Kapitel 2
»Wenn ich es dir doch sage, sie ist absolut unwissend.« Kay wiederholte den Satz, den er an diesem Nachmittag schon dreimal gesagt hatte. Sein Partner Feng wirkte nicht so, als wäre er überzeugt.
»Ihre Mutter ist eine Hexe. Verdammt, ihr ganzes Geschlecht sind Hexen! Irgendetwas muss ihr doch mal aufgefallen sein.«
Kay schüttelte den Kopf. »Anscheinend hat ihre Mutter einige wichtige Punkte in ihrer Erziehung einfach unterschlagen. Heutzutage wird der Mondtanz und das zweite Gesicht nicht mehr so ernst genommen wie früher.«
»Ach was, das ist kein Grund!« Feng schnaubte abfällig und lief vor dem großen Fenster im Konferenzraum des Büros hin und her.
»Und Schutz vor den letzten Ausläufern der Unruhen? Vor fanatischen Rassisten oder Gruppen, die noch immer keine Ruhe geben wollen?« Kay schüttelte ohne jeden Spott den Kopf. »Es herrscht Frieden, Feng und vielleicht will Arien ihre Tochter nur schützen.«
»Vielleicht. Aber dann können weder Arien noch du erwarten, dass Feline für uns arbeitet. Sie ist viel zu jung und weiß gar nichts. Wie soll ich ihr in einer Nacht alles beibringen, was sie wissen muss? Vorausgesetzt, dass sie mir überhaupt glaubt.«
»Sie wird dir glauben«, erwiderte Kay überzeugt. »Und den Rest lernt sie noch kennen. Mit dreißig ist man noch wesentlich schneller in seiner Auffassungsgabe, als in meinem Alter.«
»Du vergisst, dass bei Menschen andere Maßstäbe gelten«, knurrte Feng.
Kay zuckte mit den Schultern. »Ich habe kaum mit ihnen zu tun. Wie soll ich da den Überblick behalten?«
Feng seufzte und nahm das Foto auf, das auf dem Tisch lag. Kay beobachtete ihn dabei. Er wusste genau, was Feng sehen würde: Eine junge Frau mit langem, rostrotem Haar, das sie offen trug. Sie lächelte. Feng ließ Felines Foto wieder sinken und Kay sah, dass er die Stirn runzelte.
»Dass sie hübsch ist, hat mit deiner Entscheidung nichts zu tun, was?«
Kay schmunzelte. »Es würde das Arbeiten zumindest angenehmer gestalten.«
Feng verdrehte die Augen. Er öffnete den Mund aber bevor er antworten konnte, klingelte es im Vorraum. Kay stand von seinem Stuhl auf. »Siehst du, dafür brauchen wir sie auch – ich habe keine Lust hier immer die Sekretärin zu spielen.«
Die Frau vor der Tür wirkte, als wäre es ihr unangenehm, überhaupt anwesend zu sein.
»Ja, bitte?«, fragte Kay.
Sie versuchte ein Lächeln, aber es erstarb recht schnell. »Ich bin hier richtig bei der Mittleragentur Triskelion?«
Er nickte. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Das hoffe ich. Obwohl… es ist alles so abstrus!«
»Eigentlich haben wir geschlossen«, erwiderte Kay. Triskelion konnte zwar jeden Klienten brauchen, der kam, aber das hier sah eher nach einem sehr unangenehmen und langwierigem Fall aus. Dem Anschein nach hatte er es mit einer rein menschlichen Frau zu tun. Im Bereich der sterblichen Angelegenheiten also schon die Zweite an diesem Tag.
»Es ist dringend!«, sagte die Dame vor der Tür heftig.
Mit einem innerlichen Seufzen ließ Kay sie herein und bat sie an den gleichen Platz, den er Feline angeboten hatte.
Sie setzte sich und balancierte ihre monströse Tasche auf den Knien. Sie verschwand fast hinter der wuchtigen Henkeltasche und Kay wurde den Eindruck nicht los, dass sie sich dahinter versteckte. Allgemein war ihr Auftreten eher verschüchtert. Feline hatte am Vormittag den Eindruck gemacht, dass sie durchaus mit verschiedenen Problemen und Schwierigkeiten des Lebens fertig werden konnte. Diese Frau hier würde in solchen Fällen eher ohnmächtig zu Boden sinken. Ihre Mimik unterstützte seinen Verdacht. Ein Ausdruck zwischen peinlicher Verlegenheit und Entschlossenheit, die beim ersten Aufkommen von Widerstand seitens ihres Gesprächspartners, aber schnell wieder verschwinden würde.
»Sie sagen also, es ist dringend, Frau…«
»Agnes Marberg«, erwiderte sie. »Ja, es ist dringend. Ich bin ratlos, weil mein Problem sehr heikel ist. Ich befürchte, Sie werden es unglaubwürdig finden.«
»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Probleme zukünftiger Klienten »unglaubwürdig« zu finden«, erklärte Kay ernst und versuchte abzuschätzen, ob sie die Wahrheit sprach oder nicht. Die Frage war, wie hatte sie die Mittleragentur gefunden? Normalerweise kam man nur hierher, wenn man auf irgendeine Art und Weise mit Wesen der Fey oder Grenzgänger zu tun hatte. Diese Frau machte aber keinen sonderlich übersinnlichen Eindruck. Im Gegenteil – das Auffälligste, was sie an Schmuck trug, war ein hübsches Holzkreuz. Der schwarze Rollkragenpullover diente der Kette als Hintergrund. Der erste Blick auf Agnes Marberg führte zwangsläufig sofort auf ihr Glaubensbekenntnis.
»Ich möchte nicht indiskret sein, aber bevor wir ins Gespräch kommen, würde ich gern erfahren, wer Ihnen diese Adresse genannt hat.«
»Schwester Marie aus dem Orden der frommen Töchter, gleich in der Nähe des Stadtzentrums.«
Kay rieb sich über die Stirn. Ausgerechnet. »Gut, darf ich Sie dann bitten zu schildern, wie wir Ihnen helfen sollen?«
Agnes sackte ein wenig in sich zusammen. »Ich hoffe ernsthaft, Sie werden nicht lachen.«
»Ich versichere Ihnen noch einmal, dass ich das nicht tun werde. Ich kann Ihnen aber auch anbieten, mit meinem Partner darüber zu sprechen«, bot er ihr ruhig an.
Agnes Blick huschte zur halboffenen Tür des Nebenraums, durch die Feng gerade den Kopf steckte. Seine breite Gestalt füllte den Spalt vollständig aus.
Kay lächelte. »Er spricht prinzipiell die Wahrheit – ich weiß allerdings nicht, ob er nicht lachen wird. Chinesen besitzen bekanntlich viel Humor.«
Agnes starrte den Hünen an, der wortlos die Arme verschränkte. Die runden braunen Augen wurden noch etwas runder; sie drehte sich hastig wieder zum Schreibtisch um und schüttelte den Kopf. Kay gestattete es sich, sein Lächeln etwas breiter werden zu lassen.
»Gut.« Er nickte Feng zu, der wieder im Nebenraum verschwand. »Erzählen Sie bitte.«
Agnes Marberg atmete tief durch. »Ich habe ein Vampirproblem.« Sie ließ den Satz ein wenig in der Luft hängen und sah Kay erwartungsvoll an. Der blickte sie aber nur ungerührt weiter an und wartete darauf, dass sie fortfuhr, was sie nach einem weiteren Augenblick des Schweigens auch tat.
»Seit ungefähr einer Woche. Anfangs dachte ich, es wäre ein Stalker, aber seit einiger Zeit glaube ich das nicht mehr.« Sie atmete tief durch. »Zuerst bemerkte ich jemanden, der mir hinterher schlich. Ich habe ihn nie wirklich gesehen, aber da war etwas, wenn ich den Kopf drehte. Etwas, dass ich nur aus den Augenwinkeln sah. Mich machte das nervös. Als ich bei der Polizei Anzeige erstellen wollte, wurde mir gesagt, ich solle mich beruhigen, ich wäre einfach überspannt. Also ging ich wieder nach Hause. Aber dann wurde es schlimmer.«
Agnes schloss für einen Moment die Augen und Kay bemerkte die schwarzen Schatten darunter.
»Das Gefühl verfolgt zu werden wurde immer stärker. Mittlerweile wache ich sogar nachts auf, weil ich denke, jemand stünde neben meinem Bett.«
»Aber wenn Sie das Licht anschalten, ist da niemand?«, riet Kay.
Agnes nickte.
»Was macht Sie dann so sicher, dass es ein Vampir ist?«
Sie senkte den Blick. Ihre Hände ließen die Tasche los und schoben den Rollkragen ihres Pullovers tiefer. Auf der linken Seite ihres Halses waren zwei winzige rote Punkte zu sehen.
»Vampire beißen tiefer«, sagte Kay unbeeindruckt, nachdem er sich die beiden Wundmale angesehen hatte.
Agnes braune Augen wurden abermals groß. »Sie glauben mir also?«
»Schwester Marie hätte Sie nicht hierher geschickt, wenn sie nicht auch glauben würde, dass es sich hierbei um etwas Ernstes handelt. Ganz gewöhnlich ist Ihr Fall aber nicht.«
Das Vampiropfer sah Kay fragend an. Der lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Vampire töten ihre Opfer heutzutage nicht mehr. Das erregt zu viel Aufmerksamkeit. Allerdings hat sich diese Unsitte, Frauen nachts in ihrem eigenen Bett aufzulauern, auch verflüchtigt. Der gemeine Blutsauger sucht sich seine Opfer auf andere Weise. Und wie ich bereits sagte, beißen Vampire wesentlich tiefer. Ritzt man die Haut an, erhält man nicht einmal einen Tropfen Blut. Vampire trinken, um zu überleben; zuweilen auch wegen des Geschmacks. Aber dafür muss mindestens ein Mundvoll Blut her. Dieser Tropfen, der durch Ihre Wunde verursacht wurde, dürfte nicht einmal zum Benetzen der Lippen gereicht haben.«
Agnes schob ihren Kragen wieder zurecht. »Und was denken Sie dann?«
»Da Sie auf Ehrlichkeit bestehen: Ich weiß es nicht. Der Verdacht, dass es sich hierbei um einen Vampir handelt, liegt natürlich nahe. Aber es gibt auch andere Nachtwesen, die Blut brauchen. Nicht alle sind mythischen Ursprungs. Vielleicht hat sich auch einfach eine Vampirfledermaus aus dem Zoo in ihr Schlafzimmer verirrt.«
»Jetzt lachen Sie doch über mich!«
Kay schüttelte den Kopf. »Ich versuche, alle Möglichkeiten zu beachten. Aber wenn Sie möchten, können wir das für Sie übernehmen.«
Agnes lächelte zaghaft. »Wirklich?«
Kay musste nun doch lächeln. Mit dem Zopf und dem Lächeln wirkten diese großen Augen sehr kindlich. Der Anblick erinnerte ihn an etwas, aber er konnte nicht genau sagen, an was.
»Was würde mich das kosten?«, fragte Agnes.
Kay nahm eine Akte aus einer Schublade und blätterte sie durch. »In ihrem Fall wäre ich für eine Blutspende dankbar. Ein Liter, zahlbar erst nach Erledigung des Auftrags und natürlich in Raten. Wir wollen ja nicht gieriger als die Blutbank sein. Außerdem 3000 Euro, wovon 1000 Euro angezahlt werden müssen.«
»Blut?«
»Haben Sie damit ein Problem?«
»Nein, ich denke nicht.«
»Sag ihr, sie soll auch Weihwasser besorgen!«, brüllte Feng aus dem Nebenraum. Agnes zuckte zusammen und ließ fast ihre Tasche fallen.
»Gut, dann also noch fünfhundert Milliliter Weihwasser«, fügte Kay hinzu.
Agnes verzog das Gesicht. »Aber wie soll ich das denn besorgen? Ich kann es doch nicht einfach aus dem Becken stehlen?«
Kay tätschelte sie auf die Schulter. »Sie sind Christin – egal was, Ihnen wird ohnehin vergeben werden.«
Agnes stand auf. Sie sah aus, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders und ging wort- und grußlos an ihm vorbei und hinaus.
Kay legte den Kopf in den Nacken und sah an die Decke. Menschen.