Kapitel 9

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Frustriert suchte ich auf der Tastatur zum wiederholten Mal nach irgendeinem der Zeichen, die auf dem Zettel standen. Nichts. Der Schreibtisch war bereits meiner Suche zum Opfer gefallen. Ich hatte mich zwar zurückhalten können und alle Papiere, Dokumente, Akten und Krimskrams an Ort und Stelle gelassen, aber jede Schublade und jedes Fach stand offen. Trotz allem – nichts.

Jetzt versuchte ich im Computermenü irgendetwas Brauchbares zu finden, aber außer den üblichen Einstellungen fand ich nichts.

Ungeduldig gab ich auf und stand auf. Eine geschlagene Stunde hatte ich jetzt schon an diesem Computer gesessen.

Auf Kays und Fengs Handy hatte ich jeweils eine Nachricht hinterlassen, um ein wenig Hilfe zu bekommen, aber bei beiden sagte mir eine freundliche Stimme vom Band, dass diese Telefone zurzeit nicht erreichbar wären.

Ich konnte und wollte das Büro nicht allein lassen und hatte daher begonnen, mich mit Fengs Zettel zu befassen. Aber auch das klappte nicht.

Also landete der Zettel auf der Tastatur und ich setzte meine abgebrochene Suche nach einer Kaffeemaschine fort. In einer Nische, die wohl eigentlich für Putzutensilien gedacht war, wurde ich schlussendlich fündig.

Mit einigen Kacheln und einer Spüle war eine notdürftige Küche erstellt worden, die eigentlich nur aus besagter Spüle und einem Klapptisch mit Utensilien bestand. Darüber hing ein Schränkchen, in dem ich Tassen, Besteck und kleine Teller fand.

Während der Kaffee kochte, lehnte ich mich an die Wand und sah den schwarzen Tropfen zu, wie sie in die Kanne fielen. Vielleicht war das ja eine Art erster Test. Mir einfach einen Zettel zu geben und dann abzuwarten, wie dumm ich mich anstellen würde. Argwöhnisch sah ich mich nach eventuellen Kameras im Büro um, aber wenn es welche gab, waren sie sehr gut versteckt.

Ich biss mir auf die Unterlippe und bemerkte erst jetzt den Dampf der Kaffeemaschine. Die Kanne war durchgelaufen und so kehrte ich mit einer vollen Tasse an den Schreibtisch zurück.

Mein Blick blieb an dem Papier auf der Tastatur hängen. Plötzlich sah ich, wie sich die einzelnen Zeichen bewegten. Sie bogen und dehnten sich, als würden sie dem Papier entkommen wollen.

Ich stellte die Tasse zur Seite und fasste vorsichtig die Ecken des Papiers. Es verschob sich dadurch ein wenig und ein paar Zeichen verschwanden. Ich ließ den Zettel sofort wieder los. Ich wartete einen Moment, ehe ich wieder eine Ecke fasste und das Blatt anhob, um zu sehen ob sich vielleicht etwas darunter befand, das diesen Effekt bewirkte.

Unter dem Zettel befand sich nur die normale Tastatur. Aber auf einigen Tasten befanden sich nun nicht mehr die vertrauten Buchstaben des Alphabets. Zwischen »B« und »M« war kein »N« mehr, sondern eine Art Schnörkel mit drei Haken. Das Zeichen war nicht auf die Plastiktaste gedruckt, sondern schwebte einige Millimeter darüber, verdeckte den Buchstaben darunter.

Vorsichtig ließ ich das Papier wieder sinken und starrte es eine Weile an. Dann, mit einem Ruck, schob ich das Papier immer wieder über die Tastatur.

»Los ihr kleinen Mistdinger«, murmelte ich dabei und tatsächlich – ein Zeichen nach dem anderen verschwand von dem Blatt. Als es leer war, legte ich es zur Seite. Sämtliche Buchstaben und Symbole auf meiner Tastatur waren durch die Zeichen des Papiers ersetzt worden.

Ich ließ mich auf dem Sessel zurücksacken und atmete tief aus. Okay, das war also mit Schlüssel gemeint. Die Erkenntnis ließ mich wie Einstein fühlen. Ich hatte die Lösung gefunden! Hah, jetzt konnte kommen wer wollte!

Ich nahm das Papier wieder und sah abwechselnd auf die Tastatur und den Zettel. »Und wie kriege ich jetzt die Adressen zurück?«

Als hätte das Notizpapier nur darauf gewartet, dass ich etwas sagte, erschienen die Zeichen wieder. Sie waren grau und nahezu durchsichtig. Dabei waberten sie im gleichen Takt, wie auch die Zeichen auf den Tasten.

Also gut, mal sehen, was Feng mir in die Hand gedrückt hatte.

Ich tippte die oberste Internetadresse ein. Normalerweise tippte ich schnell, aber mit dieser Tastatur erwies sich das Tippen als schwierig. Genauso gut hätte ich mit einem chinesischen Abakus die Adresse eingeben können. Als ich es endlich geschafft hatte und die Entertaste drückte, erschien auf dem Bildschirm eine Seite, die mich verdächtig an eine bekannte Suchmaschine erinnerte. Auf der Seite selbst war wieder das handelsübliche Alphabet zu sehen, genau wie auf der Tastatur.

Oben prangte der Name »Paranormales Netz« und darunter war eine Suchleiste, in die ich jetzt Vor- und Nachname meiner Mutter eingab. Kurz darauf spuckte die Homepage Informationen aus:

Rot, Arien. Menschliche Hexe mit Seelie-Sidhe-Einflüssen. Alter: 58 Jahre. Tochter Feline Alana, keinerlei magische Fähigkeiten vorhanden.

Daneben war ein aktuelles Foto meiner Mutter.

Ich bewegte die Maus auf den Button mit der Aufschrift »Aufenthaltsort«. Kurz darauf blinkte mir ein »Zur Zeit nicht bekannt« entgegen. Unbekannt? Meine Mutter hielt sich im Augenblick entweder in ihrer Wohnung auf oder in ihrem Teeladen. So gut war dieses Gruselnetz also doch nicht.

Mit der Maus navigierte ich eine Seite zurück und klickte meinen Namen an, der blau unterstrichen war. Eine ähnliche Seite wie bei meiner Mutter baute sich auf und es gab sogar ein Foto, bei dem ich beim besten Willen nicht wusste, wo es gemacht worden war. Wurde ich beobachtet?

Argwöhnisch ließ ich meinen Blick wieder durch das Büro schweifen, ehe ich wieder auf den Monitor sah. Die Information war noch dünner als bei Mutter und sagte nichts Neues.

Rot, Feline Alana. Fey/Grenzgänger Mischling. Keinerlei magische Fähigkeiten vorhanden.

Danke, für das darauf Herumreiten, dachte ich verärgert, hauptsächlich, weil die Bemerkung bezüglich meiner verschwundene Mutter in meinem Hinterkopf kratzte. Um mich abzulenken, gab ich Samhiels Namen ein und mir blieb der Mund offen stehen.

Samhiel. Engel aus dem Chor der Seraphim. Sechs Flügel. Ausmaß der magischen Fähigkeiten unbekannt. Nach letzten Informationen, gesandt, um die Dummheit zu vertreiben.

Ein Engel, um die Dummheit zu vertreiben? Das war noch besser als die Tatsache, dass er nachts für reiche Grenzgänger und Fey-Frauen strippte. Ich musste grinsen.

Als ich aufstehen wollte, um mir noch mehr Kaffee zu besorgen, fiel mir ein, warum Feng mir den Zettel überhaupt gegeben hatte. Ich rückte den Stuhl wieder an den Schreibtisch und gab »Kappa« in die Suchzeile ein. Es erschienen fünf Einträge; darunter auch mein Freund aus dem Club. Ich druckte die Seite aus und las sie noch einmal durch, bevor ich sie auf den Schreibtisch legte.

In diesem Moment kamen Feng und Kay zur Tür herein. Der Chinese musterte mich besorgt. Sah man mir meinen Zustand so deutlich an?

Kay kam zum Schreibtisch und nahm gleich das Blatt mit der Beschreibung auf.

»Sein Name war Mi-zu«, sagte ich, bevor er lesen konnte. »Er war seit ein paar Jahren in Deutschland, wurde aber in Japan geboren. Da steht, er war 367 Jahre alt – war das alt?«

Kay schüttelte den Kopf und studierte weiter das Papier.

»Altersschwäche können wir ausschließen«, sagte Feng. »Ich hoffe, das Netz hat dir keine allzu großen Schwierigkeiten gemacht?«

Ich schüttelte den Kopf. »Es hat zwar eine Weile gedauert, bis ich den Dreh raus hatte, aber dann ging es.« Ich tippte gegen den Bildschirm. »Da habe ich auch einen Eintrag über meine Mutter gefunden.«

Sofort verdüsterte Fengs Miene sich. »Arien? Ist etwas mit ihr?«

»Ich weiß es nicht. Da stand etwas von ›Aufenthaltsort unbekannt‹.«

»Sie verschwindet häufiger«, warf Kay ein, der das Blatt Papier wieder auf den Schreibtisch fallen ließ.

»Ich weiß. Aber dieser Eintrag hat mich verunsichert.« Ich sah zu Feng auf.

Er legte mir den Arm um die Schulter. Ich musste wirklich erbärmlich aussehen. »Fahren wir zu deiner Mutter und sehen nach dem Rechten, okay?«

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Gut zwei Stunden später war ich wieder zu Hause. Feng hatte mich gefahren und gesagt, er hole mich am nächsten Tag ab, da mein Auto nun vor dem Triskelion Büro stand. Ich selbst war nicht mehr imstande gewesen, zu fahren. Die Wohnung meiner Mutter hatte ausgesehen wie immer. Einige Sachen fehlten und ihre Reisetasche, was mich beruhigt hatte. Es hieß, dass sie tatsächlich nur für einige Tage verschwunden war, wenn auch sehr kurzfristig. Nicht, dass sie das nicht öfter tun würde. Sie fuhr gerne ein paar Tage weg. Durch ihren Laden und die Witwenrente konnte sie es sich leisten. Meist sagte sie vorher nicht Bescheid und ich bekam überraschenderweise Postkarten aus den bizarrsten Gegenden der Welt. Ich konnte nur raten, wie sie es immer wieder schaffte, an diesen verlassenen Flecken Ansichtskarten aufzutreiben, beziehungsweise einen anständigen Postservice. Mir um ihr Verschwinden Sorgen zu machen, hatte ich mir schon sehr früh abgewöhnt.

Angesichts der übersichtlichen Anzahl ihrer fehlenden Kleidung durfte es wohl nicht allzu lange dauern, bis sie wieder im Lande war.

Trotz allem wollten die Zweifel nicht schweigen, als ich meine eigene Wohnung betrat. Ohne nachzudenken, stolperte ich ins Schlafzimmer. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich die hässliche Kröte neben meinem Bett. Ihre Schnauze zeigte auf die Wand dahinter.

Ich wollte sie wieder raustragen, aber noch während ich den Entschluss fasste, das Tonding aufzunehmen und wieder auf den Balkon zu bringen, war ich auch schon eingeschlafen.

Ich träumte. Ich träumte, dass Samhiel neben mir lag. Er war nackt, wie ich auch und schlief. Auch wenn es nicht wahr war, lächelte ich und mein Traum-Ich rutschte näher. Die Decke hatte er bis zum Bauchnabel hochgezogen, aber unter dem Stoff erahnte ich seine schmalen Hüften.

Plötzlich legte sich eine warme große Hand auf meine Stirn. Samhiel sah mich an und lächelte. Ich erwiderte es leise und hörte ihn »Kätzchen« flüstern. Er bewegte sich und sein nackter Körper raschelte auf den Laken. Samhiel war näher gerückt, denn ich spürte seinen Atem auf meiner Stirn. Er war warm, wie ein Streicheln. Ich zwang mich, die Augen zu schließen. Dennoch spürte ich leichte Gänsehaut auf den Armen. Samhiels Wärme und sein Körper waren so nah bei mir, dass ich mich kaum bewegen musste, wollte ich ihn berühren. Ich hätte nur die Hand heben müssen. Doch ich tat es nicht.

Stattdessen atmete ich nur wieder tief durch und ließ zu, dass er mir mit den Fingerkuppen über die Lippen strich. Das lange schwarze Haar legte sich auf meine Brust und einen Augenblick später spürte ich etwas anderes an meinen Lippen. Haut, Sehnen. Ich öffnete den Mund halb und ließ meine Zunge hervorblitzen. Sie tastete über seinen Hals, spürte die Form der Halsschlagader nach.

Ich schlug die Augen auf, als Samhiel mich festhielt. Sein Blick lag auf mir. Er lächelte nicht mehr, sondern musterte mich. Ich kam mir schutzlos vor und schlug die Augen nieder. Meine Hände lagen auf seinem breiten Rücken und ich bewegte sie leicht. Seine Haut fühlte sich an wie Samt.

Samhiel senkte den Kopf und küsste zärtlich meinen Mundwinkel. Ich schauderte einmal mehr und meine Hände zogen ihn tiefer, tiefer zu mir. Er murmelte etwas, aber ich brauchte eine Weile bis ich es verstand. »Feline.«

Meine Hände wanderten hoch zu seinem Nacken, meine weißen Finger gruben sich in sein so dunkles Haar. An der Stelle, an der er mich geküsst hatte, brannten meine Lippen. Mir wurde nur zu bewusst, wie nah er mir war. Viel zu nah…

Ich riss mich los. Etwas stimmte nicht. Er war ein Engel. Ich durfte ihn nicht küssen! Wenn ich weitermachen würde, würde ich mehr wollen und…

»Wach auf, Kätzchen. Such deine Mutter. Du bist in Gefahr und sie auch.«

Auf einmal wurde mir der Traum zu eng. Ich schlug ruckartig die Augen auf und setzte mich hastig auf. Um mich herum war es dunkel und ich war allein in meinem Schlafzimmer. Aber ganz schwach konnte ich noch Samhiels Duft riechen.

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