraus hervor. Dieser Vampir hatte wohl Jahre in diesem steinernen Gefängnis verbracht und sich die Finger abgeschabt, als er verzweifelt an der Wand gekratzt hatte. Vampire starben nicht, wenn sie kein Blut bekamen, wusste Feng. Aber der Organismus brauchte Blut, um sich erhalten zu können. Bekam er das nicht, begann er sich an den eigenen Reserven zu bedienen. Gleichzeitig regenerierte er sich aber in den nötigsten Punkten. Das hieß also ein Teufelskreis aus Kannibalismus und Heilung für einen eingesperrten Vampir. Deswegen war die Einmauerung eine beliebte Methode der Fey während des Krieges gewesen, um die unsterblichen Vampire aus dem Verkehr zu ziehen und zu verunsichern. Es war ihnen auch gelungen.
Feng verstand, warum Feline so aufgebracht war, auch wenn die Frage offen stand, woher sie davon gewusst hatte.
Feng wandte sich von dem krächzenden Ding auf Felines Bett ab und kämpfte die alten Vorurteile nieder. Schließlich war es seine Aufgabe, dass sie nicht mehr auftauchten, auch nicht in ihm selbst.
Kay ging auf den Flur, wo Feline noch immer stand, den Fremden neben sich. »Wie hast du ihn gefunden?«
»Sie hat einen Hausgeist ihrer Mutter hier. Er hat ihn ihr gezeigt«, sagte der Mann an Felines Seite.
»Und du bist?«
»Samhiel.«
Kay nickte. Dann wandte er sich wieder an Feline. »Das ist…«
»Grausam! Es ist widerwärtig und grausam!« In ihren blauen Augen schimmerte es verdächtig. »Wie kann irgendjemand irgendwem nur so etwas antun? Er hat Jahrzehnte darin gesessen, Kay! Jahrzehnte! Und dabei gekratzt, geschrien, geklopft – niemand hat ihn gehört oder ihn hören wollen. Wenn ich mich nicht entschieden hätte, mein Schlafzimmer ausgerechnet dorthin zu legen…« Sie brach ab.
Kay spürte, wie seine sorgsam aufrecht erhaltene Ruhe langsam brach. Ein Kind stand vor ihm, ein kleines Kind, das nicht einmal ein ganzes Leben hinter sich gebracht hatte und wagte es tatsächlich, ihn anzuklagen, als hätte es den Krieg gesehen. »Hast du gedacht, wir spielen hier? Dass das, was Feng und ich tun nur ein lustiger Zeitvertreib ist?« Er schüttelte den Kopf, als wolle er seine Frage selbst beantworten. »In den Kriegen haben diejenigen überlebt, die am grausamsten waren. Die es am geschicktesten verstanden, ihre Gegner zu täuschen, zu quälen und zu töten. Es war ein Krieg und er dauerte Jahrhunderte. So etwas darf nicht noch einmal geschehen. Sonst werden noch mehr arme Teufel, wie er hier in Mauern landen; dann werden noch mehr Kinder im Bauch ihrer Mutter erstochen oder mit einem Bannzauber auf ewig darin versiegelt werden. Noch mehr Elfenfrauen mit toten Kindern in ihrem Körper, die sie Jahr um Jahr mit sich herumtragen müssen. Das darf nicht mehr geschehen!«
Feline starrte Kay an. Feng, der inzwischen wieder bei ihnen stand, tat es auch. Nur Samhiel wirkte ruhig. Kay atmete sorgsam ein und wieder aus, um sein Gemüt zu beruhigen. Er wusste, dass die Luft um ihn herum bedrohlich knisterte und bemühte sich doppelt so schnell, seine Fassung wieder zu erlangen. Aber dieser Anblick… er brachte alles zurück. Und das war etwas, was er nur schlecht verkraften konnte.
»Ich weiß um die Sünden, die wir alle begangen haben«, fuhr Kay leiser fort. »Und genau deshalb tue ich das hier. Damit wir dieses Spiel nicht weiter treiben. Damit wir damit abschließen können.«
Feline senkte den Blick. »Ich…«
»Nein.« Kay schnitt ihr das Wort ab, ehe sie weitersprechen konnte. Feline zuckte zusammen.
Kay drehte sich zu Feng um. »Denkst du, es kann so für ihn weitergehen?« Er deutete auf das Schlafzimmer.
Der Drache sah zu der Gestalt, die versuchte, sich aufzurichten, aber nicht einmal den Arm heben konnte. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Ich werde ihn mitnehmen. Vielleicht kann er…«
Kay nickte. Dann wandte er sich wieder an Feline und Samhiel. »Wir nehmen ihn mit. Lass das Loch reparieren.«
Sie sah auf. »Nein.«
»Ich werde das nicht mit dir diskutieren. Hier kann er nicht bleiben. Er kommt mit«, befahl Kay.
Feline fuhr sich durch die roten Haare. Einen Moment lang schien sie protestieren zu wollen, sackte dann aber in sich zusammen. Schlussendlich nickte sie.