Walderdbeeren

In den Familiengärten meiner Kindheit wuchsen zwei Sorten Erdbeeren: Die großfruchtige »Ananas«-Erdbeere (warum die wohl so heißt?) und die viel kleinere Monatserdbeere. Die Pflanzen der Ananas-Sorte wurden sorgfältig mit Holzwolle umrahmt, damit die schweren Früchte beim Reifen nicht auf der Erde zu liegen kamen, dadurch Fressfreunde zur Mahlzeit einluden oder zu faulen anfingen. Diese »Unterfütterung« war von früh an meine Aufgabe. Ebenso die Überwachung des Reifungsvorgangs. Ich fühlte mich dabei wie ein Schiffsjunge im Ausguck.

Weder die »Ananas« noch die Monatserdbeere – die angeblich die Nachzucht der Walderdbeere ist – kamen jedoch an Duft und Geschmack der Walderdbeeren heran. Die wurden bei Wochenendausflügen erjagt. Allein die Erinnerung daran lässt den Duft von sonnenbeschienenen Waldböden und Lichtungen in meine Nase steigen, und ich meine, noch immer das Surren der Bienen und Insekten zu hören, ebenso wie das Knacken der Zweige, auf die wir traten. »Erdbeer brocken (pflücken)« war bei allen Familienmitgliedern ebenso beliebt, wie später im Herbst das Pilzesammeln. Das ging in einer stillen, genussvollen Konzentration vor sich und hatte fast etwas Feierliches an sich. Worte waren nicht nötig. Nur manchmal deutete jemand auf den blauen Himmel, wo ein lautloses Flugzeug einen Kondensstreifen gemalt hatte, oder es gab einen kurzen Schmerzenslaut, wenn sich jemand mit dem Fuß in einer Brombeerranke verfing.

Das Schälchen Walderdbeeren mit flüssiger Sahne schlug jedes andere Dessert. Was man heute auf den Märkten manchmal als »echte Walderdbeeren« angeboten bekommt, kann sich mit denen der Kindheit nicht messen. Ob es nur am Selberpflücken lag?

Ich denke nicht. Als Kind habe auch ich mit meiner Großmutter an jedem Wochenende Walderdbeeren gesucht und kann mich noch recht gut an den Geschmack erinnern. Vielleicht haben die Markterdbeeren ja unter dem Transport gelitten, vielleicht wurden sie zu früh gepflückt? Oder es handelt sich um Importware, der die lange Reise ebenfalls nicht gut getan hat. Auch für unsere Supermärkte werden z. B. »Walderdbeeren« aus Serbien geliefert – übrigens ein Land, das auch in der Himbeerproduktion weltweit führend ist. Die Waldfrüchte gibt es frisch, im 125 Gramm-Päckchen, tiefgefroren oder als Konfitüre mit ganzen Früchten. Ich habe diese Erdbeeren einmal reif vor Ort verkostet, und der Geschmack kam sehr nahe an meine Kindheitserinnerungen heran. Aber wie gesagt: Pflücken zum falschen Zeitpunkt, lange Transportwege und damit verbundene Temperaturschwankungen können den Geschmack beeinträchtigen.

Außerdem will ich mich nicht dafür verbürgen, dass jede kleine Erdbeere auch eine europäische Walderdbeere (Fragaria vesca) ist. Deutschland verfügt beispielsweise über eine schöne Gartenerdbeersorte namens »Mieze Schindler«, die in Aussehen und Geschmack der Fragaria vesca recht nahe kommt. Der erste Direktor der Höheren Staatslehranstalt für Gartenbau in Dresden, Otto Schindler, züchtete sie 1925 und benannte die Frucht nach seiner Frau. Überdauert hat die Mieze in den Datschen der Ex-DDR, sonst wäre sie wohl ausgestorben. Allerdings müssen die Miezen zum optimalen Zeitpunkt gepflückt werden – selbst dann »erweichen« sie in Rekordzeit. Deshalb sind sie für den Großhandel ungeeignet, und das ist vielleicht auch besser so. Bleibt die französische Mara des Bois, die auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz Einzug gehalten hat. Richtig gezüchtet ist das eine aromatische Erdbeere – aber bei weitem keine Walderdbeere.

Seit Dezember 2010 wissen wir, dass ein internationales Konsortium von 75 Forschergruppen aus elf Ländern das Genom der Walderdbeere vollständig entschlüsselt hat. Mit Äpfeln, Pfirsichen, Birnen, Himbeeren und der seit 250 Jahren kultivierten Erdbeere Fragaria ananassa soll sie verwandt sein. Es sei nun möglich, so hieß es in der Pressemeldung der TU München, »im kleinen Genom der Walderdbeere die Funktion bestimmter Gene aufzuklären, die für gute Eigenschaften verantwortlich sind, zum Beispiel für Geschmack, Geruch oder Krankheitsresistenz«. Bis der Walderdbeergeschmack den Gartenfrüchten eingebimst werden kann, ist es noch ein weiter Weg. So lange hilft nur eins: selber pflücken.

100 Dinge, die Sie einmal im Leben gegessen haben sollten
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