Seeigel
Alles, was aus dem Meer kommt und nicht aussieht wie ein Fisch, hat mich lange Zeit leicht nervös gemacht, wenn es auf meinem Teller gelandet ist. Dem Seeigel bin ich zum ersten Mal in einem venezianischen Fischrestaurant begegnet, das auf einer der kleinen, dem Lido vorgelagerten Inseln lag und das man nur mit dem Privatboot erreichen konnte. Unser Gastgeber sprach mit rollenden Augen und vor Ehrfurcht flüsternder Stimme von den Köstlichkeiten, die uns dort erwarten würden. Was uns angeboten wurde, war tatsächlich das erstaunlichste Meeresgetier, das mir je vor Augen kam. Seespinne und Seeigel habe ich mir namentlich gemerkt, war aber zu feige, sie mir zu Gemüte zu führen. Die Männer stürzten sich mit Feuereifer darauf. Die Seeigel sahen aus wie die stachelige braune Hülle von Kastanien. Um an ihr Inneres heranzukommen, wurde mit einem Handschuh aus metallenen »Maschen«, ähnlich einem mittelalterlichen Kettenhemd, hantiert.
Was habe ich denn da bisher versäumt? Denn das wunderbare Restaurant mit der grün überdachten Terrasse im ersten Stock gibt es immer noch. Vielleicht sollte ich doch beim nächsten Venedig-Aufenthalt …?
Auf jeden Fall! Seeigel schmecken ein wenig wie besonders jodhaltiger Fisch, jedoch oft mit einem leichten Hauch Süße. Und ihre Konsistenz ist eine ganz andere: Der essbare Teil des Seeigels ist eher weich, man kann ihn am Gaumen zerdrücken. Bei meinen Lieblingswirten werden sie manchmal ganz leicht mit aufgeschlagenen Wachteleiern gegart.
Man kocht ihn oder gart ihn im Dampf, man verspeist ihn mit Zitronensaft, Schalotten und Salz oder kostet ihn als Ceviche, also roh und mariniert mit Öl und Limette. Außerdem können Seeigel einem Rührei ganz überraschende Jodnoten verleihen oder, einmal püriert, Saucen verblüffend aromatisieren.
Gegessen wird übrigens nur der sogenannte Corail, den wir im Deutschen mit dem unschönen Wort »Geschlechtsdrüsen« übersetzen. Mancher Feinschmecker, auch Alexandre Dumas im »Wörterbuch der Küche«, wunderte sich darüber: »An der Öffnung dieses Krustentiers findet sich ein kleines rotes Tier salzigen Aromas, seine Eier, von dunklem Gelb, sind mit der Außenhülle verbunden; ihr Geschmack gleicht mehr oder weniger dem von Flusskrebsen; diejenigen, die von diesem lebenden Püree nicht angewidert sind, Essen es wie ein Ei mit Brotstäbchen« (à la mouillette). Keine ganz appetitliche Schilderung. An besagte Drüsen oder, frei nach Dumas, »Eier«, kommt man nur, wenn man Mund und Verdauungsorgane – in Südeuropa tragen sie den schönen Namen »Laterne des Aristoteles« – entfernt. Schon wegen seiner Stacheln braucht jeder Hobbykoch dafür ein sehr dickes Tuch oder wirklich stabile Handschuhe. Mit einer kleinen, scharfen Schere schneidet man die Meeresfrucht in drei Viertel oder halber Höhe, ausgehend von der weichen Fläche ohne Stacheln, dem Mund. Letzterer wird, genau wie das gesamte Verdauungssystem, erst mal entsorgt. Den Corail kann man dann mit einem Teelöffel herausheben, das enthaltene Wasser wird aufgefangen und gefiltert. Und der Stachelpanzer eignet sich bestens, um den essbaren Teil der Seeigel darin den Gästen zu präsentieren.
Da liegt dann so ein stacheliger »Igel« von etwa acht Zentimeter Durchmesser, und man blickt auf die weiß-orangene Füllung.
Wer jetzt auf den Geschmack gekommen ist, sollte keinesfalls selbst ins Meer springen. Seeigel »fangen« will gelernt sein! Nicht jede Art ist essbar. Geerntet werden sie aber tatsächlich von Hand, mit Hilfe eines Messers, einer Pike oder eines Metallhakens.
Mit Schale ist so ein Seeigel in einem feuchten Tuch bis zu drei Tage haltbar, ausgenommene Exemplare sollten zügig verzehrt werden. Besser ist es jedoch, wenn man einen kundigen Fischhändler kennt, der sich allein um die »Laterne des Aristoteles« kümmert. Und am allerbesten ist es, Sie lernen den Igel im Restaurant kennen: Etwa im Grand Café de Turin, 5 place Garibaldi in Nizza. Dort wird er nämlich comme il faut serviert, gerade richtig, so wie es sich gehört, also: ohne Firlefanz. Der Seeigel bleibt roh, neben ihm liegt eine Zitrone.