Kapitel 24
Feng kniff die Augenlider zusammen. Jemand hatte ihm das Klebeband abgenommen, aber gleichzeitig den Raum stark erhellt. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das Licht, so dass er sich traute, sie einen Spaltbreit zu öffnen. Gleißende Helligkeit trieb ihm Tränen in die Augen, aber er hielt sie offen.
Als der Schmerz langsam abklang, öffnete er seine Augen ganz.
Nach der langen Dunkelheit des Klebebands nahm er anfangs nur Umrisse im Licht wahr. Er war nicht allein. Zwei Körper lagen neben ihm. Wer oder was, konnte er noch nicht ausmachen.
Feng stöhnte leise und ließ sich auf die Seite rollen. Seine Handgelenke waren von den grob geknoteten Haarseilen wund und sein Kopf schmerzte ob des plötzlichen Lichtes. Er war zwar noch immer in dem Verließ, in das man ihn gesperrt hatte, aber anscheinend hatte Roumond und sein stinkender Freund sich gedacht, dass er Gesellschaft vertragen könnte.
Feng hob den Kopf. Seine Augen tränten stärker als zuvor, denn er spürte Tränen über seine staubigen Wangen rinnen.
Einer der Schemen neben ihm bewegte sich. »Du bist der Drache aus Felines Wohnung«, murmelte er.
Feng blinzelte. »Kenne ich dich?«
»Der Engel. Samhiel«, erwiderte sein Nebenmann. Seine Stimme klang rau. Hatte man ihn gewürgt?
»Ich erinnere mich«, erwiderte Feng. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Welchen?«
»Nimm mir die Fesseln ab.«
Samhiel gab einen knurrenden Laut von sich. »Tut mir leid.«
Feng sah langsam klarer. Das Licht kam von einer Halogenlampe und leuchtete den gesamten Raum aus. Das schien aber eher ein Nebeneffekt zu sein; das Zentrum des Lichtstrahls deutete auf den Engel neben Feng. Er war bis auf die Hose nackt. Auf seinem Oberkörper wanden sich Zeichen. Sie setzten sich im Betonboden fort. Die Muster wurden so zu Seilen und hielten Samhiel auf dem Boden.
»Nette Tätowierung.«
»Danke.« Samhiel lächelte schief. »Hab ich seit meiner Geburt.«
Feng atmete tief ein. »Ein ganz hartes Volk, ihr Engel, was?«
Samhiel lachte leise, aber es endete in einem trockenen Husten. »Mistkerl«, keuchte er, schien aber nicht Feng damit zu meinen. Der schaffte es sich aufzurichten und zu sehen, wer neben Samhiel lag. »Feline?!«
Samhiel versuchte den Kopf zu drehen, aber Strähnen seines eigenen Haares fesselten ihn auf den Boden. »Wo?«
»Direkt neben dir«, informierte ihn Feng.
»Warum sagt sie nichts?«
Der Drache ließ sich auf Ellbogen und Knie nieder und robbte so näher an die beiden heran. Dreck und Feuchtigkeit drangen ihm dabei durch Hose und T-Shirt. Er kam nah genug an Feline heran, um sie zu untersuchen. »Sie ist ohnmächtig.«
Der Engel stemmte sich gegen die Seile und die Haut auf seinem Körper verzerrte sich. »Mach das Licht aus!«
»Wieso, du…«
»Mach es aus!« Samhiels Stimme duldete keinen Widerspruch.
Feng knurrte unterdrückt, robbte dann aber zu der Halogenlampe und suchte nach einem Lichtschalter. In der Eile fand er ihn nicht und riss einfach das Kabel aus der Lampe. Augenblick wurde es dunkel. Selbst der Drache hatte Schwierigkeiten, sich so schnell an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen.
Ein Rauschen erscholl. Anfangs nur das ferne Flüstern von Wind in Blättern. Aber binnen Sekunden schwoll der Wind an, wurde zu Wasser, das sich donnernd an Klippen brach. Er hörte den Wind nicht nur, er spürte ihn in jeder Pore seines Körpers. In diesem dunklen Verschlag schwoll er an wie ein Orkan und durchdrang jede Faser des Drachen. Feng spürte, wie die Fesseln sich an seinen Händen lösten.
Urplötzlich hörte der Wind auf. Feng stand auf. Weiche Federn streiften sein Gesicht. Und fauliger Gestank, nur allzu vertraut.
»Vorsicht Samhiel, das…«
»Oh, er weiß es schon«, erklang die modrige Stimme. »Er weiß es schon.«
Agnes sprach nicht, als Kay sie aus dem Büro führte. Er sprach es nicht an. Im Augenblick schien alles aus einem sehr gebrechlichen Gefüge zu bestehen. Und er konnte es mit einer unbedachten Bewegung zum Einsturz bringen. Agnes, Feng, Feline…
Er hatte den Arm der jungen Frau gefasst und sie folgte ihm, den Blick auf den Boden gesenkt. Als sie vor dem Büro standen, platzte es doch aus ihr heraus: »Warum war er wieder bei mir? Was ist hier los? Du hattest versprochen, dass es vorbei wäre!« Sie hatte jegliche Zurückhaltung verloren. Kay wusste nicht, ob es an ihrem fast stattgefundenem Kuss oder ihrer Angst lag.
»Ich sagte, dass ich denke, dass es vorbei ist. Nicht, dass ich es wüsste.«
»Du hast mich angelogen!«
Kay wollte etwas erwidern, schwieg aber lieber. Er hatte tatsächlich gedacht, dass es vorbei wäre. Angesichts Agnes Angst fühlte er sich hilflos. Alles was er für sie tun konnte, war sie in Sicherheit zu bringen, bis er Roumond gefunden hatte. Und damit hoffentlich auch Feng.
Agnes hatte sich abgewandt und stand mit dem Rücken zu ihm. Kay tastete in seiner Tasche nach einem kleinen Fläschchen.
Sie sah auf, als er sie an der Schulter berührte. »Ich weiß, dass du Angst hast«, sagte er leise und Agnes sah wieder zu Boden. Als er sie an sich zog und ihr durch das Haar fuhr, wurden ihre Augen groß. »Ich will dir diese Angst nehmen. Aber es braucht noch Zeit. Nicht mehr viel, das verspreche ich. Vertrau mir.«
Er sah ihr an, dass sie protestieren wollte. Vielleicht ahnte sie auch, was er vorhatte. Sicher würde er es nie wissen, denn die geöffnete Flasche aus seiner Manteltasche war durch die Umarmung direkt unter ihrer Nase. Agnes große Augen sahen ihn an und verdrehten sich. Ohnmächtig brach sie zusammen.
Es brauchte eine kurze Handbewegung und sie waren in seinem Garten. Agnes würde lange schlafen. Hoffentlich auch lang genug, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine Fehler zu korrigieren und endlich das zu tun, was er tun musste.
Als er ihren Körper in das weiche Gras legte, fiel ihm etwas ein. Er wechselte wieder die Ebene und kehrte ins Büro zurück. Der Ficus stand noch immer auf Felines Schreibtisch. Seltsam. Seit seiner Ankunft hatte das Bäumchen nicht geredet.
»Wo bringst du mich hin?«, ertönte die quengelnde Stimme des Ficus. Kay sah auf das Bäumchen. »Hast du etwa bis jetzt geschlafen?«
»Was hätte ich sonst machen sollen?«
»Feline war im Büro. Hast du das überhaupt bemerkt?«
»Das würde zumindest erklären, warum ich so gut geschlafen habe«, nuschelte der Hausgeist.
Kay schnaubte und drückte den Topf fester an sich.»Ich bringe dich in meinen Garten. Die junge Frau dort obliegt jetzt deiner Obhut.«
»Ist es Feline?«
»Nein.«
Der Baum raschelte empört. »Ich bin IHR Hausgeist.«
»Du hast ihren Besuch verschlafen«, erinnerte Kay ihn sanft.
»Das heißt nicht, dass du mich für deine anderen Frauen missbrauchen kannst.«
»Das sind nicht »meine Frauen«, presste Kay hervor. »Also merk dir: sie wird schlafen, aber sollte sie aufwachen, darf sie weder etwas von dort essen noch trinken. Ist das klar?«
Das Bäumchen seufzte. »Gut.«
Kay brachte es in sein Reich und der Ficus gab ein zufriedenes Seufzen von sich. »Und das ist wirklich alles deins?«
Kay setzte den Blumentopf neben die schlafende Agnes unter den Schatten einer Baumkrone. »Gib gut auf sie acht«, warnte er die Pflanze noch einmal, ehe er beide verließ.
Vor dem Lagerhaus parkte Felines Wagen, aber von der jungen Frau selbst war nichts zu sehen. Kay hatte so etwas erwartet, unterdrückte aber trotzdem einen Fluch.
Der Fey ging zum Tor und fand es offen vor. Anscheinend konzentrierte sich das Verschwinden vieler Personen an diesem Ort. Erst Ariens Leiche, dann Feng… er konnte nur hoffen, dass es bei Feline anders war.
Als er durch den Torbogen schritt, blieb er stehen. Etwas war seltsam. Er spürte Kraft, Magie, konnte sie aber nicht einordnen. Das war ihm fremd und nichts, womit er sich auskannte. Doch trotz dessen war da ein winziger Funken Vertrautheit.
Kay blieb stehen und versuchte sich an diesem dünnen Faden festzuhalten. Etwas Vertrautes, sehr schwach. Und er hatte es erst vor kurzem gespürt.
In Gedanken ging Kay alle Orte und Personen der letzten drei Nächte durch. Er hatte alle gekannt, bis auf – Samhiel.
Kay fuhr sich über die Mundpartie. Der Engel! Es war die gleiche Kraft. Verwischt und untersetzt mit dunkleren Tönen. Aber eindeutig eine Kraft, die weder Fey noch Grenzgängern zur Verfügung stand. Kein Wunder, dass Kay es nicht sofort hatte einordnen können. In seiner Welt gab es keine Engel, keine Dämonen. Worüber man sich dort Sorgen machte, waren wildgewordene Trolle oder machtgierige Unseelie-Sidhe, aber nicht Himmel und Hölle.
Er kniete sich auf den Boden und berührte ihn mit den Fingerspitzen. Es war schwer Erde anzurufen, wenn sie unter Beton und Stein versteckt war. Im Augenblick hatte er jedoch keine Wahl. Die Magie war dementsprechend schwach, musste aber reichen.
Kay fing etwas von der fremden Macht auf. Das Körnchen schloss er in die Magie ein und nährte es, bis es groß genug war, dass er die Präsenz deutlich ausmachen konnte.
Er ließ ihm einen Augenblick um noch größer zu werden, ehe er es freiließ.
Wie von einem dünnen Faden gezogen, ließ sich dieser Schatten der Magie durch die Luft gleiten, und Kay folgte ihm so rasch wie möglich. Das Fünkchen flog durch die Nacht und achtete weder auf Straßen, Kreuzungen noch hupende Autos. Meist hupten diese, weil Kay einfach über die Straßen lief, und dabei jegliche Verkehrsregeln missachtete.
Das winzige Glühen wurde schwächer. Kays Magie war Feymagie und hatte nur funktioniert, weil er sich an der Kraft der menschlichen Erde bedient hatte. Aber selbst diese Kraft reichte nicht ganz aus. Er lief schneller, aber es war zu spät. Gerade als er einen Parkweg verließ, verlosch das Glimmen gänzlich.
Er blieb stehen und versuchte zu Atem zu kommen. Der Fey stützte sich auf seine Knie und rang nach Luft. Das war es gewesen. Hier endete seine Spur. Das Glimmen war verloschen und er wusste nicht wie nah oder fern er seinem Ziel war.
Frustriert wollte er sich abwenden und zum Lagerhaus zurückkehren, als er aus den Blickwinkeln ein bekanntes Gebäude sah. Er lief los und rannte an mehreren großen Büschen und Bäumen vorbei, durch die er etwas aufblitzen sah. Abrupt blieb er schließlich stehen.
Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm zeichnete sich, von einigen Außenlampen beleuchtet, das Bordell des Herrn des Leids ab.