Marille (Wachauer Qualitätsmarille)
Wer wissen will, wie es zu dem Wortbild »Blütenmeer« gekommen ist, der muss zur Marillenblüte nach Niederösterreich, genauer: an der Donau entlang in die Wachau fahren. Den Besucher erwartet ein unvergesslicher Anblick. Für den Rest seines Lebens wird er beim Öffnen eines Glases Aprikosenmarmelade diese Blütenpracht vor Augen haben. Selbst wenn es sich um ganz normale Aprikosenmarmelade handelt, die nicht das geschützte Siegel »Wachauer Qualitätsmarille« tragen darf, das Obstbauern zugesprochen wurde, die seit mindestens 100 Jahren dieses wohlschmeckende Obst anbauen und die Bäume kultivieren. Wer jemals eine solche erntereife Frucht aus der Wachau gegessen hat, wird danach fast alles, was uns normalerweise auf Märkten als Aprikosen angeboten wird, als fad, wässrig und aromaarm empfinden.
Der außerhalb Österreichs kaum bekannte Begriff »Marille«, der für Aprikose steht, gehört zu den etwa 40 Lebensmittelbegriffen, die sich die Österreicher beim EU-Eintritt haben schützen lassen, was nicht nur ein Sorten-, sondern auch ein Akt des Sprachschutzes war. So dürfen Kartoffel in Österreich auch offiziell als Erdäpfel, Tomaten als Paradeiser und Blumenkohl als Karfiol bezeichnet werden, um nur einige Beispiele zu nennen, zu denen eben auch die Marille gehört.
Wer noch nie Marillenknödel mit Zimtsemmelbrösel gegessen hat, dem fehlt eine wesentliche Geschmacks-, nein, ich gehe weiter und behaupte sogar, Lebenserfahrung. Eine Lücke, die selbst die Marmelade, der Likör und der Schnaps aus der Wachauer Produktion kaum ausgleichen können. Dabei ist die echte Sachertorte ohne Marillenmarmelade nicht denkbar und auch der nicht nur bei Kindern heiß geliebte Pfannkuchen, der in Österreich Palatschinken heißt – ob mit Marillenschnaps flambiert oder nicht –, ist mit jeder anderen Marmeladensorte nur die Hälfte wert.
Auch als Piefke finde ich das Festhalten an den österreichischen Namen ebenso sympathisch wie verständlich. Sprache ist Sprache und Vertrauen einflößende Heimat. Wer würde denn in Deutschland zum Beispiel im Gegenzug auf die Worte »Tomate« und »Aprikose« verzichten? Außerdem, das erwähne ich in diesem Buch gerne bei jeder passenden Gelegenheit, kommen aus Österreich ganz hervorragende Köche und Winzer. Überhaupt ist die ganze Feinschmeckerei dort keine so abgehobene Angelegenheit, sondern fällt in den Bereich Alltagskultur.
Kein Deutscher sollte Österreicher über Marillen belehren. Ich will deshalb auch gar nicht damit anfangen. Zitieren kann ich immerhin aus den Dokumenten des »Arbeitsausschusses zur Förderung des Marillenanbaus in den Gebieten Wachau-Krems-Mauern«. Die verraten uns nicht nur, dass Marillen 45 bis 60 Gramm schwer sind, fast alle der Sorte »Klosterneuburger« entstammen, über oranges und rötlichoranges Fruchtfleisch verfügen, einen Zuckergehalt von 9,4 Prozent und einen Fruchtsäuregehalt von 13 Prozent aufweisen. Sie sagen auch, dass die Früchte nicht mehlig werden (ein beachtlicher Unterschied zu vielen anderen Aprikosen!) und zum ersten Mal schriftlich in einem Brief vom 23. 7. 1509 als »Maryln« auftauchen. Das Schriftstück liegt im Starhembergischen Archiv in Eferding bei Linz. Die Marillen aus der Region Arnsdorf in der Wachau wurden am 15. 4. 1679 vom »Löß-Commissary« (Lesmeister) des Hochstiftes St. Peter in Salzburg erwähnt: »Nuß, Pfersich, Mariln, Mandeln«, so listete der Lesmeister die Bäume in den Weingärten des Peterstiftes auf.
Wer aus geografischen Gründen nicht die sorgfältig behandelten Wachauer Marillen kaufen kann, sondern in der Früchtekiste nach anonymen Aprikosen grabbeln muss, sollte Folgendes beachten: Zu grüne Ware ist fad, alles andere muss man abtasten: Gute Früchte fassen sich fleischig-seidig an und sind ein wenig weich. Schwammig oder schlaff dürfen sie nicht sein. Auch zu harte Aprikosen dürfen ruhig beim Händler bleiben: Nach dem Pflücken reifen sie nicht weiter. Die Früchte sind fragil, und jeder Stoß führt zu braunen Flecken. Doch selbst wenn die Aprikose perfekt ausschaut, kann sie innen faserig sein. Einige Fachleute vermuten, dass dies an der Intensivbewirtschaftung mancher Plantagen liegen könnte. Vor all dem ist man bei Ware aus der Wachau gefeit.