Abalone (Seeohr)
Das Seeohr? Eine Muschel, die eine Schnecke ist? Das habe ich noch nie gegessen und – ich schäme mich fast dafür – auch noch nie gehört. Abalone klingt irgendwie nach einem italienischen Badeort. Falls das je auf einer Speisekarte stand, die ich vor Augen hatte, habe ich das wahrscheinlich für eine regionale Spezialität gehalten und war von mir bekannten Köstlichkeiten so abgelenkt, dass ich vergaß, danach zu fragen. Bei meinem nächsten Aufenthalt in Küstennähe werde ich versuchen, diese Wissenslücke in Sachen Genuss zu schließen. Ich gehe davon aus, dass auch dieser Meeresbewohner sauberes Wasser zum Überleben braucht – vom Geschmack gar nicht zu reden. Da ist es also wohl ratsam, dieses »Abalone-Date« möglichst bald zu genießen, sonst wird es irgendwann keine Gelegenheit mehr dafür geben?
Im China-Restaurant habe ich mich früher immer gefragt, was denn wohl die Abalone ist. Sie war jedenfalls immer das teuerste Gericht auf der Karte. Und saßen an den Nebentischen tatsächlich mal Asiaten, dann fielen sie genüsslich über Abalone her. Manchmal habe ich versucht, auf den Teller meiner Tischnachbarn zu schielen. Appetitlich sah das nicht immer aus … Selbst gegessen habe ich es zum ersten Mal in der Bretagne, in Trebeurden. Es schmeckte wie Meer an einem Sommertag und hatte gleichzeitig diese gewisse Festigkeit, wie sie gutem Fleisch zu eigen ist. Serviert wurde die Abalone in ihrer Schale, deren Innenseite perlmuttfarben schimmert. Ich glaubte, sie schon einmal in einem Souvenirladen als Schmuckstück gesehen zu haben. Kurz: Ich mochte das Seeohr und bestellte es am Tag darauf noch einmal.
»Ormeau« heißt das Seeohr auf den französischen Speisekarten. Erst später lernte ich, dass dies die Abalone aus den China-Restaurants ist. Inzwischen gibt es sogar Betriebe in der Bretagne, in der Normandie und in Spanien, die erfolgreich Abalone züchten.
Nun werden die Abalones in den meisten Restaurants als Muscheln verkauft. In Wahrheit jedoch sind das aber Schnecken der Gattung Haliotis. Und tatsächlich betrachten beispielsweise die Japaner die Haliotis – unabhängig von deren zoologischer Einordnung – als Muscheltier. Im Naturzustand klebt sie am Küstenfels fest. Gefischt wird die Abalone zu Fuß in Küstennähe oder auf kleinen Tauchgängen bis 20 Meter Tiefe. Das Seeohr ist ein großer Muskel, entsprechend fest ist dessen Fleisch. In Japan wird es deshalb vertikal in feine Streifen geschnitten, in Europa hingegen vor der Zubereitung wie ein Steak geklopft. »Du musst zuhauen, als wäre es deine Schwiegermutter«, hatte mir der bretonische Koch gesagt. Ich beschloss, diese Anregung zu häuslicher Gewalt zu überhören. Jahre später erklärte mir ein Herdmeister aus Japan, dass Klopfen die Abalone zwar zarter mache, diese Zubereitungsart jedoch die Muskelfasern zerstöre.
Koji Aida, selbst Japaner, der in Paris ein hübsches, kleines, aber leider auch kostspieliges Restaurant betreibt, hat mir das alles im Detail erklärt: Jedes gute Abalone-Rezept beginnt natürlich mit dem richtigen Einkauf. Wir brauchen eine gesunde Abalone, eine Muschel, Verzeihung: Schnecke, die sich wenn möglich noch bewegt: Testweise einfach ein wenig Salz daraufstreuen, dann zieht sie sich zusammen. Eine gute Abalone ist dick und schwer. Die blaugrünen Exemplare schmecken laut Aida besser als Sashimi, also roh und hauchdünn geschnitten, die roten sind gegrillt schmackhafter. Leider kann der Koch in Europa die Seeohren nur kistenweise erwerben und nicht, wie in Japan, Stück für Stück auswählen. Außerdem sind sie hier kleiner und teuerer: Gut 1,50 Euro kostet eine Winzportion den Wirt schon im Einkauf – Tendenz steigend. Koji Aida entscheidet sich bei Ansicht der Ware spontan, wie er die Abalone zubereiten wird. Im Grunde wählt er zwischen drei Methoden: Roh als Sashimi, gegrillt oder gedämpft. Für das Sashimi ruht die Abalone auf Holzkohle und wird mit Zeitungspapier abgedeckt. So bleibt sie länger frisch und behält ihren Meeresgeschmack. Anschließend wird sie einfach vor den Kunden in feine Streifen zerteilt. Beim Grillen gibt es schon mehrere Rezepte: Zuerst sollten Seeohren wie für Sashimi aufbewahrt werden. Am frühen Morgen werden sie ausgelöst, der Nerv entfernt. Anschließend reibt man sie mit Salz ein, wäscht dann das Salz wieder ab und reinigt die Muschel gründlich. Nach einer kurzen Wartezeit wird sie gegrillt. Jetzt schmeckt die Abalone nicht mehr nach Meer, hat aber einen kräftigeren Eigengeschmack.
Schließlich die Dampfgarung: Dafür wird die Muschel gewaschen, mit Salz abgerieben und nochmals gewaschen. Anschließend wird die Abalone eingelegt, in eine Mischung aus Sake und Kombu-Algen. Dazu nutzt Koji Aida Junmai-Shu, eine Sake-Variante aus purem Reis, bei der keinesfalls Alkohol zugesetzt werden darf. Durch die Abreibung mit Salz hat die Muschel viel Feuchtigkeit verloren. Sie saugt sich dadurch regelrecht mit dem Sake voll, der sogar bis in die Leber der Schnecke einzieht. »Das ist eine Art Seeohren-Foie gras«, sagt Aida. Anschließend gart er sie sechs Stunden im Dampf. Oft legt er den japanischen Rettich Daikon dazu, das macht die Abalone zarter. Und fast immer wandelt er das Rezept im letzten Moment ab, mit Wein, Sake oder Tee. Für ihn gibt es nämlich keine beste Küche, sondern nur eine Küche, die am besten zum jeweiligen Kunden passt.