Kalbsbries
Diese feine Innerei habe ich noch nie gegessen, obwohl sie von allen Frauen unserer Familie hochgelobt und auf verschiedenste Weise zubereitet wurde. Gute Kalbsbries-Köchinnen hatten einen Ruf wie Donnerhall und verrieten ihre speziellen Rezepte auch nur innerhalb der Familie. Mir war Kalbsbries schon rein optisch immer etwas unheimlich – zu weiß und zu hirnähnlich. Kann es sein, dass sich an solche Innereien nur sehr ambitionierte Köchinnen und Köche heranwagen? Solche, die generell noch wissen, welche »Fleischregionen« ein Tier hat, wie sie heißen und wie sie verarbeitet werden? Diese Kenntnisse sind ja heute selten geworden. Und die Zubereitung von Kalbsbries ist wohl auch ziemlich zeitraubend und aufwendig, wie sich aus diversen Kochbüchern herauslesen lässt.
Dem Kalbsbries geht es wohl ähnlich wie der gekochten Lunge, in Österreich »Beuschel« genannt. Ein wunderbares Gericht, das nur deshalb noch nicht vergessen ist, weil gute Metzgereien es fertig gekocht und gebeizt anbieten, so dass nur mehr die letzte, individuelle Würzung und Bindung von der Hausfrau vorgenommen werden muss. Ein wunderbares, wohlschmeckendes Arme-Leute-Gericht aus k. u. k.-Zeiten. Das Kalbsbries war und ist im Gegensatz dazu wohl immer schon eher etwas Besonderes gewesen?
»In Kalb gebunden sein« – der alte französische Ausdruck sagt, dass jemand gerade Autor geworden ist, und war stets hochachtungsvoll gemeint.
Kalb gibt es in verschiedenen Altersstufen: Milchkalb etwa wird mit Muttermilch ernährt, wird bis zu drei Monate alt und verfügt über festes, feines Fleisch. Von Dezember bis März findet man es auf den Märkten. Gelangt das Kalb erst mal auf die Wiese, wird sein Fleisch etwas rötlicher. Der Geschmack ist ausgeprägter als beim Milchkalb, jedoch noch nicht so kräftig wie beim ausgewachsenen Rind.
Kalbfleisch sollte weiß bis rosa schimmern. Manchmal täuscht die Beleuchtung der Metzgertheke den begehrten Farbton nur vor: Selbst optisch einwandfreie Kälber können zu den anabolikagestärkten Mastviechern gehören, die beim Braten viel Wasser abgeben und kaum Geschmack aufweisen. Man ist also mehr oder minder gezwungen, seinem Metzger zu vertrauen und nach den oben genannten »Rinderkriterien« auszuwählen. Milchkalb aus der französischen Corrèze hat mir oft hervorragend geschmeckt. Ein gutes Kalbschnitzel ist zart und mager, sollte maximal zwei Zentimeter dick sein und vor dem Braten sorgfältig zart und platt geklopft werden. Rund zwei Tage kann man es, unberührt und im Papier vom Metzger, zu Hause im Eisschrank lagern. Etwa dreißig Minuten, bevor es in die Pfanne wandert, sollte man es freilich aus der Kälte holen. Wer über gutes Kalbfleisch verfügt, dem kann auch das legendäre Wiener Schnitzel gelingen. Klingt banal? Dann essen Sie mal das Original in Wien und versuchen, am heimischen Herd die Panade so hinzukriegen, dass sie das Schnitzel fast wie ein knuspriges Soufflé umgibt! Zuerst wird das dünne Schnitzel (4 mm reichen) im Schmetterlingsschnitt aufgefaltet, geklopft, gesalzen, in Mehl, verrührtem Ei und frisch geriebenen Semmelbröseln gewendet. Achtung: Brösel bitte nicht andrücken. Jetzt das Schnitzel in der Pfanne mit viel Schmalz bei 160–170° goldgelb backen. Nun kommt es auf den richtigen Handgriff an: Nur wer das Schnitzel mehrfach richtig schwenkt, vermeidet, dass die Panade förmlich am Fleisch klebt. Schließlich soll sie es locker umhüllen.
So kennen wir Kalb. Doch nicht jeder kennt Bries. Ob es schon immer etwas Besonderes war?
»Immer« ist ja bekanntlich eine lange Zeit: Urbain Dubois und Emile Bernard stellen in »La Cuisine classique« von 1856 gleich mehrere optisch anspruchsvolle Rezepte mit Kalbsbries vor. Beide waren typische Hofköche: Urbain Dubois lernte bei den Rothschilds und arbeitete bei Prinz Orlov in Russland, bevor er in die Dienste Kaiser Wilhelms I. von Preußen tritt. Dort traf er auf seinen Co-Autor Emile Bernard, ehemals Koch Napoleons III. »La Cuisine classique« ist seiner Hoheit von Preußen gewidmet. Kaiser Wilhelm war sich anscheinend nicht zu fein, Kalbsohren, wenn auch mit Trüffeln, oder Kalbskopf in Madeirasauce zu verspeisen. Kalbsbries, die Thymusdrüse des Kalbs, dient der Immunabwehr und bildet sich beim ausgewachsenen Tier zurück. Es ist von vergleichsweise weicher Konsistenz und verfügt über ganz zartes Kalbfleischaroma. Die Hofköche spickten es mit Speck und Trüffeln »à la Montpensier«, servierten es »à la napolitaine« mit Macaroni, Hühnerbrüsten und Pilzen oder tischten es »à la Périgueux«, getrüffelt mit Trüffelsauce auf.
Warum nur mögen die Menschen heute diese Leckerei nicht mehr? Genauso wenig wie Lammbries, Kalbszunge oder Kalbskopf, Letzterer war immerhin Lieblingsgericht des französischen Präsidenten Jacques Chirac. Vielleicht liegt es daran, dass die Zubereitung von Kalbsbries aufwendiger ist als die von Schnitzeln? Es wird gewässert, abgebrüht, gesäubert, von Haut, Blut und Knorpeln befreit und muss dann, beschwert durch ein Küchenbrett, erst einmal auskühlen. Dann geht es zum Braten, Backen, Grillen, Dünsten, Schmoren … Besonders der Kampf mit der feinen Membran wirkt auf Anfänger so, als müssten sie Hirn aus einem eng anliegenden Nylonstrumpf befreien. Es stimmt – für Kalbsbries braucht man ein wenig Zeit, es ist definitiv schwieriger zuzubereiten, als ein gebratenes Rinderfilet.
Nun muss ja nicht jeder am Herd ein Kalbsbriesprofi werden, aber auch im Restaurant bestellen nur noch wenige Menschen Innereien. Das ist schade, denn Köche, die Innereien servieren, trauen sich etwas zu und geben sich dabei oft besondere Mühe. Vielleicht liegt das Zögern auch an der Frage, »was das früher wohl war«? Es soll ja Menschen geben, die essen keine Nierchen, weil das Organ etwas mit tierischer Körperausscheidung zu tun hatte. Andererseits mögen viele auch weder Hirn noch Lunge. Vielleicht liegt die Abneigung an der ungewohnten Konsistenz mancher Innereien? Ungewohnt ist sie freilich nur, wenn man sein Leben lang nur Schnitzel und Filets verzehrt hat. Zumal die Leute allerlei Geleezeug der Süßwarenindustrie essen, wenn es nur hinreichend bunt schimmert – woraus das besteht, soll man lieber gar nicht wissen wollen … Ich vermute mal, die Innereien-Abstinenz kommt vom generellen Unwillen der Menschen, sich mit dem ganzen Tier zu konfrontieren, verbunden mit einer durch die visuelle Anmutung des rohen Stücks verursachten Abwehrhaltung. Unsere Zeit ist optisch orientiert, Fleisch, das Schönheitsidealen nicht entspricht, wird sofort ausgesondert. So ist es ein leichtes, dem Verbraucher, diesem alten »Augentier«, immer wieder optisch perfekte Waren mit minderwertigem Aroma anzudrehen. Denn Geschmack sieht man nicht. Dabei schmecken Innereien – richtig zubereitet – wirklich hervorragend. Wer einmal Kalbsbries auf allerhöchstem Niveau probieren möchte, dem empfehle ich einen Besuch im Pariser Lokal »L’Ambroisie«. Bernard Pacaud, der Herr am Herd, lässt das Bries (ris de veau) »à la financière« mit Morcheln in Morchelcreme und Macaroni servieren. Wer dann immer noch nicht zum Innereien-Essen bekehrt ist, dem kann nur die Zeitreise helfen: Der Schweizer Fredy Girardet servierte in den 1980er Jahren ein fantastisches, sekundengenau gegartes Kalbsbries mit Gewürznelken. Und legendär, wenn auch heute leider nicht mehr zu haben, war das »Kalbsbries Rumohr« des deutschen Jahrhundertkochs Eckart Witzigmann, mit Lauch, Trüffeln, Stopfleber und Champagnersauce. Wer das erste Bries mit Genuss verzehrt hat, der wird irgendwann auch zum Genuss von Leber, Zunge oder Kopf vorstoßen. Und irgendwann einmal vielleicht sogar den Löffel in Beuscherl und die Gabel in Hirn senken.