Seezunge
Als »Binnenländerin« waren mir natürlich zunächst Forellen weitaus näher als die Luxusfische aus dem salzigen Wasser, das so große Wellen macht. Und die teilweise so fremden Gestalten haben – man muss nur an das wirklich gewöhnungsbedürftige Scarface des Knurrhahns denken – ein furchterregendes Äußeres. Aber in einen von ihnen hat sich meine Zunge auf Anhieb verliebt: in die Seezunge. Von der Schlankheit dieses Plattfisches kann selbst eine Forelle nur träumen – aber Gott sei Dank gibt es in der freien, wilden Natur keine Figurprobleme und -eifersüchteleien. Die schmale Seezunge ist aber nicht nur elegant, zumal wenn sie gebraten oder gedünstet vor einem auf dem Teller liegt, sie hat auch einen feinen, nussigen Eigengeschmack, mit dem sich kaum ein anderer Fisch messen kann. Vielleicht wurde sie am selben Schöpfungstag gemacht wie die Nussbäume? Beim Verzehr einer Seezunge werde ich jedenfalls ehrfürchtig und weiß wieder, was das Wort »Gottesgabe« bedeutet.
Die Seezunge war auch immer mein Lieblingsfisch. Und nicht nur meiner: Auguste Escoffier, der große klassische Koch, hat uns fast 200 Rezepte zu diesem köstlichen Tier überliefert. Und mein Gewährsmann Alexandre Dumas mindestens noch 15 weitere – von der schlichten, gegrillten Seezunge mit Pfeffer, Salz und Zitrone bis hin zur mit Austern gefüllten Seezunge; er nutzte eine Farce aus Fisch, Austernragout und Trüffeln. Wenn ich mich in diesem Buch recht oft auf den Autor der »Drei Musketiere« und des »Graf von Monte Christo« beziehe, dann deshalb, weil er ein ausgewiesener Feinschmecker war. Der fantasievolle Lebemann organisierte während der zwei Jahre, die er in einem Schlösschen in Le Port Marly bei Paris lebte, zahlreiche rauschende Feste. Zur Anlage gehörten ein englischer Garten und eine Menagerie – den Affen Beauvoir, Hauptattraktion des kleinen Zoos, hatte Dumas nach dem Liebhaber seiner Frau benannt – sowie ein »Château d’If« genannter gotischer Pavillon, der dem Dichter als persönlicher Elfenbeinturm diente.
Das »Große Wörterbuch der Küche« war sein letztes Werk, ein Rückblick auf ein Leben im Genuss: Im März 1870 gab er es beim Verleger Lemerre ab. Im Dezember desselben Jahres segnete er das Zeitliche, ohne je ein fertiges Exemplar des »Wörterbuchs« gesehen zu haben. Erst drei Jahre nach seinem Tod erscheint das Werk, stark überarbeitet. Seitdem kursieren verschiedene Versionen. Und in einer von ihnen sagt er, »die beste Seezunge ist leinengrau. Man findet sie in den Wassern um Dieppe; die Seezungen, die in Calais oder Roscoff gefischt werden, sind dieser stark unterlegen.«
Natürlich kommt es auch heute noch auf die Qualität des rohen Fisches an: Frische Seezungen sind glänzend und haben einen weißen Bauch. Ihre Haut ist von einer schleimigen Substanz überzogen. Altert der Fisch, fasst er sich trocken an, sieht grauer aus, am empfindlichen Bauch bilden sich schließlich braune Flecken. Am besten schmecken dicke, vollfleischige Seezungen, die im Winter nochmals an Wohlgeschmack zulegen. In den besten Restaurants von London lockt die Dover sole (Dover Seezunge). Die schwimmt nicht etwa vor Dover im Ärmelkanal, ihr Ruf beruht auf der Reputation des Fischumschlagplatzes. Hier kommt das Beste an Land, auch französische Großhändler schicken ihre Einkäufer nach Dover. Ähnliches gilt übrigens für die Seezunge aus Ostende.
Auf kleine Seezungen, »kürzer« als 28 cm, sollte man ruhig verzichten. Durch die Kaufverweigerung könnte man die Fischer »erziehen«, damit sie ihnen die Chance lassen, sich als größere Fische fortzupflanzen, um zur Bestandserhaltung beizutragen. Denn eine Seezunge braucht bis zur Geschlechtsreife drei bis fünf Jahre. Der WWF Deutschland sagt, dass man Seezunge aus dem östlichem Ärmelkanal und der Nordsee aus Stellnetzfang guten Gewissen genießen darf, ihre Artgenossen aus dem Mittelmeer und dem Schleppnetzfang im Nordost-Atlantik jedoch lieber meiden sollte.
Für mich sollte dieser Fisch so naturbelassen wie möglich zubereitet werden, vielleicht gegrillt oder »Müllerin Art«, also gehäutet, in Mehl gewendet und in Butter gebraten. Nun führte der ständige Wettlauf nach mehr Kreativität in der Küche leider auch dazu, dass dieses edle Tellertier in Wermut überbacken wurde (Sole Albert, ein Rezept aus der großen Zeit des Pariser Maxim’s) und bei Molekularköchen in Methylcellulose gewendet, das ist der Hauptbestandteil von Tapetenkleister, als »Seezungen-Tempura« angeboten wurde. Besonders Letzteres ist eine widerliche Untat, für die gewisse Herdmeister einen Generalboykott und weltweites Desinteresse verdient hätten.
Ebenso schlimm ist die Praxis mancher Großhändler, Seezunge eher als Gattungsbezeichnung zu sehen. Dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen der echten Solea solea und der aromenärmeren und auch billigeren Tropen-Seezunge Cynoglossus senegalensis. Oder es gibt »American sole« aus der Familie der Achiridae.
Restaurantbesucher sind auch noch anderen Neppversuchen ausgesetzt: Aufgrund ähnlicher Körperform werden ihnen zuweilen preiswerte Klieschen (Limanda limanda) als Seezunge vorgesetzt, natürlich als Filets. Sollten Sie tatsächlich nach der Geschichte um den Tapetenkleister immer noch dem Glauben anhängen, dass unsere Wirte und Feinkosthändler im Interesse der Gäste stets das Beste auswählen, müssten Ihnen diese Fakten zu denken geben.