Kapitel 4

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Bis zum Kloster im Stadtzentrum war es nicht sehr weit. Kay hatte sich ein Taxi gerufen, auch wenn er es normalerweise vermied, Autos zu benutzen. Für längere Strecken – und von denen gab es reichlich – kam er aber nicht darum herum. Möglichst schnell bezahlte er und verließ den Mercedes.

Als Fey hatte er eine Abneigung gegen alles Metallische. Zwar reagierte er nicht mit Schmerzen und Verbrennungen auf kaltgeschmiedetes Eisen, so wie die Unseelie, dennoch konnte er ein gewisses Unbehagen nicht leugnen, sobald er sich in so einer Metallkiste auf Rädern gefangen sah.

Kay schüttelte das unangenehme Gefühl ab und ging auf das Haus vor ihm zu. Es unterschied sich nicht von den Nachbarhäusern. An der Außenfassade zeigten sich ehemals schöne Stuckverzierungen, die aber nun unter einer Jahrzehnte alten Patina aus Straßenschmutz kaum mehr auszumachen war. Das gesamte Gebäude war ein solider Altbau, der mit ein wenig Mühe sicherlich wieder zu altem Glanz kommen konnte.

Die Schwestern, die dieses Haus bewohnten, kümmerten sich allerdings mehr um menschliche Belange, als um Gebäuderenovierung. Sie hatten ein Kloster eingerichtet. Kein Kloster im traditionellen Sinn. Früher hatten Frauen in diesem Gebäude gearbeitet. Meist als Prostituierte, manche auch als normale Waschfrauen. Nachdem das Viertel aufgeräumt worden waren, mussten die Huren weichen. Zurück blieb ein billiges, leeres Haus mit großen Räumen und seltsamer Einrichtung.

Einige Benediktinerinnen hatte die Gunst der Stunde genutzt, und das Haus nach und nach in ein christliches Zentrum und Kloster umgestaltet. So wie es aussah, war es keine schlechte Entscheidung gewesen.

Er klingelte an der großen Tür. Kurz darauf ertönten Schritte aus der Eingangshalle und eine zierliche Frau im Habit öffnete ihm.

»Kay?«

»Hallo Marie. Lass mich rein, es ist kalt.«

Sie trat einen Schritt zurück und ließ ihn eintreten. Kay ging an ihr vorbei in Richtung des erleuchteten Glaskastens der Pförtnerloge. Mittlerweile war es nach neun Uhr abends.

Schwester Marie folgte Kay und bot ihm einen Stuhl an. Er setzte sich und wartete, dass sie es auch tat.

»Ich kann dir leider keinen Tee anbieten«, sagte die zierliche Schwester. Sie wirkte attraktiv, auch wenn man, bei genauerem Hinsehen, Falten um die Augen und Mundwinkel bemerken konnte. In ihrer Stimme war von den ersten Anzeichen des Alters aber nichts zu hören.

»Danke, ich wollte ohnehin nicht lange bleiben. Ich bin nur hier, um dir ein paar Fragen zu stellen.«

»Es geht um Agnes Marberg?«

»Ja.«

Schwester Marie nickte, als würde Kay nur ihre Vermutung bestätigen. Wahrscheinlich war es auch genau das. »Sie kam zu Vater Manuel in die Beichte. Ich war zufällig in der Kirche und hörte alles«, sagte sie. »Ich dachte, ihr könntet ihr helfen.«

»Bist du sicher, dass es sich um einen Vampir handelt?«

Marie legte den Kopf leicht schief und grinste – und zeigte zwei Reißzähne. »Ich denke, diese Frage darf ich unbeantwortet lassen«, sagte sie milde.

Kay schmunzelte. »Auf mich wirkt es trotz allem befremdlich. Er lauert lange Zeit auf ihrer Spur, schafft es sogar, in ihre Wohnung einzudringen, und trinkt dann nicht einmal von ihr, als er die Gelegenheit dazu hat. Das macht keinen Sinn.«

»Vielleicht ist er verliebt?«, riet Marie.

Kay schüttelte den Kopf. »Dann könnte er auch einfach den konventionellen Weg gehen. Kein Blutsau… kein Vampir verhält sich derart.«

Maries Lippen pressten sich minimal fester aufeinander, aber Kay war froh, dass sie seine angefangene Beleidigung nicht kommentierte. »Genau aus diesem Grund habe ich sie zu dir und Feng geschickt. Damit ihr herausfindet, was genau auf Agnes aufmerksam geworden ist.«

»Hast du eine Vermutung?«

Die Nonne legte abermals den Kopf schief. Diesmal wirkte es nicht neckend, sondern nachdenklich. »Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Es ist das erste Mal, dass ich von so etwas höre und es gefällt mir nicht.«

Kay seufzte. Er hatte sich Informationen erhofft, aber anscheinend wusste Marie genauso viel, wie er auch. Die ganze Qual des Autofahrens umsonst. Verflucht. »Das heißt also, wir fangen ganz von vorn an.«

»Habt ihr schon die Vampire aus der näheren Umgebung überprüft?«

»Noch nicht. Feng wird sich darum kümmern, wenn er Feline in alles eingewiesen hat.«

»Feline?«

»Die Tochter einer Hexe – ein Mensch.«

Schwester Marie schloss die Augen und ihr Gesicht bekam einen verzückten Ausdruck. »Ein Mensch.«

Kay beobachtete das interessiert. Maries Miene wurde weicher. Allein durch diesen Gesichtsausdruck schien sie Jahrzehnte ihres Alters zu verlieren. »Dann versuchst du immer noch, ein Mensch zu werden?«, fragte er leise.

Marie öffnete ihre Augen und das Grau darin war dunkel und tief. »Was denkst du, warum ich hier bin? Warum ich den Schleier trage? Irgendwann werde ich den Glauben wieder finden und dann…« Sie atmete tief durch. »Dann erhalte ich meine Seele zurück und darf wieder menschlich sein.«

Kay schauderte unwillkürlich, als er die feste Überzeugung in Maries Stimme hörte. Er hatte mehrere Jahrhunderte hinter sich gebracht und war Mitglied eines Volkes, welches das Wort Sterblichkeit nicht kannte. Grenzgänger, die viel enger und öfter mit der menschlichen Welt in Kontakt kamen, kannten sie dagegen nur zu gut. Viele wurden im Laufe ihres Lebens mindestens ein Mal darüber wahnsinnig. Einige erholten sich wieder. Andere nicht.

Das Gerücht, dass es Vampiren gelingen konnte, wieder menschlich zu werden, wenn sie den Glauben fanden, war Kay zu Ohren gekommen, aber bisher hatte er erst einen Vampir getroffen, der es auch wahrhaftig versuchte. So sehr, dass er einem kirchlichen Orden beigetreten war.

Kay erhob sich. »Danke für deine Hilfe.«

Marie nickte nur. Kay erhob sich und sein Blick fiel auf ihre Gestalt. Marie war wohl wieder in die Realität zurückgekehrt, denn die jugendliche Verzückung war aus ihrem Gesicht gewichen. Alles, was blieb, war ein Vampir mit Wissen aus mehreren Lebenszyklen und der fanatischen Überzeugung, wieder Mensch werden zu können. Das war schlimmer als Wahnsinn. Kay beeilte sich, das Haus so schnell wie möglich wieder zu verlassen.

Der nächste Schritt war Agnes Marbergs Wohnung. Zu seiner Überraschung hatte sie am frühen Abend angerufen und ihn informiert, dass sie die Dienste der Agentur in Anspruch nehmen würde. Darum auch der kleine Ausflug ins Kloster.

Er hatte sich per Handy bereits angekündigt und sie ließ ihn ohne Probleme ein. Kay sah sich aufmerksam um. Die Wohnung war ein Altbau – hohe Decken, Holzdielen, Stuckverzierungen an der Decke. »Sehr ansprechend«, kommentierte er.

Agnes stand hinter ihm, während er ihr Wohnzimmer inspizierte, die Hände ineinander verschränkt. »Danke.«

»Und wo befindet sich Ihr Schlafzimmer?«

Agnes errötete tatsächlich und Kay schmunzelte. Dass es so etwas noch gab. Er folgte ihr in den nächsten Raum. Das Schlafzimmer war recht schmucklos eingerichtet und wurde hauptsächlich von einem breiten Bett und einem Kirschholzschrank dominiert.

»Wo sagten Sie, steht er, wenn er im Raum ist?«

Agnes deutete auf die rechte Seite des Bettes. Das Fenster des Zimmers lag auf der gegenüberliegenden Seite. Er sah wieder zu Agnes. »Würden Sie bitte kurz den Raum verlassen?«

»Wozu?«

»Weil ich gern einige Vorsichtsmaßnahmen ergreifen möchte. Ich kann mich ja nicht einfach nachts in Ihrem Schlafzimmer aufhalten, denn wir wissen nicht, wie Ihr nächtlicher Besucher darauf reagiert.«

Agnes sah zum Fenster und nickte. Gehorsam verließ sie den Raum und Kay massierte sich mit den Fingerspitzen den Nasenrücken. Ihre großen Augen riefen wieder dieses vertraute Gefühl in ihm wach. Wie schon im Büro konnte er nicht genau sagen, was genau Agnes Blick für Erinnerungen heraufbeschwor. Aber Kay kannte sich selbst gut genug. Wenn er diese Erinnerungen in sich vergraben hatte, wäre es unklug sie wieder hervorzuholen.

Seufzend ließ er seine Hand wieder sinken und trat zurück, bis er die Wand im Rücken spürte. Sehen, das war wichtig. Erst, als er den gesamten Raum im Blick hatte, hob er die rechte Hand, griff nach dem Zipfel einer Energieader, die, für menschliche Augen unsichtbar, über ihm schwebte. Im Zimmer wurde es heller, als er die Kraft dieser Quelle nutzte, um etwas aus seiner Heimat in die menschliche Welt zu holen. Der Geruch von Feldern und Wiesen breitete sich in der Luft aus und durchdrang jeden Winkel. Die Stelle, an der Kay stand, färbte sich goldfarben und wurde heller, je enger er seine Finger zusammenführte. Es war ein Faden aus Magie, den er sponn. Kay drehte seinen Zeigefinger in immer kleiner werdenden Spiralen und das Leuchten wickelte sich wie Garn um seine Hand.

Er wusste, dass sich nun auf seinem Gesicht die Züge veränderten und seine Miene einen unwirklichen Ausdruck annahm. Wenn er die Kraft seiner Heimat nutzte, konnte er sein wahres Äußeres nicht mehr verbergen. Die menschliche Hülle verschwand und Kay von Ferndens wahre Natur, die eines Seelie-Sidhe, trat hervor. Es war ebenso erschreckend, wie schön, und der Hauptgrund, warum er Agnes aus dem Zimmer haben wollte, solange er den Zauber wob.

Kay hob die zweite Hand und bewegte die Finger, bis die hellen Lichtfäden sich zu einem komplizierten Muster verwoben, welches sich im ganzen Raum ausbreitete. Als er damit fertig war, warf er das gewobene Netz mit beiden Händen in die Luft, wo es aufglühte und dann schlagartig verblasste. Er erhaschte noch einen Hauch des Dufts seiner Heimat. Seit er sie verlassen hatte, war dieser Geruch selten geworden.

Er fuhr sich über das Gesicht, um sicherzustellen, dass seine Maske wieder funktionierte und öffnete dann die Schlafzimmertür. Davor stand Agnes.

»Was war dieses Licht?«, fragte sie.

»Es ist jetzt fort.«

»Das meinte ich nicht – Angst hatte ich keine«, erwiderte sie energisch.

»Nicht?«

»Nein.« Sie ging an ihm vorbei ins Zimmer, das nicht anders aussah, als zuvor. »Was haben Sie hier gemacht?«

»Eine Art Falle aufgestellt.« Kay wies mit dem Kinn zum Fenster. »Lassen Sie es heute Nacht geschlossen, unter allen Umständen. Ansonsten können Sie sich ganz normal verhalten. Ich werde morgen Abend wiederkommen, und sehen, ob wir etwas finden.«

Agnes nickte.

»Dann bis morgen«, sagte Kay, nickte ebenfalls und verließ die Wohnung.

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