Artischocken

Wir überheblichen Menschen dichten den Tieren ja viele falsche Eigenschaften an. Den Esel zum Beispiel halten wir für dumm. Wogegen schon spricht, dass er störrisch sein kann – denn wer lässt sich schon bei klarem »Verstand« freiwillig Lasten aufpacken, die einen gar nichts angehen? So dumm kann er aber nicht sein, denn eine seiner Lieblingsfutterpflanzen ist die Distel. Und das hat er mit den Feinschmeckern auf zwei Beinen gemein. Die lieben die Artischocke wegen ihres unverwechselbaren Eigengeschmacks – und die gehört ja wohl in die Familie der Disteln.

Ich erinnere mich an eine Küchenpleite mit Artischocken, weil mir niemand sagte, wie ich mit dem »Stroh« umgehen sollte und ich nicht den Boden, sondern die fleischigen Blätter für das Nonplusultra hielt. Alles in allem eine ziemlich peinliche Angelegenheit.

Im Haushalt meiner Eltern gab es eine Hausbar, die wir Kinder schon deshalb interessant fanden, weil sie striktes Sperrgebiet war. Bis auf eine Flasche, auf der »Cynar« stand. Die Bitternis dieses Artischockenlikörs haben wir freiwillig gemieden und fanden, dass sie eigentlich in die Hausapotheke gehört.

In unserem heutigen Haushalt gibt es keine Artischockengerichte, weil mein geliebter Küchenmeister darauf quasi allergisch reagiert. Die verdauungsanregende Wirkung dieses Distelgemüses erzeugt bei sensiblen Mägen wie dem seinen eine Blitzrebellion. Muss am Bitterstoff liegen, der für die einen eine Köstlichkeit darstellt und für andere zu viel des Guten ist.

Solche disteligen Artischocken waren auch mir als Halbwüchsigem suspekt, weil ich selbst entscheiden musste, was denn nun essbar ist und was ich besser liegen lassen solle. Das hat mir den Genuss lange Zeit verdorben und mich der Artischocke gegenüber misstrauisch gestimmt. Aber wir beide sind da nicht allein: Von Personen, die sich leicht und an jeder Straßenecke neu verlieben, heißt es in Frankreich, sie hätten ein »Artischockenherz«, »avoir un cœur d’artichaut«. Dieses Gemüse hat halt nur einen delikaten Boden, aber viele Blättchen, an denen man unten ein wenig herumsaugen kann, erklärten mir Pariser Freunde. Personen mit einem Artischockenherz geben wenig, verteilen dieses Wenige aber auch noch an viele gleichzeitig.

Vielleicht habe ich mich deshalb besonders mit Artischockenböden angefreundet. Deren frische Bitternoten passen nämlich gut zur Gänseleberterrine. Ein Scheibchen davon auf einem Artischockenboden ist ein Genuss, das Gericht wurde schon von der berühmten Köchin Eugénie Brazier (1895–1976) aus Lyon serviert. Mit Artischockenböden, getrüffeltem Huhn und Hechtklößen kam der Erfolg: Mutter Brazier wurden 150 000 Dollar Jahresgehalt im Waldorf Astoria in New York und eine Küche aus purem Gold bei einem indischen Maharadscha angeboten. Artischocken mit Gnocchi, Artischockenravioli und Artischockenrisotto sowie ein großer Teller Artischockenbouillon mit Steinpilzen setzten meine Bekehrung zur Distel fort.

Mit der Zeit habe ich dann auch gelernt, dass man beim Einkauf auf den Stängel der Artischocke achten muss. Wenn er sich leicht biegen lässt, ist die Artischocke bereits am Austrocknen. Bricht er, dann ist sie frisch. Auch ihre Blätter sollten beim »Falten« sofort brechen. Zu reife, »offene« Artischocken mit schwarz anlaufenden Blättern sind faserig und hart.

Außerdem sollte man den Stiel an der Tischkante mit einer festen Kreisbewegung abreißen. Wird er mit dem Messer abgeschnitten, können bittere Fasern im Herz verbleiben. Artischocken oxidieren ganz schnell, man sollte sie deshalb in Zitronenwasser tauchen und nach der Zubereitung zügig verzehren. Ein Artischockenherz wartet halt nicht gern lange auf seine Verehrer.

100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
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