Kapitel 22

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Die Nacht war still, lediglich das leise Reiben von Holz auf Haut war zu hören.

Ave Maria gratia plen

Kleine Holzperlen an einer Kette, ein Holzkreuz an ihrem Ende. Ein Rosenkranz. Jede Perle ein Gebet, jedes Gebet ein Schritt zurück.

Dominus tecum

Auf der Stirn des Vampirs stand Schweiß. In seiner Welt verbrannte das Holzkreuz seine Haut. In seinem Glauben durfte er es nicht berühren.

Benedicta tu in mulieribus

Ein Ave Maria und eine Bitte. Eine Bitte um Glauben.

et benedictus fructus ventris tui, Jesus

Ein Ave Maria und eine Bitte um Hoffnung.

Sancta Maria, Mater Die

Ein Ave Maria und eine Bitte um Liebe

Ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae.

Ein Rosenkranz und ein Wunsch. Der Wunsch, heimkehren zu dürfen.

Amen.

Der Rosenkranz fiel mit dumpfem Pochen auf den Boden. Roumonds Finger hatten ihn nicht mehr halten können. Die Perlen darauf waren abgewetzt. Braune Farbe splitterte von den Holzkugeln, als sie auf den Boden aufschlugen. Asphalt, ohne jede Abdeckung, weder Laminat noch Teppich. Passend für jemand wie ihn.

Roumond hatte sich diesen Kellerraum selbst ausgesucht. Hier war es feucht, kalt. Es fehlte nur noch ein Sarg, um das Ambiente des vor-sich-hinmodernden-Vampirs zu vervollständigen.

Roumond hatte keinen Sarg; er war nicht einmal bestattet worden. Etwas in ihm hatte sich dagegen gesträubt. Auf dem Friedhof hätte er einem Toten seine letzte Ruhestätte stehlen müssen, und der Kauf eines Sarges ohne eine Beerdigung hätte nur Fragen aufgeworfen. Er hätte sich mit der Welt draußen beschäftigen müssen.

Roumond wusste, dass er noch nicht soweit war. Achtzig Jahre lang hatte er versucht, sich davon fernzuhalten. Und das würde auch so bleiben. Zumindest solange, wie er noch von dieser Welt verstoßen war.

Er gehörte nicht mehr dazu. Seit Inés…

Roumond beugte sich zu dem Rosenkranz. Er musste sich nicht tief beugen; er kniete. Die Kälte und Feuchtigkeit des Betonlochs spürte er nicht mehr. Was er spürte, war das Holz. Es verwandelte sich unter seiner Berührung in glühendes Metall. Es brannte, aber der Vampir hielt es fest. Der Schmerz war ein Fixpunkt; der ihm half sich zu konzentrieren. Es war wichtig, dass er sich konzentrierte. Das Ziel durfte er nicht vergessen. Wenn er wankte, bekam es ihn.

Roumond schloss die Augen. Er durfte es nicht zu nah an seine Gedanken kommen lassen. So etwas lockte es nur an. Der Vampir biss sich auf die Unterlippe. Die zeigte, trotz seiner Selbstheilungskräfte, bereits viele Wunden. Das Fleisch konnte nicht so schnell heilen, wie er hineinbiss.

Er lauschte. Dieser verdammte Drache! Dieses Tier! Das waren sie alle – Tiere. Nur deswegen hatte er es in dem anderen Raum hören können. Weil er ein Tier war!

Roumond schloss alles um sich herum aus. Er war kein Tier. Er würde nicht wie eine Ratte in ihrem Loch kauern und auf jeden Laut seines Peinigers horchen.

Er presste den Rosenkranz gegen seine Stirn. Der Schmerz verlagerte sich von der Hand in den Kopf, aber so konnte er seine Gedanken wegbrennen. Das Wichtige wieder vor seinem inneren Auge sehen.

Inés. Ja, Inés.

Ihr Gesicht war der Punkt, auf den er sich konzentrieren konnte. Ihr rundes, kleines Gesicht. Sie hatte ihn niemals mit Furcht oder Angst angesehen.

Damals war er Jean Roumond gewesen. Jean Roumond der Schreinermeister. Selbst im Anbruch des jungen Jahrhunderts war es ein schwerer Beruf gewesen, aber er hatte gut gelebt. In seinem Dorf hatte es immer jemanden gegeben, der Holzwerkzeug oder Möbel brauchte. Roumonds Name war bekannt für die schönen, geschnitzten Hochzeitstruhen aus seiner Werkstatt. Der Geruch von Holz, das leichte Dämmern der Sonne durch die Fenster seiner Werkstatt… Damals hatte er sich noch nicht vor dem Sonnenlicht verstecken müssen. Damals war er noch in die Kirche gegangen. Bei dem Gedanke entrang sich ihm ein Seufzen. Jeden Sonntag hatte er seine Tochter Inés bei der Hand genommen und war mit ihr die staubige Strecke bis zum Marktplatz gegangen, wo die Glocken bereits läuteten, um die Gemeinde zu sich zu rufen.

Inés hatte das Läuten geliebt. Meist war sie schon vor ihm wach gewesen und zu ihm ins Bett gekrochen, um ihn zu wecken.

Seit dem Tod seiner Frau war die andere Seite der Schlafstatt leer gewesen und Roumond hatte es immer wieder überrascht, wie viel heller das gesamte Schlafzimmer wirkte, wenn Inés eingetreten war.

Selbst der lange Abschied ihrer Mutter, die an Krebs starb, hatte das Lachen des Mädchens nicht ersticken können. Eine Zeitlang war es leiser geworden, aber immer war es da. Roumond hatte es über die Trauerzeit hinweg geholfen.

Vielleicht hatte er da bereits begonnen, den Glauben zu verlieren. Vielleicht war es einfach nur Inés kindliche Hingabe an die Kirche gewesen, die ihn davor bewahrt hatte, vollkommen loszulassen.

Aber Inés war nicht mehr da. Inés war von dieser Kreatur geholt worden.

Roumond gab einen erstickten Laut von sich und presste die Perlen fester an seine Stirn. Der Rosenkranz war ein Geschenk von Inés Mutter an ihre Tochter gewesen. Aber weder sie, noch das kleine Mädchen konnten ihn noch halten. Nur er. Er wäre jetzt ein alter Mann. Wenn er damals anders gehandelt hätte, schneller gewesen wäre…

Das ES war eines Nachts zu ihm gekommen. Die Gestalt war angenehm gewesen, eine schöne Frau mit einem aufreizenden Lachen, das jeden seiner Nerven wie elektrisiert zurückließ. Sie hatten Wein getrunken, geredet, sich geküsst. Yvonne, seine Frau, war zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre tot und Inés schlief ruhig in ihrem Zimmer, ein Stockwerk höher.

Roumond hatte sich für eine Weile gut gefühlt. Befriedigt. Bis der Schrei von oben ertönte.

Die Frau, die sich Sekunden zuvor noch willig an seinen nackten Körper gepresst hatte, war verschwunden. Aber ehe der Schreiner seiner Verwirrung Herr werden konnte, ertönte ein zweiter Schrei und er lief nach oben.

In der Tür zu Inés Zimmer blieb er stehen. Sein Körper verdeckte das Licht, aber er bewegte sich nicht weiter zum Bett. Am liebsten hätte er nie wieder etwas gesehen.

Die immer lachende, kleine Inés lag mit offenen glasigen Augen auf ihrem Bett. Er hatte es noch am Abend zuvor neu bezogen mit weißer Bettwäsche. Jetzt war sie rot.

Keuchend löste sich seine Erstarrung und Roumond wollte ins Zimmer stürmen, aber etwas riss ihn zurück und ließ ihn gegen die Wand prallen. Gestank von verrottetem Fleisch füllte seine Lungen und er rang nach Atem.

Das Gesicht der schönen Frau schob sich vor seines. Die Augen, ehemals warm und braun waren nun einem kranken Weiß gewichen. Sie lächelte ihn mit spitzen Zähnen an.

»Das ist deine Schuld«, flüstere sie und ihre Stimme hatte sich ebenso verändert wie ihre Augen. »Du hast mich in dieses Haus gelassen, aus reiner Wollust. Und deine Tochter ist der Preis.«

»Nein!« Roumond schrie auf und wollte sich losmachen, aber sie hielt ihn mit übermenschlicher Kraft fest. Er spürte das Holz des Zimmers nur allzu schmerzhaft in seinem Rücken. Zum Glück wurde Inés Bett von dem Körper der Frau vor sich verdeckt.

»Oh doch«, schnurrte diese und allein das Geräusch jagte ihm Gänsehaut über den nackten Leib.

»Nimm etwas anderes. Meinetwegen mich. Aber nicht Inés!«

»Sie ist bereits tot.«

»Nein!« Roumond wehrte sich stärker. »Du verdammtes Monster!«

»Rührend.« Sie umfasste seine Kehle und scharfe Nägel gruben sich wie Klauen in seine Haut. Roumond spürte etwas Warmes an seinem Hals entlang laufen. Blut.

»Aber vielleicht bin ich doch zu einem Tausch bereit…«

Es zischte leise und nur mit Mühe konnte Roumond die Hand mit dem Rosenkranz von seiner Stirn nehmen. Die Stelle, an der er die Perlen gepresst hatte, pochte. Aber sie würde heilen. Wie alles andere auch.

Jean Roumond hatte die Hölle gesehen. Und seitdem wusste er. Er konnte nicht mehr glauben, seit er in diesen unseligen Tausch eingewilligt hatte. Inés war noch immer tot, aber dieses Scheusal hatte ihm versprochen, dass es sie wieder lebendig machen würde. Roumond musste nur seine Schuldigkeit tun. Es hatte Jahrzehnte gedauert, ehe er erfahren hatte, um was es sich dabei handelte. Weitere Jahre hatte er gebraucht, um mögliche Frauen zu finden.

Dieses Ding hatte recht gehabt. Es war so gekommen, wie es gesagt hatte. Der Engel hatte diese Welt betreten und »das Wort« der Frau gegeben.

Roumond hatte sich von Agnes ablenken lassen. Sie war Inés so ähnlich. Die gleiche Unschuld, das gleiche Lächeln. Aber jetzt brauchte er Agnes nicht mehr. Jetzt war er seinem Ziel nah. Bald würde er die echte Inés wieder in seinen Armen halten können, seine geliebte Tochter.

Roumond stand auf und steckte den Rosenkranz in seine Tasche.

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