Kartoffel (Meerkartoffel)
Ohne Kartoffeln sähen die europäischen Speisekarten – egal, ob in privaten Haushalten oder in der Gastronomie – wahrlich traurig aus. Amerika musste entdeckt werden, allein schon um der Kartoffel willen, und gleich danach kommt die Tomate. Dieser »Erdapfel« hat die Welt verändert. Es würde sich lohnen, die Biografie der Kartoffel – oder noch besser: ihre Memoiren zu schreiben. Als Kind wurde mir erzählt, dass unsere Eltern noch per Hand gegen den Kartoffelkäferbefall vorgegangen sind und die Krabbeltiere von der Pflanze absammeln mussten. Und ich habe noch das »Kartoffelklauben« mit Hand erlebt. Den Geruch der Kartoffelfeuer nach der Ernte habe ich heute noch in der Nase – riecht fast so gut wie frisches Heu. Und gehört zum Herbst wie bunte Blätter und Drachensteigen.
Um gute Sorten habe ich mich erst spät gekümmert. Von Eckart Witzigmann kam der Tipp der köstlichen französischen Sorte Rattes und mein persönlicher Favorit ist das »Bamberger Hörnchen«. Gott gebe, dass sie beide nicht im Besitz eines Gen-Konzerns landen! Aber dass es Meerwasser-Salzkartoffeln gibt, habe ich noch nie gehört …. Klingt nach Gaumenfreude.
Im Pariser Auktionshaus Drouot hat der Maler Gauguin einst sein Atelier versteigert. Zumindest einmal, im Mai 1996, kam dort ein ganz anderer, unvermuteter und besonderer Artikel unter den Hammer: Kartoffeln, kiloweise. Bis zu 450 Euro wurden für ein Kilo geboten, was sicher auch damit zu tun hatte, dass der Erlös der Kartoffelversteigerung einer Organisation zukam, die Restaurants für Bedürftige betreibt. Die Wunderkartoffeln mit dem Rekordpreis heißen Bonnottes und stammen von der französischen Atlantikinsel Noirmoutiers. Es ist eine alte Sorte, die bereits 1879 urkundlich erwähnt wird. Neben rund 500 Bauern wurde sie auch von Seeleuten auf Landgang angebaut. »Marin-Patates«, ganz frei übersetzt »Kartoffelkapitäne« wurden sie ironisch genannt. Doch um 1965 verschwand die Bonnotte vom Markt. Der Grund: Sie war zu fragil für die maschinelle Ernte und musste von Hand gelesen werden. Gut dreißig Jahre lang wuchsen auf Noirmoutiers die Sorten Sirtema, Lady Christi und Charlotte, bevor die Bonnotte ihr Comeback feierte.
»Sie war nicht an den Markt angepasst. Die Genossenschaft von Noirmoutiers hat sie sogar verboten«, sagt Gérard Sémelin. Sémelin ist heute Direktor besagter Genossenschaft und lässt nichts unversucht, die Bonnotte wieder ins Gespräch zu bringen. Da gab es die erwähnte Versteigerung, den Überschallflug der Concorde, auf dem Bonnottes mit Kaviar gereicht wurden, oder die Bonnotte-Kochkurse in New York. Meerkartoffeln heißen die Bonnottes und die anderen Sorten von Noirmoutiers, weil sie in Meeresnähe wachsen und manche Bauern sie mit Seetang düngen. Etwa hundert Tonnen davon werden jährlich per Hand gelesen. Inzwischen führen nicht nur Auktionshäuser, sondern auch ganz normale französische Supermärkte die einst so kostspielige Knolle.
Nun gibt es Kartoffeln in zahlreiche Sorten für jeden denkbaren Zweck, von Fritten über Suppen bis zu Gratins und Salaten. Es sind wirklich ganz besondere Knollen, ein Kapitel in ihrer Biografie könnte man dem Pariser Spitzenkoch Joel Robuchon widmen, der ein äußerst buttriges Kartoffelpüree zu einem gefragten Gericht für Feinschmecker machte. Für dieses schlichte Kartoffelpüree mietete der Herdmeister bei einem Monsieur namens Jean-Pierre Clot in Villegagnon ein eigenes Kartoffelfeld, wo nach seinen Vorgaben u. a. die Sorten »La Ratte« und »Agria« angebaut wurden. Snobismus? Purismus! Und Perfektionismus. Nun stammt die Kartoffelsorte »Agria« aus der Werkstatt von Europas größtem Produzenten Agrico-Hollande. Der große Koch lobt an ihr, dass sie nicht mehlig ist und beim Frittieren nicht an Geschmack verliert. Das richtige Frittenrezept verriet er gleich dazu: Seine Kartoffelstäbchen blanchiert er drei Minuten in kochendem, ungesalzenem Wasser. Danach lässt er sie abkühlen und frittiert sie anschließend 10 Minuten in 160° heißem Erdnussöl. Anschließend heißt es Abtropfen und einen zweiten Fritiergang bei 180–190° einlegen. Jeffrey Steingarten, ein bekannter New Yorker Autor, empfiehlt in seinem Buch »The man who ate everything«, Kartoffeln in Rinder- oder Pferdefett zu frittieren, was rege und nicht unbedingt schmeichelhafte Reaktionen unter seinen Lesern auslöste. Allerdings muss man wissen, dass die USA zu den größten Exporteuren von Pferdefleisch gehören.
Ich selbst esse selten Fritten und greife lieber zum Bamberger Hörnchen, einer alten fränkischen Sorte, die genau wie die Bonnotte von Hand gelesen wird. Sie wirkt knollig-verwachsen und schmeckt würzig, mit ganz leichtem Nuss-Aroma. Hier und da kann man immer noch lesen, das Bamberger Hörnle heiße auf Französisch »La Ratte«, die beiden Sorten seien identisch. Letzteres ist grundfalsch: Das Bamberger Hörnchen hat eine weiße Blüte, eine rosa Schale und hellgelbes Fleisch, während La Ratte eine rosa-violette Blüte, gelbes Fleisch und eine gelbe Schale besitzt. Und noch einen wichtigen Unterschied gibt es: »La Ratte« ist ertragreicher als der deutsche Konkurrent. Es lohnt sich also, solche Kartöffelchen als Bamberger Hörnchen zu verkaufen.