Austern

Wieder so ein exklusiver Meeresbewohner, der so manchem Binnenland fernsteht und Kopfzerbrechen macht – und ihn dadurch um einen großen Genuss bringt! Mir ging es zumindest lange so. Außer, dass man in einer Auster vielleicht eine Perle finden könnte, dass man sie nur in Monaten mit einem »r« essen dürfe und todkrank von ihnen werden kann, wusste ich nicht viel von ihnen. Und natürlich blies man mir das klassenkämpferische Argument in den Kopf, dass so etwas nur extrem reiche, dekadente Leute essen würden. So viel Geraune und Gewese um einen angeblichen Leckerbissen macht natürlich neugierig. Und irgendwann war es so weit – ich musste aus beruflichen Gründen an einem Austernessen teilnehmen. Wie immer, wenn ich etwas nicht kannte: Ich ahmte das Verhalten der anderen nach, war aber von den Pumpernickel-Butter-Dominos, die dazu gereicht wurden, mehr angetan, als von der sehr gewöhnungsbedürftigen Konsistenz der Schalenbewohner, die mir sogar einen leisen Ekel abnötigte. Mein Negativurteil stand also fest. Bis mir ein wohlwollender, weltmännischer Freund klarmachte, dass ich nur einem spießigen Vorurteil aufgesessen war. Er lehrte mich, wie man Austern genießt: Mit geschlossenen Augen dem Meeresgeschmack nachspüren, das Tier sich im Mund ausbreiten lassen und dann – zubeißen. Seitdem weiß ich, dass Austern eine delikate Ausnahme-Köstlichkeit sind. Wenn mich auch nach wie vor kurz irritiert, dass die Tierchen noch leben, während sie uns solchen Genuss bereiten. Küstenbewohner machen sich solche Gedanken wohl eher nicht, nehme ich an.

Dort am Meer schmecken sie auch am besten, ob auf Sylt, im bretonischen Cancale oder im irischen Galway. Die ursprüngliche europäische Auster ist übrigens flach und kreisrund. Fachleute kennen sie unter dem Namen Ostrea edulis. Ihre Bestände wurden durch den Bonamia Ostreae-Parasiten dezimiert. Zudem sind die »flachen Austern« ebenso empfindlich wie delikat und deshalb weniger transportgeeignet.

Zu Anfang des 20. Jahrhunderts wurden deshalb verstärkt portugiesische Austern der Sorte Crassostrea angulata gezüchtet. Ein Virus rottete die Angulata zwischen 1970 und 1972 in vielen Anbaugebieten fast ganz aus. Die japanische Sorte Crassostrea Gigas ersetzte sie in den Austernparks. Damals brach die Austernwirtschaft zusammen.

Die meisten europäischen Austern stammen also von der Gigas ab – doch auch vermeintlich identische Austern schmecken sehr unterschiedlich, je nachdem, in welcher Region und welchem Wasser sie gezüchtet wurden.

Fragiler, rarer und teurer sind die flachen, fast runden Austern, wie man sie oft in der Bretagne findet. Eben die ursprüngliche europäische Auster. Mir schmeckt sie am besten. Sie haben zuweilen – je nach Züchter – einen frisch-nussigen Beigeschmack und außerdem einen längeren »Abgang« als ihre rauschaligen, langen Vettern. Teuer sind sie schon deshalb, weil sie etwa fünf Mal langsamer als die Gigas wachsen. Nur ganz selten findet man Austern, die in der freien Natur außerhalb der Austernparks lebten. Sie können zu erstaunlichen Größen heranwachsen. Nicht umsonst nennen bretonische Austernfischer diese »großen Wilden« auch »Pferdefuß«. Ein solches Exemplar kann nur noch mit einem Steakmesser zerlegt werden. Ohnehin ist der Fang solcher Mega-Austern eigentlich verboten.

Wer Austern für zu Hause kauft, der muss sie mühsam öffnen, auch wenn es inzwischen einen patentierten Schlingenverschluss gibt. Professionelle Austernöffner haben da buchstäblich den Dreh heraus, wie sie den schließenden Muskel mit dem stumpfen Austernmesser durchtrennen. Laien sollten besser ganz solide Handschuhe beim Öffnen tragen: Austernschalen sind scharf. Und: Austern »gähnen«, können sich also unversehens von sich aus öffnen. In solchen Momenten kann das Messer abrutschen, und es besteht akute Verletzungsgefahr.

Direkt nach dem Öffnen sollte man das innen angesammelte Wasser abgießen und die Schalentiere ein wenig ruhen lassen. Das während der Wartezeit wieder austretende Wasser schmeckt nämlich wesentlich besser als sein »Vorgänger«.

Vorsicht bei nicht fest verschlossenen Austern, bei gelb verfärbten Schalen oder bei grüngelb verfärbtem Fleisch. Auch Austern, die spielend leicht zu öffnen sind, sind im Abfalleimer am besten aufgehoben. Wahrscheinlich sind sie während des Transports abgestorben.

Ganz, ganz frische Austern halten ohne Weiteres ein paar Tage im Salatfach des Kühlschranks, bei 4–5° aufbewahrt – sofern sie gut verschnürt sind, um sie vom »Gähnen«, also dem Öffnen der Schalen, abzuhalten. Nur auf einem Bett aus gestoßenem Eis sind sie nicht gut aufgehoben, auch wenn zahllose Brasserien ihre Meeresfrüchteplatten derart anrichten. Geeiste Austern leiden nämlich im Geschmack, ebenso wie zu stark erhitzte: Wer seine Austern nicht roh, sondern zubereitet genießen möchte, sollte deshalb darauf achten, sie nur warm und nicht etwa heiß werden zu lassen, sonst schmecken sie kautschukartig.

Auch wenn viele Restaurants in Meeresnähe Zitrone, Schalottenessig und Pfeffer zu ihren Austernplatten reichen, schmecken die Meerestiere roh und naturbelassen am besten. Dazu passt eine Prise Pfeffer, leicht gesalzene Butter und Roggenbrot.

Nun geistert beim Thema Austern ja auch noch immer die Regel von den Monaten mit »r« herum, in denen man sie verzehren soll. Was daran liegt, dass die Paarungszeit der delikaten Schalentiere in die »r«-losen Monate fällt und sie währenddessen manchmal etwas »milchiger« schmecken und magerer ausfallen. Diese Regel gilt als überholt, und das aus gutem Grund. Heute gelangen oft »triploide Austern« auf den Markt. Das sind vermehrungsunfähige Schalentiere mit drei Chromosomensätzen, die folglich auch nicht laichen. Großhändler werben damit, solche Austern schmecken »das ganze Jahr über perfekt«.

Das Schreckenswort von der »genetischen Manipulation« findet man bei Anbietern von Triploiden natürlich nicht. Es heißt, die Vermehrungsunfähigkeit entstehe durch »gezielte Förderung der Erhöhung der Chromosomensätze«.

Ohnehin steht die moderne Auster am Ende einer komplexen Wertschöpfungskette, die nicht nur den Züchter und den Händler leben lässt. Jungaustern, die »naissaince«, werden von Spezialisten, sogenannten Ecloseurs und Naisseurs, verkauft, wandern dann oft zu den demi-éleveurs, den »Halb-Züchtern«, bevor sie in die Bassins der endgültigen Zucht kommen. Die heißt »Affinage«, also »Verfeinerung«. Austern legen also im Laufe ihres Lebens beträchtliche Strecken zurück – in LKWs.

Dennoch ist es harte, körperliche Arbeit, Austern zu züchten. Die Schalentiere müssen zwei, drei Jahre wachsen, bis sie auf unseren Tellern landen. Derart lange Wartezeiten gibt es nur bei ganz wenigen Zuchttieren. Währenddessen müssen die Austernparks gepflegt werden – und die Züchter sind den Widrigkeiten der Natur ausgeliefert: Mehr als acht Milliarden Jungaustern hatten an Frankreichs Küsten 2008 ein schnelles Ende gefunden. Die französische Austernbranche, die größte in Europa und die viertgrößte der Welt nach China, Japan und Südkorea, stand plötzlich vor dem Ruin. Was das für Europas Austerngenießer heißt, zeigen die nackten Zahlen: Frankreich produziert etwa 130 000 Tonnen, Irland hingegen nur 6500. Im Januar 2011 machten sich die Schalentiere rar. Es kam zur Austernknappheit. Gegenwärtig wird der Import chinesischer Austern diskutiert. Im Reich der Mitte werden nämlich pro Jahr vier Millionen Tonnen geerntet.

Die Suche nach den Ursachen für Europas großes Austern-Ableben geht währenddessen eher langsam voran: Laut dem Ifremer-Institut (Institut français de recherche pour l’exploitation de la mer – Französisches Forschungsinstitut für Meeresnutzung) macht ein Virus der rauschaligen Auster, Typ Crassostrea Gigas, zu schaffen: OsHV-1 heißt es. Eine Art »Austern-Herpes«. Zusätzlich geschwächt werden die Austern durch ein Bakterium namens Vibrio splendidus. Für deren Gedeihen wiederum sorgte ein milder Winter und ein warmer, regenreicher Frühling. Durch die Wetterlage soll auch der Lebenszyklus der Auster gestört worden sein, heißt es bei Ifremer. Mangel an winterlicher Ruhe und starkes Wachstum im Frühjahr 2008 hätten zur rapiden Reifung der Schalentiere geführt. Und noch schließen die Experten nicht aus, dass weitere, bisher nicht identifizierte Faktoren wie Umweltgifte oder Toxine aus Algen und Bakterien eine Rolle bei der Verbreitung des Austernvirus gespielt haben. Nach der Edulis und der Angulata scheint jetzt auch die Austernsorte Gigas zumindest in Europa gefährdet.

100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
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