Kapitel 20
Es war früher Abend, als ich mich wieder derart im Griff hatte, dass ich nicht bei jedem Atemzug in Tränen ausbrach. Samhiel hatte den ganzen Tag an meiner Seite gesessen und mich getröstet. Gesprochen hatte er kein Wort und ich war dankbar dafür.
Ich stand auf und ging ins Bad, um mir das verquollene Gesicht zu waschen. Den Blick in den Spiegel mied ich. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Samhiel noch immer auf dem Sofa und betrachtete die Krötenstatue. Ich setzte mich neben ihn. »Sie sagte, es sei ein Geschenk. Vielleicht würde sich irgendwann wirklich ein Hausgeist darin einnisten.« Ich lächelte schwach.
Samhiel drehte die Statue in den Händen. »Es war kein Hausgeist darin«, sagte er schließlich. Er seufzte. »Feline, es gibt viel, was du erfahren musst, aber ich fürchte, jetzt ist der falsche Zeitpunkt dafür.«
Ich putzte mir die Nase. »Samhiel – was willst du hier?«, fragte ich gepresst.
Er stellte die Statue wieder auf den Tisch. »Ich will bei dir sein«, sagte er schlicht.
Überrascht ließ ich meine Hand aus meinem Haar gleiten. »Warum?«
Der Engel lehnte sich zurück, den Hinterkopf auf die Sofalehne gestützt und die Augen geschlossen. Das Geräusch seiner Flügel war bereits vor einiger Zeit verstummt. Ohne es wirkte Samhiel unglaublich erschöpft.
Er schlug die Augen auf und setzte sich gerade hin. Sein Blick ging aber nicht zu mir, sondern in die andere Richtung, aus dem großen Fenster zum Balkon hinaus.
»Du hast Recht, ich habe etwas mit dir gemacht. Und auch mit Arien.«
Ich runzelte die Stirn. »Was?«, fragte ich drängender. »Was hast du mit uns gemacht?«
»Etwas falsches, aber…« Er stöhnte leise auf und fuhr sich mit den flachen Händen über das Gesicht. »Ich wurde damals geschaffen, als Seraphim, als jener, der die Dummheit tilgt.« Die dunklen Augen wurden leer, als er wieder zu mir sah. »Das war, als ER noch im Himmel regierte und Luzifer noch in der Hölle.«
»Ist dem nicht mehr so?«
Samhiel schüttelte den Kopf und ich hatte das Gefühl, dass er mir gerade unglaublich ähnlich war. Wir hatten beide das Gleiche verloren.
»ER ist fort. Luzifer ebenso. In SEINEM Reich ist alles, was über die Heerscharen regiert, Engel. Dumme ignorante Engel. Gott hat den Himmel verlassen und uns Engel dort zurückgelassen.«
Samhiels Schultern sackten nach vorn. Ich wollte ihn berühren, aber etwas hielt mich davon ab. Noch hatte er mein Mitleid nicht verdient.
»Es ist furchtbar, wenn dort, wo SEINE Anwesenheit war, plötzlich nur noch uralte Regeln Platz nehmen. Aller Trost ist fort, Feline. Ich konnte dir wenigstens eine alte Erinnerung davon geben, nur noch ein Schatten von dem, was er uns einst gewährte. Aber das habe ich nicht mehr. Keiner von uns.«
Das war es, was ich in seinem Blick gesehen hatte. Ich sah zu Boden.
»Ich konnte es nicht mehr hinnehmen. Es ist zu viel. Deswegen habe ich…« Er rieb sich über die Stirn. »Ich habe das Wort Gottes gestohlen.«
»Welches Wort?«
»Den Anfang. Das, womit alles begann. Das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Das ist es, was geschrieben steht.« Er atmete tief ein. »Das erste Wort ist der Ursprung allen Lebens und es blieb, nach SEINEM Weggang, in der Obhut der Engel. Bis ich es ihnen stahl.«
Ich kaute nachdenklich an meiner Daumenkuppe, sorgfältig darauf bedacht, mich nicht wieder zu verletzen. Es half mir, nicht einfach loszuschreien. Samhiels Erklärung klang so absurd. »Und was erhoffst du dir davon?«
»Veränderung«, erwiderte er. »Dieses Wort hat die Macht, diese Welt zu verändern. Ihr habt sie mit euren Vorstellungen zwar so geschaffen, wie ihr sie haben wollt, aber möglich macht das nur SEIN Wille. Das war SEIN Geschenk an euch.«
»Ich bin keine Christin«, sagte ich und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne.
»Dazu muss man kein Christ sein.« Samhiel lächelte schwach. »Die Welt ist für jeden anders, je nachdem, was er in seinem Herzen glaubt. Menschen sind in dieser Hinsicht außergewöhnlich.« Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die langen Haare. »Das ist es, was euch ausmacht. Ihr glaubt, egal ob ihr wollt oder nicht. Es gibt immer irgendetwas, dass die Welt um euch herum definiert. Du bist in dieser Welt groß geworden. Arien in einer ganz anderen.«
Ich schluckte hart und nickte.
»Deswegen habe ich das Wort auch euch beiden gegeben.«
Meine Augen wurden groß und mein Kopf ruckte herum. »Uns?!«
»Du trägst es in dir; zumindest einen Teil davon. Arien gab ich die Statue, mit einem Hauch von dem, was ich dir gab.« Seine Hand fuhr über sein Kinn. Es kratzte leise. Ein dunkler Bartschatten lag auf seinem Gesicht.
Samhiel sah mich an. »Ich dachte, du könntest das Wort bedenkenlos tragen, weil du Fey, Grenzgänger und menschliche Teile in dir vereinst. Bei nur einem oder zwei Teilen hätte es nicht funktioniert. Aber Arien war wohl zu neugierig…«
»Was ist mit ihr passiert?«
Er verschränkte seine Finger ineinander. »Sie hat gedacht, es wäre sicherer, wenn sie ihren Teil des Wortes in sich versteckt. Doch es gibt genug Kreaturen, die das Wort suchen, nachdem es aus dem Himmel verschwunden ist.«
»Aus der Hölle?«
»Auch. Das Wort hat die Macht eure Welt nach Gutdünken zu verändern. Was denkst du passierte, als die himmlischen Chöre und der ganze dreckige Rest der Engelsbrut herausfanden, dass es fehlte?«
»Du bist doch selbst ein Engel?« Wenn das alles stimmte… stimmte im Himmel nichts mehr.
»Ja, einer der letzten, denen tatsächlich etwas an euch gelegen ist. Nicht nur daran, euch zu regieren.«
Ich atmete tief ein. »Du hast mir nicht beantwortet, was mit meiner Mutter passiert ist.«
Samhiel nickte leicht. »Anscheinend wurde einer der Jäger auf sie aufmerksam. Kein Engel, das zumindest ist sicher, denn sie dürfen nicht töten. Aber jemand in seinem Auftrag oder von einer ganz anderen Seite.«
»Kay sprach von einem Vampir«, warf ich ein und legte mir die Hand in den Nacken. Mein Schädel pochte.
»Dann nur einer, der einen Hinweis bekommen hat. Keine Kreatur dieser Welt hätte von dem Wort wissen können.«
Ich fuhr mir über die Stirn. Mein Kopf fühlte sich mittlerweile an als würde er jeden Moment explodieren. »Und wieso bin ich jetzt so?«
»Das Wort ist der Ursprung allen Lebens. Anscheinend hatte es eine belebende Wirkung auf das, was in dir schlief.« Er wich meinem Blick aus. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten.
Ich zog die Knie eng an den Leib und schlang die Arme darum. »Ich will es nicht«, sagte ich.
»Ich will weder dieses Aussehen, noch den Blutdurst oder den ganzen Mist. Nimm es wieder.«
»Ich kann nicht.«
»Was soll das heißen?« Ich setzte mich mit einem Ruck kerzengerade hin und starrte ihn an. »Du hast mir dieses… Ding eingepflanzt, du musst auch wissen, wie du es wieder herausbekommst!« Ich schrie fast.
»Ich weiß nicht, ob es alles rückgängig machen würde, selbst wenn ich es dir wieder nehme.« Samhiel seufzte abermals. »Feline, wenn ich dir dieses Wort wieder nehme, werden die Engel und jeder andere, der es jagt, auf dich aufmerksam. Das kann ich nicht verantworten. Es ist mir unmöglich…«
»Unmöglich?« Ich konnte mich nicht beruhigen. Ich konnte einfach nicht den Rest meines Lebens als Freak herumlaufen!
»Ja, es tut mir leid. Die einzige Möglichkeit für dich, es loszuwerden, wäre, es direkt zurück zu seinem Schöpfer, zu IHM zu schicken. Aber dafür müsstest du sterben.« Samhiel sah aus, als würde es ihn umbringen, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.
Ich lachte bitter und sah rot. »Wunderbar. Also muss ich mich selbst opfern, wenn ich es loswerden will? Wer sagt dir, dass ich die Spielregeln nicht einfach ändere? Immerhin habe ich jetzt das Wort Gottes, oder? Ich kann also tun und lassen, was mir gefällt!«
»Feline«, Samhiels Stimme klang warnend, »bedenke, was du da gerade sagst.«
»Anscheinend genau das richtige. Davor hast du Angst, oder? Deshalb bist du wieder da! Damit ich nicht austicke und vielleicht die ganze Welt in Schutt und Asche lege!«
Seine Augen wurden schmal. »Was für ein Unsinn! Selbst, wenn du wolltest; du kannst das Wort nicht benutzen.« Dann schüttelte er den Kopf und sah wieder weg. »Ich bin hergekommen, weil du mich brauchtest.« Er schwieg einen Augenblick lang. »Und weil ich dich brauche.«
Meine Stirn drückte ich hart gegen meine Knie. »Ich… ich weiß nicht, was ich brauche.« Langsam verflog meine Wut und ließ mich ausgebrannt zurück. »Hilfe, vielleicht.«
»Deswegen bin ich hier.« Seine Worte waren wieder sanft wie zuvor.
»Und wieso sagst du dann, du bist gekommen, weil du bei mir sein wolltest?«
Samhiel lächelte. »Ich dachte, wenn ich schon derart sündige, kann ich es auch mal mit der Wollust ausprobieren.«
Einen Augenblick lang sah ich ihn fassungslos an. Dann lachte ich. Ich lachte laut und es schrillte in meinen Ohren. Lachtränen flossen über meine Wangen und ich konnte nicht aufhören. Nicht einmal, als aus dem Lachen wieder Schluchzen wurde.
Samhiel zog mich zu sich, um mich zu beruhigen. »Ich wollte dich wieder sehen, weil du den Schmerz etwas gelindert hast«, murmelte er in mein Haar. Die Augen geschlossen, kämpfte ich noch immer mit den Tränen. Auch wenn ich diesen Kampf verlor, bekam ich wenigstens das krampfartige Schütteln wieder in den Griff.
»Wir leiden, wenn wir vom Himmel fort sind«, fuhr Samhiel leise fort. »Aber in deiner Nähe habe ich das für einen Augenblick vergessen können. Ich habe gehofft, dass es wieder so ist, wenn ich dich noch einmal sehe.«
»Und? War es so?«, murmelte ich.
»Es war noch mehr als das.«
»Dann sind wir quitt«, erwiderte ich leise, löste mich aber nicht von ihm. Ich sah auf die Kröte, während er über mein Haar streichelte. »Was ist eigentlich mit dem Teil des Wortes passiert, den du meiner Mutter gegeben hast?«
»Es ist zu Gott zurückgekehrt. Ich sagte dir doch, wenn du stirbst, kehrt es zu seinem Schöpfer zurück. Bei Arien war es ebenso.«
Der Gedanke an meine Mutter ließ allen Schmerz wieder aufwallen. »Vielleicht sollte ich auch…«
»Nein, Feline.« Er strich mir beruhigend über die Schulter. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich tötest, oder dass dir irgendjemand etwas antut. Das kann ich nicht.«
Ich nickte nur und hob den Kopf, strich mir dabei das Haar über die Schulter. »Ich gehe jetzt duschen.«
Mein plötzlicher Gemütswandel schien den Engel zu überraschen. »Und dann?«
»Dann gehen wir auf Mörderjagd.«
Feng hatte es nach langer Zeit geschafft, in eine aufrechte Position zu kommen. Im Augenblick versuchte er seine Handfesseln in den Mund zu bekommen. Doch seine Zunge schmeckte die Wahrheit: ein haariges Seil. Es war weich.
Stöhnend ließ er schließlich den Kopf wieder zurücksinken. Roumond oder sein stinkender Begleiter kannte sich mit Seinesgleichen verdammt gut aus. Der Vampir hatte ihn mit Seil aus Menschenhaar gefesselt. Nicht einmal mit einem Messer konnte Feng das lösen. Er stieß einige chinesische Flüche aus, die viel mit Roumond und dem Hinterteil diverser Paarhufer zu tun hatten, ehe er die Beine an den Leib zog. Seine Vermutung bestätigte sich – auch die Knöchel waren mit Menschenhaar gefesselt.
Er erstarrte als ein Hauch von verrotteter Luft ihn streifte. »Soll ich dir noch etwas Popcorn zur Vorstellung liefern?«, murmelte er.
»Ich frage mich, aus welchen schlechten TV-Serien du diese Bemerkung hast.« Der Klang der Stimme hatte sich seit dem letzten Hören nicht verbessert. Sie machte noch immer den Eindruck, sich durch alten Schlamm ins Gehör des Drachen zu wühlen.
»Sieh fern, dann weißt du es«, brummte er.
Wind bewegte sich an ihm vorbei. Feng konzentrierte sich darauf.
»Beeindruckend.« Sein Besucher klang nicht so, als würde er das ernst meinen. »Ich hätte gedacht, dass ein Drache des Windes ein wenig mehr Fähigkeiten beweisen würde.«
Feng verzog das Gesicht. »Interessant. Woran dachtest du noch?«
»So einiges.«
Feng schnaufte und ließ sich zurückfallen, bis er eine Mauer im Rücken spürte. »Wo hast du dein Haustier gelassen?«, fragte er.
Die Stimme lachte leise. »Wieso fragst du? Sehnsucht?«
»Eigentlich nicht. Ich höre ihn nur gerne kuschen.«
»Es liegt in seiner Natur.« Die Stimme bewegte sich durch den Raum. Feng musste genau hinhören, um zu ahnen, wo sein fremder Gastgeber sich aufhielt. Noch hatte er nicht genau feststellen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Also wollte er wenigstens über den Standort seines Gegenübers Bescheid wissen.
»Du hast noch nicht gefragt, was ich eigentlich von dir will. Sehr erfreulich.«
»Ich befürchte, ich werde es früher oder später merken, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich eher nicht. Theoretisch brauche ich dich nur tot. Die kleine Blutsaugerin muss ja nicht wissen, dass wir sie mit einem toten Drachen ködern.« Sein Besucher kicherte.
»Und warum…«, Feng unterbrach sich selbst. »Kay findet die Spur nicht, wenn ich tot bin.«
»Die Haarsträhne, ja.« Die Stimme wirkte amüsiert. »Kay bringt Feline zu uns und sie bringt uns unser Geschenk. Oder besser gesagt, mein Geschenk.«
»Und was soll das sein?«
»Für dich wäre es ohne Bedeutung.«
Plötzlich war der Gestank überall. Feng rang nach Luft. Seine Nase wurde mit den Eindrücken von vergammelndem Fleisch und staubigen, schimmeligen Büchern überflutet. Zum ersten Mal war er froh, dass man ihm die Augenbinde angelegt hatte. Was auch immer das für ein Geschöpf war; er wollte nicht wissen, was einen solchen Geruch ausströmen konnte.
Etwas wie ein langer, dürrer Zweig strich über seine Schläfen und die geschlossenen Augenlider.
Würgend riss Feng den Kopf zur Seite und erbrach sich.
Der Gestank wurde schwächer, dafür stach Feng jetzt der Geruch seines eigenen halbverdauten Mageninhalts entgegen. Er drehte den Kopf zur Seite und keuchte.
»Siehst du? Das ist deine Welt – Fleisch, Knochen und ein paar Brocken Mageninhalt. Du hast Glück, dass du unter dem Zeichen eines anderen Gottes geboren bist als dem des meinen.«
»Und… welcher verfluchte… Gott soll das sein?«, würgte Feng hervor.
»Der der Christen.«
Feng lehnte mit dem Hinterkopf gegen die kühle Wand. Der Gestank entfernte sich langsam von ihm – als hätte sich sein Verursacher erst vor- und dann zurückgebeugt. »Was hat Feline damit zu schaffen?«, murmelte Feng. Der saure Geschmack in seinem Mund ließ ihn wieder würgen.
»Ah, nun beginnen wir also mit den Fragen. Sehr schön.« Die Luft bewegte sich.
»Du hast mir meine Frage nicht beantwortet!«
»Das war auch nie meine Absicht. Dein Wissen würde dir nichts nützen.« Die Stimme wurde schwächer. »Du bist ohnehin schon tot. Und bald gehörst du ganz mir. So wie die anderen auch.«