Kapitel 7
Am nächsten Morgen fühlte ich mich verkatert wie noch nie. Dabei hatte ich keinen Alkohol getrunken. Jemand klingelte an meiner Tür Sturm und ich wankte aus dem Bett. Wenn das der Postbote war, der zu meinem Nachbarn wollte, konnte er sich auf etwas gefasst machen.
Ich öffnete die Tür und sah Feng davor stehen. Der musterte mich mit anzüglichem Grinsen. Ich folgte seinem Blick und sah meinen üblichen Schlafaufzug – Top und Unterhose. Top und Unterhose! Mit einem Schlag war ich vollkommen wach, schlug die Tür zu und riss den Morgenmantel aus dem Bad. Damit bekleidet und hochrot öffnete ich die Tür wieder. Feng schmunzelte. »Zieh dich besser gleich an. Es geht um deinen Zusammenstoß vorletzte Nacht.«
»Mein Freund, der Entenmann mit den langen Klauen?« Allein die Erinnerung an die verzerrte Fratze ließ mich schaudern, aber ich zwang mich, meinen ungezwungenen Ton beizubehalten. »Wie geht’s ihm?«
»Er ist tot«, erwiderte Feng flach.
»Oh.«
Er nickte nur. »Komm, fahren wir.«
Im Auto wirkte Feng angespannt. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Ich versuchte noch immer, den gestrigen Abend zu verarbeiten und gleichzeitig zu verstehen, worum es gerade ging. Feng und Kay waren sicher nicht auch noch als Privatpolizei unterwegs, oder? Und hatte der Tod dieses Entenmanns etwas mit mir zu tun? Zumindest konnte ich mich nicht daran erinnern, dass ich diesem Kerl irgendetwas getan hätte. Im Gegenteil, ich war diejenige gewesen, die vor seinen Krallen und Zähnen hatte in Sicherheit gebracht werden müssen.
»Fahr in Richtung Industriegebiet, in der Nähe des Zechenwerks.«
Wortlos schaltete ich und fuhr los. Eine Weile schwiegen wir uns an, bis ich mehr Gas gab.
»Habe ich etwas mit dem toten Entenmann zu tun?«
»Kappa, kein Entenmann. Er ist ein Wasserkobold.« Feng rieb sich über die Stirn. »Ich weiß es nicht. Seine Verwandten ebenfalls nicht. Wir sollen herausfinden, ob es Mord war oder etwas anderes.«
»Könnt ihr das nicht sehen?«
Feng schüttelte den Kopf. »Es kann ein Unfall gewesen sein. Oder auch Absicht. Kappas brauchen Wasser, sie tragen es als Blase auf ihrem Kopf herum. Wenn sie Wasser verlieren und die Blase nicht schnellstmöglich wieder auffüllen können, sterben sie.«
»Er hat seine vorgestern Abend verloren, weil du dich vor ihm verbeugt hast.«
Fengs Miene verdüsterte sich, als er den leisen Vorwurf in meiner Stimme hörte. »Kappas trinken Blut, ähnlich wie Vampire. Will man sie davon abhalten, verbeugt man sich vor ihnen. Die Höflichkeit gebietet, dass sie es genauso machen und dadurch verlieren sie ihre Blase.«
Ich zog den Kopf zwischen die Schultern. »Entschuldige«, murmelte ich kleinlaut, nach dem unüberhörbarem Tadel. Dass der Kappa mein Blut trinken wollte, hatte ich ja nicht ahnen können.
»Du konntest es nicht wissen.« Er sah aus dem Fenster.
»Das ist das Problem, oder? Ich weiß vieles nicht.«
»In der Tat.«
»Toll«, brummte ich und trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf. Zum Glück hatte ich eine freie Straße vor mir.
Feng sah wieder zu mir. »Lass den Wagen in Ruhe. Ich wollte dich damit nicht abwerten.«
»Ich weiß. Es ist trotzdem frustrierend.«
Feng verdrehte die Augen. »Das sind Arbeitserfahrungen. Die kannst du noch nicht mitbringen«, erwiderte er. Als würde mich das beruhigen. »Für heute musst du nur wissen, dass wir es mit diesen Kobolden zu tun haben. Sie kommen ursprünglich aus Asien und sind ziemlich schwierig. Erst recht, wenn ein Mensch dabei ist. Aber in diesem Fall geht es um wichtigeres als um Blut.«
»Also Mord?«
»Das finden wir noch heraus.«
Im Industriegebiet herrschte reger Betrieb. Viele Arbeiter lagen in den letzten Zügen ihrer Mittagspause und kamen von den Kantinen oder standen noch vor den Firmeneingängen, um zu rauchen.
Die meisten Bauten bestanden aus großen, klotzartigen Hallen, die mich stark an die Disco auf dem Feld erinnerten. Das war keine natürlich gewachsene Gegend, sondern ein reines Zweckareal. Hierher kam man zum Arbeiten und ging so schnell wie möglich wieder.
»Wo müssen wir hin?«
Feng lotste mich zu den Gebäuden eines Paketdienstes, dessen Firmenzeichen überdimensional auf den Außenwänden der Hallen prangte. Wir parkten auf dem Parkplatz vor einer der Hallen und nach dem Aussteigen ging Feng zu einer grauen Stahltür. Er bewegte sich sehr zielstrebig, und für einen Mann seiner Größe auch erstaunlich geschmeidig. Meine Gedanken wanderten bei seinem Anblick aber immer wieder zur vorangegangenen Nacht, und zu der Erinnerung, wie Samhiel sich auf der Bühne bewegt hatte. Ich fuhr mir über die Augen. Dafür war jetzt wirklich keine Zeit.
Kaum hatte Feng die Tür geöffnet, schlug mir lauter Maschinenlärm entgegen. Das Licht wirkte staubig. und durch die Neonlampen an der Decke trotzdem steril. Ich schloss die Tür hinter mir und damit auch das kleinste bisschen Sonnenstrahl aus. Hier spielte weder Wetter noch Tageszeit eine Rolle.
Auf dem Betonboden war mit gelbem Klebeband ein Weg markiert, aber Feng verließ ihn schon nach ein paar Schritten und verschwand zwischen zwei Packmaschinen, die große Pakete vorsortierten. Ich folgte ihm rasch, auch wenn ich sonst niemanden in der Halle sah. Das hätte mir noch gefehlt, dass ich an meinem ersten Arbeitstag wegen Hausfriedensbruch verhaftet wurde.
Feng ging weiter, immer an der Wand entlang, bis er vor einem Fließband stehen blieb. Kay stand davor und nickte uns zu, als wir eintrafen.
»Hast du ihr gesagt, worum es geht?« sagte er ohne jede weitere Begrüßung.
Feng nickte und Kay winkte mich näher. Er sah noch immer aus, als käme er direkt aus einem Bankmeeting. Die elegante Kleidung und seine sehr sparsam eingesetzten Bewegungen wirkten in der Halle deplatziert. »Sieh ihr dir an und sag mir, ob das der gleiche Kappa ist, den du vorletzte Nacht getroffen hast.«
»Getroffen ist vielleicht zu viel gesagt.« Ich hatte mich während des Sprechens gebückt, um unter das Fließband zu sehen, wohin Kay gerade gezeigt hatte. Das was ich dort sah, nahm mir jedes Wort aus dem Mund.
Was mich dort in der Dunkelheit unter dem Band erwartete, hatte Ähnlichkeit mit einem mumifizierten Affen. Die Haltung war die eines Embryos; die Beine angezogen, die dürren Ärmchen eng an den vertrockneten Leib gepresst. Die Lippen, ehemals wulstig und wie ein Schnabel geformt, waren durch die Trockenheit zurückgezogen und ließen den Leichnam die Zähnen blecken, als würde er grinsen. Auf dem Kopf war keine Schädeldecke, sondern nur eine tiefe Mulde, die aussah, wie eine Schale. Der winzige Haarkranz darum sah aus wie ausgeblichenes Riedgras. Die Augen waren verschwunden; der Schädel glotzte mich aus leeren toten Augenhöhlen an.
Ich fuhr zurück und schnappte nach Luft. Plötzlich war es sehr viel kälter in der Halle
»Und?«, fragte Kay mich absolut ruhig.
Ich hätte ihm am liebsten in sein schönes Gesicht geschlagen. »Was ist mit ihm passiert?«, fragte ich mit schriller Stimme. Mühsam kämpfte ich das Gefühl von Panik nieder.
»Ich sagte doch, dass er tot ist«, sagte Feng.
»Tot, nicht ausgetrocknet!«, rief ich in Richtung Feng.
Kay hob beschwichtigend die Hand. »Darauf hätten wir dich vorbereiten sollen. Aber das beantwortet die Frage nicht.«
Ich starrte ihn an. Angesichts seiner Kälte gegenüber dem Toten wollte ich ihn nicht nur schlagen, sondern ihn auch unter das Band schieben, damit er sich den grinsenden Leichnam aus der Nähe ansehen konnte. Menschlich oder nicht, aber so etwas war nicht richtig.
Ich atmete tief durch und bückte mich abermals. Nachdem ich mich auf den Schrecken der Grimasse des Toten eingestellt hatte, konnte ich ihn mir nun genauer aussehen.
Das blaue T-Shirt und die grellen Schuhe fielen mir auf. Es war tatsächlich der gleiche Kappa, der mich vorletzte Nacht in der Disco angefaucht hatte.
Ich richtete mich wieder auf und nickte stumm in Richtung Feng.
Er wechselte einen Blick mit Kay, der mit dem Rücken zu mir stand und sich nun umdrehte. Als er plötzlich vor mir auf die Knie ging, machte ich einen Schritt zurück.
Kay achtete nicht darauf. Auch nicht auf den teuren Anzug, den er ruinierte. Er kniete auf dem staubigen Boden und murmelte etwas. Ich konnte es nicht verstehen, auch wenn ich nah bei ihm stand.
Mir wurde warm, trotz des Betons unter meinen Füssen, dessen Kälte mir seit meiner Ankunft in die Füße kroch. Ein vertrauter Geruch begleitete die Wärme. Wie Sommer. Frischgemähtes Gras, ein wenig Modrigkeit von Erde an einem Wasserlauf, auf der Schilf wuchs.
Die Wärme verflüchtigte sich schnell wieder, als eine knirschende Stimme unterhalb des Fließbandes auf Kays Murmeln antwortete.
Mir standen die Nackenhaare zu Berge und ich sah Hilfe suchend Feng an, aber seine Aufmerksamkeit galt dem knienden Kay und dem Etwas unter dem Band.
Kays Murmeln wurde lauter, aber diesmal machte er eine Pause, um den Leichnam antworten zu lassen. Dessen Stimme klang gurgelnd, irgendwie schlammig und er sprach eine Sprache, die ich nicht kannte. Allein der Klang der Stimme reichte aber, um mir Gänsehaut über den Körper zu jagen. Die Fratze des Kappa ging mir nicht mehr aus dem Kopf.
Kay stand auf und ich schielte unbehaglich auf den Boden, um sicher zu gehen, dass der Leichnam ihm nicht folgte.
»Er ist fast schon weg«, sagte der Seelie-Sidhe leise und steckte die Hände in die Taschen seines Mantels. Er fröstelte.
»Du hast mit ihm gesprochen?«
Kay schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Aber das hier ist ein schlechter Ort, um das zu besprechen. Gehen wir woanders hin.«
Feng machte bereits die ersten Schritte in Richtung Ausgang. Ich folgte ihm, warf aber einen Blick über die Schulter zurück als Kay nicht sofort folgte.
Er stand am Band. Etwas an seinem Gesicht hatte sich verändert, aber da er es halb abgewandt hatte, konnte ich kaum erkennen was.
Er zog etwas aus seiner Manteltasche und warf es unter das Fließband. Sofort ging es in Flammen auf. Feng, der mein Stehenbleiben bemerkt hatte, fasste mich am Arm und zog mich aus der Halle.
Draußen wartete ich nur darauf, dass hinter uns die Alarmsirenen ansprangen und die ersten Feuerwehrwagen auf dem Parkplatz hielten. Gut, dass war sicher übertrieben aber irgendeinen Effekt musste ein knapp zwölf Meter langes, brennendes Fließband doch haben, oder?
Nichts.
Kay schloss die Tür hinter sich, als er zu uns kam.
»Hast du es brennen lassen?«, fragte ich fassungslos, als ich auf seinem hellen Mantel und Anzug nicht das kleinste Körnchen Ruß fand.
»Es brennt nichts.«
»Ich habe dich gerade…«
»Es brennt nichts, Feline«, sagte Kay streng.
Unschlüssig sah ich auf die Halle.
»Komm.« Fengs Griff war diesmal sanfter und er führte mich zu einem winzigen Stück Rasen zwischen den Stahlhallen. Kay, der hinter mir stand, legte seine Hände auf meine Schultern. Die Wärme kehrte zurück. Ebenso der Duft nach Gras, Erde, Moos und Wald. Wind kam auf, und überwältigt von den Eindrücken, die sich so plötzlich meines Körpers und meiner Nase bemächtigten, schloss ich die Augen.
Noch immer lagen Kays Hände auf meinen Schultern und übertrugen dieses beruhigende Gefühl auf mich.
Als ich die Augen wieder aufschlug, grinste Feng schief. Auf den zweiten Blick erkannte ich auch warum. Wir waren nicht mehr im Industriegebiet. Ich hatte Wald und Gras gerochen, weil ich mittendrin stand. Genauer gesagt auf einer Lichtung in strahlendem Sonnenschein. Selbst der obligatorische Bach fehlte nicht.
Mir stand der Mund offen.
»Das ist mein Garten, hier wird uns niemand hören«, erklärte Kay nahe an meinem Ohr, und ich zuckte zusammen, als ich seine Lippen plötzlich so nah an meiner Haut spürte.
»Nett«, brachte ich schließlich heraus. Kay schmunzelte.
Fengs Grinsen wurde breiter. »Das ist die Fey-Variante eines Schrebergartens.«
»Es ist eher eine Art persönliches Refugium «, erwiderte Kay.
Ich musterte ihn. Nicht nur die Umgebung hatte sich verändert. Kays Miene war weicher geworden. Die Wangenknochen höher, die Augen waren etwas größer, dass Grün der Augen dunkler. Ich konnte mich gar nicht mehr von seinem Anblick lösen und bemerkte in seiner Iris kleine goldene Flecken. Seine Ohren hatten einen anmutigen Schwung erhalten, und die Spitzen ragten zwischen den fließenden Haarsträhnen hervor.
Mir brach es fast das Herz, ihn nur anzusehen. Ich musste mich zusammenreißen, um diesen Mann nicht zu berühren. Aber warum eigentlich? Warum sollte ich ihn nicht küssen? Nur einen Kuss.
»Kay, stell das ab. Sie ist sterblich«, fauchte Feng und riss mich damit aus meiner Faszination.
Ich blinzelte und wandte mühsam den Blick ab. Kay lachte. Ich hätte ihm stundenlang zuhören können, wenn er so lachte.
»Verzeihung, ich vergaß«, lächelte er und augenblicklich sah er wieder so aus, wie ich ihn kennengelernt hatte. Attraktiv, ja. Aber nicht mehr so betörend, dass ich vergaß, wer ich war oder wie ich hieß.
Feng wirkte verärgert.
»Also, was hat dir der tote Kappa erzählt?«, fragte ich hastig.
»Ich habe mich mit seiner Erinnerung unterhalten. Mit Toten zu sprechen, ist unmöglich.« Kay wirkte nun wieder wesentlich ernster, aber nicht wirklich betroffen. »Ich habe ihn über seinen Tod befragt. Er war gewaltsam, wirkte aber nicht so, als wäre es mit Planung geschehen.«
»Affekt.«
»Ja.«
Ich nickte und rieb mir über den Nacken. »Und wie sollen wir etwas über den Mörder herausfinden? Ich bin weder Detektiv noch Polizistin und weiß nicht, wie es bei euch aussieht.«
»Wir haben eigene Methoden. Knifflig wird es trotz allem. Deswegen möchte ich dich bitten, ins Büro zurückzufahren«, sagte Feng.
»Und was soll ich da tun?«
»Recherchieren. So war es doch vereinbart.«
Ich nickte. »Wonach genau?«
Feng wühlte in der Hintertasche seiner Jeans herum und reichte mir einen Zettel. »Da sind einige Internetadressen, auf denen du in Deutschland anwesende Grenzgängern oder Fey suchen kannst. Versuch unseren Kappa zu finden und so viel Informationen über ihn herauszubekommen, wie möglich.«
Ich nahm den Zettel entgegen. Das Einzige, was ich darauf lesen konnte, war http und die Querstriche, die eine Internetadresse anzeigten. Alles andere waren Schriftzeichen, die ich im Leben noch nicht gesehen hatte.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Dein Schlüssel.« Er deutete auf den Zettel in meiner Hand.
Feng nickte mir zu. Der Wald um mich herum schmolz, das Licht verblasste, die Wärme schwand.
Kay zog sich seinen Mantel zurecht. »Wir kommen später noch einmal ins Büro. Bei Anrufen oder Klienten sag ihnen, dass sie eine Nachricht hinterlassen sollen.«
»Ja, aber …«
»Du machst das schon…« Er nickte mir zu und auf seinen schönen Zügen spiegelte sich Zuversicht. Er winkte und ging zu seinem Wagen. Feng verabschiedete sich mit einem weiteren Nicken und folgte Kay.
Ich blieb mit einem Zettel voller unentzifferbarer Zeichen und der Gewissheit zurück, dass ich jetzt offiziell die Tippse im wohl verrücktesten Büro dieser Erde war.