Kapitel 16

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Feng hatte die Schultern hochgezogen. Das ließ ihn größer wirken, als er war, und dem Drachen war es ganz Recht so. Das Lagerviertel war nicht für seinen freundlichen Umgangston bekannt und trotz seiner Größe hatte Feng zuweilen Probleme mit den rechten Gruppen, die sich hier trafen, um sich mit billigem Bier volllaufen zu lassen.

Sie waren aber nicht der Grund dafür, dass Feng ungern in diese Gegend kam. Mit einigen Schlägern konnte er gut fertig werden. Wirklich Ärger machten die kleinen Gruppen von Fey, die sich mit dem Frieden nicht abfinden wollten. Sie waren fähig, ihm wirklich zu schaden und Feng war in solchen Situationen nicht in der Lage sich zu wehren. Elandros Worte hallten einfach zu deutlich in ihm nach. Wenn er einen Fey verletzen würde, wäre das hauchdünne Abkommen, das vor einem neuerlichen Ausbruch der Konflikte stand, in Gefahr.

Der Drache seufzte und schüttelte sich. Es war noch immer Nacht, aber irgendwo weit hinter sich spürte er das erste Grau der aufgehenden Sonne. Es war noch ein wenig Zeit bis dahin.

Noch einmal ging er in Gedanken die Fakten über den Vampir Roumond durch. Das Wichtigste war sein Alter gewesen. Roumond war seit achtzig Jahre verwandelt, was hieß, er war für einen Vampir sehr jung. Er musste tagsüber verschwinden. Nur die Alten vermochten es, sich wie normale Menschen am Tag zu bewegen, normale Speisen zu sich zu nehmen und auch sonst die Illusion eines sterblichen Lebens aufrecht zu erhalten. Die Jüngeren mussten sich mit den bekannten Folgen des Bluttrinkerdaseins arrangieren – Unverträglichkeit des Tageslichts und jede Nacht eine bestimmte Menge Blut. In den ersten Jahren hatte dieses Leben etwas von dem Dasein eines Junkies.

Feng sah immer wieder zur Seite, wenn eines der großen Lagerhäuser in Sicht kam. Die Tore bestanden aus zwei Teilen, die sich an Rollen auseinander schieben ließen und jedes glich seinem Nachbargebäude aufs Haar. Anscheinend hatte das auch die Lagerbesitzer gestört, denn viele Tore unterschieden sich wenigstens durch ihre Farben. Ab und an hatte sich auch jemand die Mühe gemacht, mit weißer Farbe eine Zahl an die Wand zu pinseln.

Feng hatte bereits drei Lagerhäuser mit einer roten Tür begutachtet, aber bisher hatte er nichts Verdächtiges finden können.

Kay und er hatten sich geeinigt, dass sie Feline erst am nächsten Tag suchen würden. In ihrem Zustand konnte ihr wohl kaum jemand etwas tun. Vampire waren nicht bekannt dafür, dass sie viele natürliche Feinde besaßen. Und was die eventuellen Opfer anging… Feng glaubte nicht, dass der menschliche Teil in Feline so schwach sein würde, dass er ein Bluttrinken zulassen würde.

Kay zeigte selten viel Mitgefühl, wenn es um Menschen ging. Er mochte ein leidenschaftlicher Verteidiger des Friedens zwischen Fey und Grenzgängern sein, aber das machte ihn nicht zum Heiligen. Im Gegenteil, so ganz konnte er nicht aus seiner Sidhe-Haut raus.

Er musste schmunzeln, während er versuchsweise an einem Rolltor rüttelte, dessen Farbe derart ausgebleicht war, dass sie grün, gelb, rot oder pink gewesen sein konnte. Seit Kay regelmäßig zu Agnes ging, um nach dem Rechten zu sehen, war er ein wenig weicher geworden. Vielleicht… Er rüttelte fester an der Tür; sie war verschlossen. Der Drache umrundete das Gebäude, aber das Rolltor stellte den einzigen Eingang dar.

Feng ging wieder zum Schloss und untersuchte es erneut. Es war ein einfaches Vorhängeschloss an einer dünnen Kette, wie man es in jedem Baumarkt oder Schlossergeschäft kaufen konnte.

Prüfend warf er einen Blick über seine rechte Schulter, aber die Nacht um ihn herum war still. Nur aus der Ferne klapperten die Räder eines Güterzuges auf den Schienen.

Feng drückte einmal zu, das Schloss in der Faust, und es knackte. Kurz darauf ließ sich die Tür ohne weiteres zur Seite schieben.

Drinnen war es noch dunkler als draußen. Hier fiel nur der schwache Schein der Straßenlaternen von der Straße herein. Der Radius, den das Licht warf, war nicht groß und Feng musste seine Augen zusammenkneifen, um zumindest Schemen erkennen zu können.

Er tastete in seiner Jackentasche nach der Stablampe und betätigte sie. Der Lichtkegel schnitt durch die Dunkelheit und offenbarte Kisten und Kartons unter staubigen Sackleinenplanen. Feng ließ ihn durch den Raum schwenken. Er war nicht sehr groß, vielleicht knapp vier Meter im Durchmesser. Im Gerümpel war kaum etwas auszumachen. Feng trat ein. Ein solcher Ort wäre ein ideales Versteck. Lichtundurchlässig, jede Menge Nischen…

Er zog eine der Sackleinen herunter und hörte etwas flattern. Im ersten Reflex sah er nach oben, weil er dachte, dass er mit seiner Anwesenheit ein paar Tauben aufgeschreckt hätte. Aber da oben war nichts. Stattdessen flatterte etwas auf seinen Lederschuh.

Es war rechteckig und flach. Ein Foto.

Feng nahm es hoch und richtete den Lichtstrahl der Lampe darauf. Das Bild zeigte eine junge Frau, die gerade aus einem Auto stieg. Das Haar fiel ihr lang und rot auf den Rücken und sie wirkte sehr ernst.

»Feline.«

Feng ging auf die Knie und hob die Plane diesmal von unten an. Tatsächlich fand er darunter, mit Tesafilm notdürftig festgeklebt, weitere Fotos. Sie zeigten nicht nur Feline, sondern auch ein anderes bekanntes Gesicht. Behutsam löste Feng Ariens Foto von der improvisierten Wand und betrachtete es. Die Hexe schien, ebenso wie ihre Tochter, nicht mitbekommen zu haben, dass man sie fotografiert hatte. Die Qualität des Bildes war schlecht. Grobkörnig, verwackelt und mit einer sehr niedrigen Auflösung – anscheinend hatte es jemand mit einer Einwegkamera geschossen.

Feng nahm auch die anderen Fotos an sich. Sie zeigten noch mehr Frauen, von denen aber nur eine vertraut wirkte. Die großen Augen… Agnes!

Fengs Handy klingelte. Er steckte die Fotos rasch ein und nahm ab. Es war Kay.

»Hast du ihn gefunden?«, schoss der Fey ohne jede Begrüssung los.

»Ich denke ja«, brummte Feng. »Zumindest sein Versteck. Er hat hier Fotos.«

»Was für Fotos?« Kay wirkte überrascht.

»Fotos von Feline, Arien, Agnes und anderen Frauen.«

»Von Agnes?«

Feng rieb sich über das Gesicht. Er fühlte sich müde. »Was dachtest du denn? Immerhin hat er sie tagelang bedroht. Die Fotos von Arien und Feline machen mir mehr Sorgen.«

»Es überrascht mich, dass er überhaupt Bilder hat. Was mag er damit vorhaben?«

Feng zuckte mit den Schultern, während er mit der Lampe die Nische, in der er die Bilder gefunden hatte ausleuchtete. Außer einigen verwischten Spuren im Staub war nichts zu sehen. »Er hat sie weder für irgendwelche Rituale noch sonst etwas gebraucht. Zumindest finde ich dafür keine Anzeichen.«

»Warum sollte er sie sonst gemacht haben?«, fragte Kay.

»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte er sie sich in Ruhe anschauen und sich dabei einen runt-»

Etwas klapperte am Eingang. Fengs Kopf ruckte herum.

»Feng, was ist los?«

Der Drache ließ wortlos das Handy sinken und schaltete es aus. Er duckte sich tiefer in die Schatten um nicht sofort gesehen zu werden.

In der Öffnung des Rolltores tauchte für einen Sekundenbruchteil ein Schemen auf. Er huschte vor dem schwachen Licht der Laterne vorbei, aber es reichte Feng, dass er die Gestalt sehen konnte. Ihr Tempo ließ auf jemand schließen, der nicht menschlich war.

Feng duckte sich tiefer in die Schatten und suchte nach seiner Waffe. Es war eine handliche Glock 21, die mit Silberkugeln geladen war, deren äußere Hülle aus hauchdünnem Eisen bestand. Silber half gegen die Grenzgänger, die zwischen zwei Gestalten wandelten, wie Werwölfe und ähnliches Getier. Eisen verbrannte die unsterblichen Fey, zumindest die meisten von ihnen, weswegen er sich mit diesen Kugeln ein bisschen Zeit erkaufen konnte.

Es klickte, als er den Hahn spannte.

Anscheinend hatte auch der Besucher das Geräusch gehört, denn wieder huschte etwas an der Tür vorbei. Feng fluchte im Stillen und spürte kalten Schweiß im Nacken. Trotzdem blieb er in seiner Hockstellung. Warum floh die Gestalt nicht? Sollte es tatsächlich Roumond sein, müsste er doch spätestens seit Kays Sicherheitsnetz wissen, dass Agnes Hilfe hatte.

Ein Kichern ertönte und Fengs Nackenhaare fanden in dem Laut einen Grund, aufgerichtet zu bleiben.

Der Drache richtete den Lauf gen Rolltor. Davor begann sich eine Erhebung langsam aufzurichten. Kopf, Arme, Rumpf wurden als schwarze Silhouette vor dem Eingang sichtbar. Die Figur eines Mannes zeichnete sich als dunkles Schwarz ab. Seelenruhig stand er da und hatte den Kopf in Fengs Richtung gedreht.

»Knie dich auf den Boden, Roumond«, rief Feng und richtete seine Waffe auf den Kopf der Gestalt aus.

»Warum sollte ich das tun?« Im Gegensatz zum Kichern wirkte diese Stimme tief und kultiviert. So klang ein normaler Mensch, kein Irrer.

»Weil ich dir sonst in den Schädel schieße – soweit ich weiß, brauchen selbst Vampire Jahre, bis sie das wieder geheilt haben.«

»Das mag sein. Ich habe es bisher vermeiden können, mir Kugeln in den Kopf schießen zu lassen.« Leichter Akzent. Die Dunkelheit kitzelte jedes Detail mit aller Deutlichkeit hervor. Im Deutsch des Fremden schwang der Hauch eines französischen Akzents mit.

»Dann knie dich hin.«

Roumond stand noch immer. »Glaubst du etwa, ich wäre eine Gefahr für dich?«

»Knie dich endlich hin!«

»Ich stehe recht bequem.«

Feng schauderte, als er eine winzige Veränderung bemerkte. Irgendetwas hatte sich verschoben, etwas, das zugunsten von Roumond spielte und ihn derart selbstsicher werden ließ.

»Verdammt, Roumond, ich warne dich zum letzen Mal«, rief Feng hinaus. Tatsächlich schien das Wirkung zu zeigen. Roumonds Silhouette sackte langsam auf den Boden. »Ich wiederhole mich nur sehr ungern«, sagte er dabei. »Aber wenn du der Meinung bist, dass ich es bin, der eine Gefahr für dich darstellt, dann machst du einen gewaltigen Fehler.«

»Und warum?«

Feng spürte es, noch während er die Worte aussprach; deshalb zeigte Roumond keine Angst. Sie waren nicht mehr zu zweit. Etwas drittes hatte sich zu ihnen gesellt.

Feng drehte sich um, als heißer Atem ihn im Nacken traf. »Weil ich es bin«, sagte eine Stimme. Sie klang nach verrottendem Laub.

Feng riss die Waffe herum und schoss.

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Natasjas Motorrad raste durch die Nacht, so dass meine Hände im Handumdrehen zu Eisblöcken gefroren waren. Zumindest kam es mir so vor.

Als sie vor einer alten Stadtvilla hielt, fiel ich fast von der Maschine, weil ich meine Beine nicht mehr fühlte. Natasja fasste meinen Arm und stützte mich.

Wir gingen auf die Villa zu, die mit ihrem efeuüberwucherten Aussehen eher abschreckend als einladend wirkte. »Was wollen wir da?«

»Ich zeige dir eine Überraschung.«

Meine Vernunft, die bisher unter einem Wust aus Verwirrung, Überraschung und grenzenloser Neugier begraben gewesen war, machte sich endlich davon frei und wagte einen Einwand. Ich war mit einer wildfremden Frau unterwegs, die aussah wie Jane Fonda und mir nun in einem heruntergekommenem Haus »eine Überraschung« zeigen wollte.

»Ich kann dir die Kehle zerfetzen«, versuchte ich sie zu beeindrucken, als sie mich unaufhaltsam die Stufen hinaufführte.

»Freut mich«, erwiderte sie ungerührt.

»Ich meins ernst!«

»Entspann dich.«

Ich verkrampfte mich noch mehr. Auf der letzten Stufe überfuhr mich ein Schauer und ich jappste.

»Schon vorbei«, grinste Natasja als sie mich zur Tür führte.

Ich blinzelte und sah die Villa in einem ganz anderen Licht. Sie hatte sich nicht wirklich verändert, aber ich bemerkte, dass der so wild wuchernde Efeu gar nicht wucherte. Er war kunstvoll drapiert worden, so dass er bestimmte Stellen auf der Fassade bedeckte und die Fenster mit den altmodischen Läden aussparte.

Die Fenster waren erleuchtet und manchmal sah ich Schatten, die zu tanzen schienen. Gelächter und Gesprächsfetzen drangen zu mir herüber, obwohl alle Fenster verschlossen waren.

»Keine Scheu.« Natasjas Lächeln hatte fast etwas Freundliches an sich, wenn ich mal ignorierte, dass sie ansonsten den Eindruck eines ständig angespannten Raubtieres machte.

Wir traten ein und ein Mann, der noch größer war als Feng, begrüßte uns mit einem Nicken. »Nabend, Natasja. Schon wieder hier?«

Sie ließ ihre Jacke über die Schultern gleiten und fing sie geschickt auf, ehe sie zu Boden fallen konnte. Der Türsteher nahm sie ihr ab und machte auch eine einladende Geste in Richtung meines Mantels. Ich streifte ihn ab und reichte ihn ihm, da es im Innern des Hauses sehr warm war.

Vor mir lag eine große Treppe, aber Natasja fasste wieder bestimmt meinem Arm und zog mich in eine andere Richtung. Hinter einem Vorhang verborgen war eine Tür. Sie drückte sie auf und ließ mich vorgehen.

Ich trat ein und sofort folgte sie mir, schloss die Tür hinter sich. Ich kam mir ein wenig vor, als würde ich in der Falle sitzen, aber ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

Ich blieb neben der Tür stehen und sah mich um. Der Raum war groß und seine Einrichtung hatte Ähnlichkeit mit einer Galerie. Nur, dass auf den Podesten und Liegen keine Kunstwerke ausgestellt waren, sondern Menschen.

Ich schluckte. Die meisten von ihnen waren wenig bis gar nicht bekleidet.

»Wieso hast du mich hierher gebracht?«, zischte ich leise in Richtung Natasja. »In einen Puff?«

»Es ist ein Bluthuren-Bordell«, korrigierte sie mich und zuckte nicht einmal mit der Wimper. Ich dafür umso mehr. Mein Blick blieb immer wieder an Männern und Frauen hängen, von denen jeder jederzeit auf das Cover eines Modemagazins gepasst hätte.

»Ich spendier dir was. Such dir einen aus.«

»Einen aussuchen?«

»Stehst du eher auf Frauen?«

»Was?!«

»Also doch Männer. Welcher soll es sein?«

Ich verzog das Gesicht. »Ich bin nicht verzweifelt genug, um mit irgendeinem Callboy ins Bett zu steigen!«

»Wer spricht davon? Du sollst von ihm trinken, nicht mit ihm vögeln!«

Ich starrte sie groß an. Natasja sah mich an und ihre dunklen Augen verengten sich. Ich sah etwas Gelbes darin auffunkeln. »Ian«, sagte sie nur und fasste wieder meinen Arm.

»Wer soll das sein?«

Natasja antwortete nicht, sondern zog mich quer durch den Raum, wo einige der »Ausstellungsstücke« uns neugierig mit Blicken folgten. Ich wurde puterrot weil wir im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit standen, aber das Problem wurde recht schnell gelöst, als Natasja mich in einen weiteren Raum schob, der direkt an die Galerie angeschlossen war. Ich erwartete, dass sie mir folgen würde – stattdessen wurde die Tür zugeschlagen und ich hörte ein Schloss, das sich drehte. Ich war eingesperrt.

»Natasja!« Ich hämmerte mit der Faust gegen die Tür, aber niemand reagierte auf mich.

Ich wandte mich ab und fuhr mir nervös durch die Haare. Als mir durch diese Geste aber ihr verändertes Aussehen und der Grund, warum sie plötzlich so aussahen, wieder einfiel, ließ ich die Hände rasch wieder sinken. Seufzend steckte ich sie in die Taschen meiner Wollhose, als könne ich so Aussehen und Grund ändern.

Der Raum, in den Natasja mich gesperrt hatte, hätte für ein Gefängnis wirklich schlechter aussehen können. Die Einrichtung war in warmen Beige- und Schokoladentönen gehalten. Ein großes Bett mit niedriger Bettkante dominierte das Zimmer. Hier und dort brannten einige Kerzen und auch im Kamin auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes flackerten einige lodernde Holzscheite.

Ich prüfte einige der Ziergegenstände, die auf dem Kaminsims lagen. Sie bestanden allesamt aus Metall und alle wiesen lange Zacken oder Schneiden auf. So wirklich konnte ich mit diesen Dingen nichts anfangen, deswegen nahm ich eines von ihnen auf. Es hatte Ähnlichkeit mit einer Kralle, nur dass sich am Ende keine Spitze befand, sondern zwei geschliffene Schneiden. Man konnte die Vorrichtung auf die Fingerkuppe stülpen. Meine Fantasien zu diesem Instrument ließen mich schaudern, weswegen ich die metallene Fingerkuppe schnell wieder zurücklegte.

Ich ging zur anderen Wand. Es war eine Fensterfront, die auf einen großen Garten hinaus zeigte. Ich fand keine Tür, sonst hätte ich mir den Garten gerne angesehen. Er war sehr gut gepflegt und viel größer, als er eigentlich von der Größe des Hauses her sein durfte, denn von der Straße war er nicht zu sehen.

Einige Kugellampen waren sehr geschickt zwischen die Büsche und Bäume drapiert worden und gaben dem ganzen das Flair eines asiatischen Ziergartens. Durch die Jahreszeit war nur das Grün der winterharten Gewächse zu sehen, aber dieser Umstand raubte dem Garten keineswegs seinen Reiz.

Ich wandte mich ab und erschrak, da plötzlich und unvermittelt ein Mann vor mir stand. Er trug nicht mehr als eine Jeans, die gefährlich tief auf seinen Hüften hing. Ein leichter Bartschatten zeichnete sich auf seinen Wangen und dem Kinn ab und bewies, dass die dunkelblonden Haare, die ihm in halblangen Fransen in die Augen hingen, nicht gefärbt waren. Der Fremde hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf ein wenig schief gelegt. Ebenso schief wie sein Lächeln, mit dem er mich musterte.

»Hallo, ich bin Ian. Kann ich dir helfen?«, fragte er mich.

»Ja – wie komme ich hier raus?«, erwiderte ich.

Er lächelte und senkte für einen Moment den Blick als hätte ich etwas sehr Witziges gesagt. »Ich glaube, das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Natasja gesagt hat, dass du noch Jungfrau bist.«

Ich runzelte die Stirn. »Woher will sie das wissen?«

»Sie sagte, du wurdest gerade erst gewandelt. Und ich denke, sie hat Recht.«

»Ich denke, du nimmst dir gerade sehr viel heraus. Genauso wie diese Rockerbraut«, erwiderte ich gereizt.

Er kam näher und stützte die Hände neben meinem Kopf auf dem Fensterglas ab. Er war mir jetzt so nah, dass ich helle, weiße Pünktchen auf seiner Brust und seinem Hals sehen konnte. Sie stachen von der gebräunten Haut ab und ich sah in sein Gesicht. Er lächelte immer noch.

»Hat sie nun Recht, oder nicht?«

»Geht dich das irgendetwas an?«, brummte ich.

»Natürlich. Ich wollte schon immer mal der Erste sein«, grinste er.

Ich ging in die Knie und rutsche ein Stück tiefer, um mich seiner angefangenen Umarmung zu entziehen. Rasch stellte ich mich näher zur Tür. Er folgte mir.

»Ich weiß wirklich nicht, wer dich zum Defloristen ernannt hat.«

»Oh, ich soll hier gar nichts deflorieren.« Er kam wieder näher und keilte mich zwischen Wand und seinem Körper ein. »Das obliegt eher dir.«

Er fasste eine Strähne meines Haares und hob sie an die Lippen. Zu meinem Erstaunen setzte er einen Kuss darauf und schloss genießerisch die Augen. »Du duftest nach Fey, aber du willst Blut – eine aufregende Mischung. Das habe ich noch nie gesehen.«

»Da sind wir schon mal zwei«, murmelte ich und entwand ihm meine Haarsträhne.

Er umfasste meine Hüfte und ich stieß seine Hand wieder weg. »Bist du immer so zickig?«

»Nur wenn ich gekidnappt und zum Sex gezwungen werden soll«, überspitze ich meine momentane Situation. Seine Antwort war ein Lachen. »Das würde anders aussehen.« Er beugte sich zu mir. »Sex gibt es nur auf Anfrage. Willst du anfragen?«

»Hast du’s so nötig?«, zischte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Warum fangen wir nicht ganz einfach an – und du probierst?«

Mein Blick glitt wieder über ihn und ich merkte, wie er sich selbstgefällig noch etwas mehr in Pose stellte.

»Ich steh nicht auf solche Spiele«, behauptete ich mit fester Stimme, auch wenn ich mir selbst da gar nicht mehr so sicher war.

Er ließ mich frei und ging einige Schritte zurück, bis er sich bequem auf das breite Bett legen konnte, ohne meinen Blick loszulassen. »Schade. Dabei spiele ich so gerne. Zum Beispiel das Spiel, wie diese Tür aufgeht.«

Als wären seine Worte ein Voodoozauber, ging ich wieder zur Tür und drückte abermals die Klinke. Sie war noch immer verschlossen.

Ich seufzte und drehte mich zu ihm um.

»Beiß mich«, grinste er.

»Leck mich!«, zischte ich.

»Gerne auch das.«

Ich seufzte und setzte mich neben ihn aufs Bett. Mein Blick fiel wieder auf die weißen Punkte, die seine Haut verunzierten, und ich verstand: Es waren Narben. So wie es aussah, wurde er regelmäßig gebissen. Stand er etwa darauf?

Als lese er meine Gedanken, drehte er den Kopf zur Seite, um mir seinen Hals darzubieten. »Wo bevorzugst du es? Hals? Brust?« Er sah mich wieder an und grinste verführerisch. »Oder tiefer?«

»Hals wird schon reichen«, brummte ich. »Kannst du mir dann wenigstens den Gefallen tun und dich bequemer hinsetzen?«

Er breitete die Hände in einer Geste des »Was tue ich nicht alles für dich« aus und setzte sich auf. Ich leckte mir über die trockenen Lippen.

Trotz meiner Weigerung musste ich noch immer an den Geschmack und das befriedigende Gefühl denken, als ich mein eigenes Blut aus meiner Zahnfleischwunde geleckt hatte. Es war köstlich gewesen, aber ich spürte sonst kein Verlangen mir irgendwo Nachschub zu besorgen. Bisher hatte mir aber auch noch niemand derart bereitwillig seinen Hals präsentiert.

Ian zwinkerte. »Komm schon, nicht so schüchtern. Ich bin auch ganz zärtlich.«

»Deine Sprüche nerven. Ich kann das nicht!«

»Was ist denn so schwer daran? Mund auf, Zähne rein, Mund zu, saugen. Ganz einfach.«

Ich seufzte. »Ich hab’s ja verstanden, jetzt lass mich machen.«

»Wie du wünscht«, spottete er, als ich mich näher lehnte. Sein Duft kroch mir in die Nase und ich leckte mir unwillkürlich über die Lippen. Unter dem Parfum, das er trug, und dem Geruch seines Körpers, konnte ich es riechen. Diese feine, metallisch-süße Note, die meinen eigenen Puls zum Rasen brachte.

Ich rückte näher und schnupperte an seiner Halsbeuge. Er lachte leise, aber ich überging seine Reaktion. Meine Lippen berührten seinen Hals. Darunter pochte der Takt seines Herzens, ich konnte ihn durch meine Lippen fühlen.

Meine Augen schlossen sich. Ich ließ nur noch die Sinne Tasten, Riechen und Schmecken regieren. Jeder einzelne meiner Sinne war geschärft – auf einem Niveau, welches ich vorher nie gekannt hatte.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht übernahmen meine Instinkte die Kontrolle über meine Handlungen. Ich öffnete den Mund und grub meine Zähne in Ians Fleisch. Er zischte auf, aber meine Arme schlangen sich um seine Schultern.

Sein Blut floss in meinen Mund, so heiß, dass es wie ein Schock war. Und mit ihm kamen… Gedanken. Gefühle.

Ich schluckte und stöhnte wollüstig auf. Freude raste durch meine Adern, immer stärker, mit jedem Schluck, den ich trank. Ich fühlte mich berauscht und bestand nur noch aus dem Wunsch, mehr davon zu bekommen. Jeder Gedanke an Sorgen oder Probleme war vergessen; einfach mit der heißen, roten Flüssigkeit fortgeschwemmt. Jemand hielt mich fest und unterbrach meinen Zustand – ich wimmerte.

»Was soll das?«

Ich wandte mich und wollte loskommen von dem, was auch immer mich da festhielt. Ich wollte weiter trinken! Alles, nur noch eine Sekunde länger dieses überwältigende Gefühl.

»Schätzchen, für eine Jungfrau bist du aber ziemlich abgegangen«, keuchte Ian lachend und hielt sich eine klaffende Wunde am Hals.

Irritiert sah ich erst ihn an und dann denjenigen, der mich festhielt. Es war ein Mann, ein Vampir, soweit ich es an seinem leicht geöffneten Mund feststellen konnte und er wirkte nicht sonderlich glücklich. Ganz sicher konnte ich es aber nicht sagen – seine Augen irritierten mich. Sie waren milchweiß.

»Ich… ich wurde hier eingesperrt und…«

»Natasja hat ihr einen ausgegeben«, sprang Ian ein und ging zu einem Schränkchen, um sich einen Pressverband herauszunehmen, den er gegen seinen Hals drückte. »Sie sagte, sie hat noch nie jemanden gebissen.«

»Warum hast du sie nicht vorgewarnt?«, tadelte ihn der mir fremde Vampir, aber Ian zuckte nur mit den Schultern. »Sie hat sich derart geziert… ich war froh, dass sie überhaupt zugebissen hat.«

Der Vampir ließ mich los.

»Du hast Blut am Mundwinkel.«

Ich fuhr mit reflexartig über die Lippen und sah, dass mein gesamter Handrücken blutbesudelt war. Bevor ich fragen musste, reichte mir Ian mit einem wissenden Grinsen ein paar Kleenex. Ich wischte das Blut ab und war froh, dass ich schon vor ein paar Wochen auf kussechten Lippenstift umgestiegen war. Wer hätte gedacht, dass er sich jemals einem solchen Härtetest unterziehen müsste? Abwesend leckte ich mir wieder über die Lippen, um die letzten Reste des Blutes loszuwerden.

»Du solltest dich nicht allzu sehr an diesen Geschmack gewöhnen«, mahnte mich der Vampir mit den weißen Augen. »Nicht jeder schmeckt wie eine Bluthure.«

Ich sah Ian an, dessen Blutung mittlerweile aufgehört hatte. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und zuckte die Schultern. »Wir sind halt was Besonderes«, grinste er.

Ich verdrehte die Augen und sah lieber wieder den Vampir an. Der kam näher und musterte mein Gesicht. »Darf ich?«, fragte er höflich.

Ich nickte, auch wenn mir nicht ganz klar war, was er genau wollte. Seine Fingerspitze legte sich sanft auf meine Lippen und schob sie auseinander. Den Mund einen Spaltbreit geöffnet, stand ich da und wartete, was er tun würde. Er ging ein wenig in die Knie und spähte in meinen Mund.

»Bei allem Heiligen – erst heute Nacht?«

Ich nickte ein wenig, versuchte aber gleichzeitig den Kopf nicht allzu stark zu bewegen. Er zog seine Hand zurück.

»Wer hat dich gewandelt?«

»Ein Engel. Sein Name ist Samhiel.«

Der Vampir hob überrascht die Braue, sagte aber nichts dazu.

»Was meinten Sie mit Bluthuren? Wieso schmecken Sie anders?«, lenkte ich das Gespräch in eine andere Richtung.

Er deutete auf Ian. »Hat es sich gut angefühlt, als du getrunken hast? Wie eine… Droge?«

Ich nickte.

»Das liegt daran, dass Ian ein manipulativer Bastard ist.«

Ich sah zu genanntem manipulativen Bastard, aber er schien die Bemerkung als Kompliment anzusehen. Der Weißäugige erklärte: »Wenn jemand von ihm trinkt, blockt er jeden anderen Gedanken als den an Freude aus.«

»Was haben denn seine Gefühle mit mir zu tun?«

»Lass es sie ausprobieren, Elandros«, mischte Ian sich ein.

Der Angesprochene nickte leicht. »Die Idee ist vielleicht nicht so abwegig. Sonst denkst du wirklich, deine nächste Nahrung wird ein ebensolcher Quell der… sagen wir, Freude für dich sein.«

Elandros schmunzelte und nickte Ian zu. Der verschwand durch die Tür nach draußen. Ich fühlte wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. »Mir reicht das. Wirklich. Ich habe Ian nur gebissen, weil er so darum gebettelt hat…«

»Bitte.« Elandros hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Kein Klagen über deine angebliche Unfähigkeit anderen Lebewesen Schaden zuzufügen. Davon höre ich genug.«

»Und was ist, wenn ich sage, ich kann kein Blut sehen?«

Elandros antwortete nicht, aber sein blinder Blick auf die roten Flecken, die sich auf dem Bettlaken ausgebreitete hatten, tat sein übriges.

»Ich werde trotzdem niemand die Kehle zerfetzen.«

»Du kannst dich von deinen Klischeevorstellungen lösen«, erwiderte Ian, der mit einem Beutel in der Hand, wieder ins Zimmer kam. Der Beutel war durchsichtig, hatte zwei kleinere Zugänge am oberen und unteren Ende und war mit einer dicken roten Flüssigkeit gefüllt. Einem Teil von mir – wahrscheinlich dem menschlichen – wurde bei dem Gedanken an die dickliche Flüssigkeit schlecht. Der Teil aber, der mir die langen Zähne beschert hatte, frohlockte bei dem Anblick. Meinem Magen wurde das Gefühlschaos zu viel. Nur mit Mühe konnte ich ihn davon abhalten, Ians kostbaren Lebenssaft wieder auf den Boden zu befördern.

Die Bluthure hielt mir den Beutel hin. Ich sah misstrauisch auf das Plastiksäckchen herunter. Ian grinste: »Das gleiche wie eben: Mund auf…«

»Schon gut«, erwiderte ich, bevor er wieder mit seiner Umgarnung beginnen konnte. Ich nahm ihm den Beutel ab und schnupperte daran. Der bittere Geruch von Plastik schlug mir entgegen. Wenig Appetitanregend.

Ich sah auf und bemerkte, dass Elandros den Kopf in meine Richtung gedreht hatte. Er schien mich genau zu beobachten, auch wenn durch seine weiß-blinden Augen nichts sah. Ian feixte neben ihm, um mich endlich dazu zu bringen, zu trinken.

Ich sah wieder auf den Beutel. Dann biss ich zu.

Der erste Tropfen, der durch das neu entstandene Loch drang, war kalt. Es war ein unangenehmes Gefühl – als ob man eine heiße Kartoffelsuppe erwartet hätte, und stattdessen einen Löffel Gazpacho serviert bekam. Der zweite Tropfen war bitter; und dann überflutete ein ganzer Schwall Blut meinen Mund. Ich schluckte und warf den Beutel fort.

Mir war schlecht und ich versuchte, das Würgen zurückzuhalten. Elandros nickte mitfühlend. »Ein wenig anders als Ian, nicht wahr?«

Ich nickte mühsam und versuchte weiterhin krampfhaft den ekelhaften Schluck bei mir zu behalten. Wo Ians Blut nach Süße, Euphorie und einem Hauch Lust geschmeckt hatte, war hier nur dröge, abgestandene Langeweile. Das Blut war kalter Zigarettenrauch und ich schauderte noch immer bei dem Gedanken daran. Während des Trinkens hatte ich ein endloses Leben von immer gleichen Tagen vor mir gesehen und die Gewissheit verspürt, dass es absolut nichts gab, was mich daraus retten konnte. Außer vielleicht einer geladenen Pistole oder ein paar Schlaftabletten.

Wieder schüttelte ich mich. Elandros hob den Beutel auf, aus dem das Blut auf den Boden sickerte. Mir fiel einmal mehr auf, dass er sich für einen Blinden überraschend gut orientierte. Ich dem Anblick seiner Blutrettungsaktion verspürte einen kurzen Stich – das Parkett war wohl versaut und ich war schuld.

Elandros gab den Beutel an Ian, der ihn wegtrug. »Das war Blut, das wir einem Freiwilligen abgenommen haben. Er bekam Geld und wie du vielleicht bemerkt hast, ist er nicht sonderlich glücklich in seiner momentanen Situation.«

Ich nickte und versuchte das Bild der ewig gleichen Nachmittage abzuschütteln.

»Das war jetzt nur das Blut von jemand, der es freiwillig gegeben und bei der Abnahme an nichts Bestimmtes gedacht hat. Vielleicht war es der nächste Wocheneinkauf, oder welchen Film er sich ausleiht.« Etwas änderte sich in Elandros Stimme. Sie wurde kühler. Beängstigender. »Aber was wäre, wenn er nicht ruhig auf einem Stuhl mit der Nadel im Arm gesessen hätte? Wenn er stundenlang gehetzt, gejagt worden wäre? Um sein Leben hätte laufen müssen, den Kopf immer halb zur Seite geneigt, um über der Schulter nach seinem Verfolger zu sehen? Wie, denkst du, hätte sein Blut dann geschmeckt?«

Ich biss mir auf die Unterlippe Kopf und konnte meine Augen nicht von Elandros Gestalt nehmen. Furcht und Faszination fesselten mich.

Der Vampir trat einen Schritt zurück und alles Bedrohliche verschwand. Ich atmete unmerklich aus.

»Blut trinken ist weder eine noble, noch eine romantische Angelegenheit. Sie ist widerwärtig und ein notwendiges Übel – vor allem für jemanden wie dich, der so jung ist. Angst macht Blut bitter.«

»Ich hatte nicht vor …«

»Ich weiß. Ich habe es gespürt. Aber früher oder später wirst du es tun müssen. Ich hoffe für dich, dass es später sein wird.«

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