Kapitel 17
Kay knallte den Hörer auf die Station und versuchte, Fengs Handy zu erreichen. Es klingelte, aber selbst nach über einer Minute meldete sich niemand. Feng ließ seine Mailbox für gewöhnlich eingeschaltet, wenn er das Handy nicht benutzen konnte, aber sie sprang nicht an.
Kay stand auf und griff nach seinem Mantel. Wieso schien er gerade der Einzige zu sein, um den man sich keine Sorgen machen musste?
Der Ficus rief ihm irgendetwas zu, aber Kay ignorierte es. Ein kurzes Prickeln lief über seine Haut, als er die magische Barriere passierte, die einen Schlüssel oder eine Alarmanlage für das Büro unnötig machten.
Feng hatte das Gespräch einfach abgebrochen, was bedeutete, dass irgendetwas passiert sein musste und er in Schwierigkeiten steckte. Feline war irgendwo in der Stadt, und entweder war sie bereits ganz in ihre Rolle als Vampir verfallen oder wurde über ihre Veränderung langsam wahnsinnig. Und Arien…
Kays Schritte verlangsamten sich unmerklich, als er an Felines Mutter dachte. Sandra hatte gesagt, dass sie in Schwierigkeiten war. Sie konnte sie nicht finden, egal womit sie suchte. Das war nur möglich, wenn Arien im Koma lag oder tot war. Kay hoffte, dass es sich nicht um Letzteres handelte.
Er ging die Feuertreppen hinunter, während er die Taxizentrale anrief.
Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis er den Umgang mit einem normalen Telefon von Feng erlernt hatte. Kay dachte nicht gerne an seine Hilflosigkeit mit der Technik der Menschenwelt aber damals, als beschlossen worden war, das Mittlerbüro einzurichten, hatte er sich damit auseinander setzen müssen. Er schnaubte. Die Benutzung eines Handys hatte weitere lange, mühevolle Tage des Lernens bedeutet, und mit einem Computer hatte der Fey bis heute seine Schwierigkeiten.
Aber jetzt, wo ich mit dem Handy umgehen kann, scheint keine der erreichbaren Personen der Meinung zu sein, ein Gespräch annehmen zu müssen, dachte er grimmig, während er draußen auf das Taxi wartete.
Fünf Minuten später war er bereits auf dem Weg ins Lagerviertel. Er sah auf die Uhr. Kurz vor fünf. Die Sonne würde bald aufgehen, was hieß, er befand sich im Prinzip schon mitten im Morgengrauen. Ideale Bedingungen für jemanden, der aus dem Land des Zwielichts kam. Was für Vampire die Nacht war, war für Fey Morgengrauen und Sonnenuntergang.
Am Zielort angekommen, bezahlte er den Taxifahrer und stieg aus. Vor ihm erstreckte sich eine scheinbar unendlich lange Schlange aus Lagerhäusern; eines heruntergekommener als das andere.
Kay schloss die Augen. Zum Glück ging es hier um Feng, den er suchte, nicht um Roumond. Im Gegensatz zu Sandra konnte er niemanden ohne einen Talisman oder etwas Persönliches dieser Person finden. Eines der kleinen, aber zuweilen doch sehr einschränkenden Gesetze, die ihm auferlegt worden waren, um im Gegenzug in der menschlichen Welt verweilen zu können. Was wären die Fey nur ohne Regeln? Wenn du etwas haben willst, musst du etwas dafür aufgeben. Wenn du in der menschlichen Welt leben willst, musst du Regeln einhalten. So einfach ist das.
Kay versuchte derart zynische Beobachtungen zu unterdrücken und sich auf das zu konzentrieren, weswegen er hergekommen war.
Er schloss die Augen und versuchte, wie schon bei Feline, das bisschen Magie zu finden, das Feng mit sich trug. Da es sich dabei um etwas Haar von Kay handelte, war es leichter – er hatte es Feng schon sehr früh für derartige Notfälle gegeben. Es wirkte wie ein Peilsender.
Vor dem inneren Auge des Fey erschien lange Zeit nur Schwärze. Behutsam setzte er einen Fuß vor den anderen und ließ sich leiten. Mit geschlossenen Augen ging er den zerklüfteten Asphalt entlang, auch wenn er hinter seinen Augenlidern die Straße so deutlich sah, als wäre es helllichter Tag. Im gleichmäßigen Rhythmus drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen, um auch wirklich die gesamte Umgebung absuchen zu können. Schließlich blitze etwas am Rand seiner Wahrnehmung auf und Kay blieb stehen, um sich auf den Punkt konzentrieren zu können Es war nicht das Kleinod, das er Feng gegeben hatte, aber ein schwacher Abglanz davon. Kay schlug die Augen auf.
Die Sonne kämpfte sich in seinem Rücken durch die Nebelschwaden. Er war froh darum, denn so würde er die volle Kraft des Morgengrauens nutzen können.
Der Punkt befand sich jetzt direkt vor ihm und als er durch die offene Tür des Fabrikgebäudes ging, wurde der schwache Glanz der Magie in wenig stärker. Nicht, weil er näher kam, sondern weil Kay seine Kraft besser entfalten konnte. So oft waren dem Fey im Menschenreich die Hände gebunden, nur in diesen wenigen kostbaren Minuten lockerten sich seine Fesseln ein wenig.
Kay schob das Tor so weit wie möglich auf und ging hinein. Er fand die Stelle, an der die Fotos lagen, sehr schnell. Eines davon lugte zwischen den Kisten hervor und er hob es auf. Es war Agnes Bild. Er steckte es ein und strich mit den Schuhspitzen über den Boden. Der Staub war aufgewirbelt worden. Ein Kampf.
Kay kniete sich hin und schnupperte. Der scharfe Geruch von Schießpulver stieg ihm in die Nase. Wahrscheinlich von Fengs Waffe.
Er entdeckte die restlichen Bilder, hob sie vorsichtig auf und steckte sie zu den anderen, ehe er sich wieder aufrichtete. Langsam ging Kay weiter, sich aufmerksam umsehend. In diesem Teil des Lagerhauses war keine Spur von irgendwelchen Personen zu erkennen. Der Staub war nicht angerührt worden.
Kay hob die Hand und pflückte einen der Sonnenstrahlen aus der Luft. Er schob ihn mit konzentrierter Miene zusammen, als wäre er Ton, knetete und drückte ihn, bis er sich zu einer winzigen Kugel aus goldenem Sonnenlicht geformt hatte. Die Kugel warf er mit einem Murmeln in die Luft. Dort blieb sie hängen, wie von unsichtbaren Fäden gehalten, und streckte blitzartig mehrere Fühler aus. Wie Blitze tasteten sie sich über den Asphalt, die staubigen Planen, den Boden. Die Prozedur wiederholten sie, bis einer von ihnen gleißend aufleuchtete und ein weiterer schwach glühte. Die restlichen Tentakel verschwanden sofort, ebenso wie die Kugel. Aber das genügte.
Kay schob hastig einige Kisten beiseite, bis er an die gegenüberliegende Wand gelangen konnte. Dort, wo der schwächere Tentakel aufgeglüht war, lag eine Reisetasche. Sie war nicht besonders groß und es befand sich nicht viel mehr darin als einige Amulette und geschnitzte Anhänger. Er ließ sie wieder sinken und näherte sich der Stelle, auf die der größte Tentakel gedeutet hatte. Dort war eine große Holzkiste, die direkt an die Wand gerückt war. Weder dahinter noch daneben befand sich etwas interessantes, auch nicht, als Kay sie von der Wand wegrückte.
Etwas fiel im Innern der Kiste mit einem dumpfen Pochen zur Seite.
Kay zögerte. Er ahnte etwas, hatte es bereits, als er die Kiste verschoben hatte. Und wegen dieser Ahnung fürchtete er sich auch vor dem, was er sehen würde, wenn er den Deckel öffnete.
Das war der Nachteil des Zwielichtes: die Magie setzte mit aller Macht ein, und ließ sich nicht mehr kontrollieren.
Ich bin schon viel zu lange in dieser verfluchten Welt, dachte Kay, während er den Deckel vorsichtig anhob. Er gehörte zu einer einfachen Pressholzkiste, deren flachen Deckel man bei längeren Transporten mit Nägeln befestigte. Hier hatte man darauf verzichtet. Kay hob den Deckel der Kiste an und schob ihn zur Seite. Mit einem dumpfen Klappern fiel er auf den Boden. Es hallte überlaut im Lagerhaus wieder.
Der Fey beugte sich dann vor, um ins Innere der Kiste zu spähen.
Feng war wach, aber er konnte die Augen nicht öffnen. Als er es versuchte, durchzuckte heißer Schmerz seine Augenlieder, weswegen er es bei einem Versuch beließ. Stattdessen bewegte er erst vorsichtig die Arme, dann die Beine. Sowohl Hand- als auch Fußgelenke waren gefesselt. Er lag und hatte seine geballten Fäuste auf dem Bauch. Soweit er es bisher fühlen konnte, tat ihm, bis auf die Lider, nichts weh. Trotzdem atmete er unmerklich flacher. Da er nichts sehen konnte, wusste er auch nicht, wo er war oder ob jemand ihn beobachtete.
Der Drache versuchte, jeden Anflug von Angst oder Panik zu unterdrücken. Irgendjemand… irgendetwas hatte ihn überwältigt, soweit erinnerte der Hüne sich noch. Gesehen hatte er nicht viel. Nur zwei glühend-rote Punkte, wie aufgerissene Augen.
Roumond musste einen Partner haben, auch wenn Feng sich nicht erklären konnte, wie der in das Lagerhaus gekommen war. Wenn er bereits vorher drin gewesen war, wäre es dem Drachen aufgefallen. Reinschleichen war auch unmöglich – während seiner ganzen Zeit im Lager hatte er die Tür im Blick gehabt. Und als Roumond aufgetaucht war, hatte Feng nichts gesehen. Oder doch? Was war mit dem Schemen gewesen? Bisher hatte Feng ihn für Roumonds Silhouette gehalten, aber wenn er sich irrte?
Eine Tür wurde aufgeschoben und die näherkommenden Schritte hallten. Es musste ein leerer Raum sein, in dem er sich befand.
»Ich hoffe, du bist mittlerweile aufgewacht, Drache«, verkündete Roumonds exotisch angehauchte Stimme. Etwas schabte und dann raschelte Kleidung. Der Vampir hatte sich hingesetzt.
»Leider kann ich das nicht kontrollieren«, fuhr Roumond im Plauderton auf und stieß Feng mit dem Fuß in die Seite. Der stöhnte leise auf. »Wir mussten dir die Augen verkleben. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, damit du nicht den ausgefallenen Vorlieben meines Partners zum Opfer fällst.«
Wieder antwortete Feng mit einem Stöhnen als er bemerkte, warum er die Augen nicht öffnen konnte – Roumond hatte ihm Panzertape über die Augen geklebt.
»Soll ich dir davon erzählen?«, erkundigte der Vampir sich leutselig. Wieder raschelte Stoff und der Gestank von abgestandenem Blut schlug Feng entgegen. Roumond hatte sich herab gebeugt. Feng rollte sich auf die Seite.
»Anscheinend nicht. Schade. Ich komme in letzter Zeit nicht dazu, viel Konversation zu betreiben.«
»Kann mir gar nicht vorstellen, wieso«, murmelte Feng. Endlich setzten die weltlichen Einflüsse wieder bewusst ein – und mit ihnen die Kälte. Anscheinend lag er auf nacktem Boden und so wie es sich anfühlte, war der keine Verbesserung zu dem im Lagerhaus.
»Amüsant«, bemerkte Roumond trocken. »Möchtest du mich nicht wenigstens fragen, warum du noch am Leben bist?«
»Mitternachtsimbiss?«, riet Feng. Er wollte nicht reden, auch wenn es ihn interessierte, warum der Vampir ihn verschleppt hatte. Und erst recht wollte er nicht fragen, was das für ein rotäugiges Ding gewesen war, das die Silber-Eisen Kugeln mit einer solchen Leichtigkeit weggesteckt hatte?
»Du wirst nicht als Komiker bezahlt.« Roumonds Stimme wurde langsam schneidend.
»Also scheidet das auch als Grund aus.« Feng lachte freudlos.
»Ich kann dich auch einfach hier unten verrotten lassen.«
»Ich denke nicht.« Feng drehte sich wieder auf den Rücken. »Du hast mich hierher gebracht, weil du irgendetwas vorhast. Ansonsten hättest du mir schon im Lagerhaus die Kehle aufgerissen.«
Roumond kicherte wieder. »Ja, das Lagerhaus… Aber natürlich hast du Recht. Ich, nein, wir brauchen dich noch.«
»Und wozu?«, fragte der Drache schließlich doch entgegen besseren Wissens.
»Hast du die Fotos gesehen?« Stuhlbeine scharrten über den Boden und rhythmisches Klopfen deutete auf einen Takt hin, der mit der Schuhspitze geschlagen wurde.
Feng brummte eine Zustimmung.
»Dann kannst du es dir nicht denken?«
Feng seufzte. »Welche von den Dreien willst du haben?«
»Oh, frag lieber, welche von den Dreien ich noch nicht gehabt habe.«
»Agnes lebt noch und Arien ist verreist.« Feng musste sich beherrschen, um nicht einfach wie ein Tier loszubrüllen. Roumonds Worte hatten einen empfindlichen Punkt getroffen.
»Damit beantwortest du deine Frage selbst.«
Feng schluckte und versuchte zu verstehen, was Roumond meinte. Arien war außer Landes, aber Agnes hätte er ohne weiteres angreifen können. Trotz allem lebte sie noch. An Feline würde er keinen Gefallen mehr finden – Vampire bissen nur ungern andere ihrer Gattung.
»Feline ist ein Vampir«, sagte er.
Roumond stand auf. Der Stuhl glitt mit einem schrillen Quietschen zurück. »Tatsächlich? Umso besser. Viel macht es jetzt ohnehin nicht mehr aus.«
»Ich nehme an, dann willst du nicht ihr Blut? Was willst du dann von den Dreien?«
»Blut! Das ist alles, woran ihr denken könnt!«, schnappte Roumond. Seine Stimme klang schrill. »Blut saufen, jagen, eure kleinen Kulte und Geheimnisse pflegen – mehr ist in eurem verrottetem Gehirn nicht zu finden!« Der Stuhl knallte hörbar an die Wand. »Das ist nicht natürlich! Das war nicht geplant!«
»Ebenso wenig wie der Kappa?«, riet Feng.
Roumond schnaubte und seine Stimme überschlug sich. »Er hat sie angefasst – er hätte sie getötet!«
Feng verhielt sich während dem Ausbruch des Vampirs still. Langsam gewöhnte er sich an die Umgebung und damit auch an deren Luftverhältnisse. Seine Familie hatte schon immer eine besondere Affinität zu diesem Element gezeigt. Es stand Feng offen, diese Gabe zu nutzen, aber es bedeutete auch, dass er sich stärker auf die animalische Seite in sich konzentrieren musste. Etwas, was ihm in einer solchen Situation, in der er einen kühlen Kopf bewahren musste, gefährlich schien.
Langsam tastete er sich heran. Die Luft bewegte sich einige Meter von seiner Seite. Roumond lief hin und her und ließ weitere Beschimpfungen gegen Bluttrinker los. Feng blendete es aus und tastete sich weiter vor. Die Luft nahe der Haut des Vampirs war erhitzt. Offensichtlich war Roumond wütend. Feng ließ seine Sinne weiter wandern. In einer Ecke des Raumes stand die Luft still. Eigentlich sollte sie durch Roumonds Bewegungen in Schwingungen gebracht werden. Aber nichts. Die einzelnen Partikel schwebten tot in dieser Ecke.
Der Drache atmete tief ein. Dort, ganz schwach, roch er den Gestank von Verfall, verrottendem Laub und Alter. Das rotäugige Etwas aus dem Lagerhaus.
Roumond bemerkte, dass Feng ihm nicht mehr zuhörte. Dessen reglose Erscheinung verunsicherte ihn; Feng konnte es an der Stimme hören. »Was machst du da?«
»Mich auf unseren Besucher konzentrieren«, erwiderte der Drache leise.
»Seit wann bist du hier?«, fragte Roumond, dieses Mal nicht in Fengs Richtung.
»Ich war nie fort.«
Feng schauderte, als er den Klang vernahm. Die Stimme war trocken und schien sich aus etwas Totem heraus zu quälen. Ein Ding, das vor Jahrtausenden gelernt hatte zu sprechen, und seit mindestens ebenso langer Zeit vor sich hinfaulte. Das Bild brachte den Drachen dazu, zu schaudern.
»Ich will nicht, dass du etwas derartiges tust!«, verlange Roumond. Er wollte fest klingen, aber selbst Feng entging der schrille Unterton nicht. Roumond hatte Angst.
Die ekelerregende Stimme schwieg.
»Verschwinde!«, bellte Roumond, von dem Schweigen motiviert, und Feng fühlte, wie sich die tote Luft bewegte und an ihm vorbei huschte. Ein Schwall des Gestanks wurde hinter dem Ding hergezogen und der Drache atmete durch den Mund, auch wenn es nicht viel nutze.
»Hast du dir mehr aufgeladen, als du halten kannst?«, fragte er gehässig in Richtung Roumonds. Noch war das Monstrum nicht ganz verschwunden und Feng wollte, dass es seine Worte hörte.
»Nein!«, brüllte der Angesprochene ihn an. Anscheinend hatte er keinerlei Macht darüber, ob er seinen Partner sah oder nicht. Der musste also etwas mit seiner Gestalt anstellen können.
»Das wirkte aber nicht so.«
»Halt den Mund!«, schrie Roumond.
»Du …«
Ein Tritt ließ Fengs Kopf zur Seite fliegen. Benommen nahm er die folgenden, raschen Schritte wahr. Das Geräusch einer schwere Tür, die ins Schloss fiel und abgeschlossen wurde. Dann war der Drache wieder allein.